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Der gespaltene Wölfle

Der gespaltene Wölfle
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Eine Gedenktafel soll an die ermordeten Kinder im "Dritten Reich" erinnern. Ort des Grauens: das ehemalige Kinderkrankenhaus der Stadt Stuttgart. Der grüne Bürgermeister Werner Wölfle lehnt ab. Dabei hat er selbst vor zwei Jahren eine Ausstellung zum Thema im Rathaus eröffnet.

Vor dem Gebäude in der Türlenstraße 22 liegt <link http: www.stolpersteine-stuttgart.de _blank external-link>ein Stolperstein. In dem 100 Jahre alten Gebäude, heute Behandlungszentrum Mitte der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten, befand sich seinerzeit das Städtische Kinderkrankenhaus. Dessen Gründer und Leiter Karl Lempp war von 1928 bis 1949 auch stellvertretender Leiter des Gesundheitsamts der Stadt Stuttgart sowie vom 1. Mai 1933 bis 1945 NSDAP-Mitglied. Wie der Arzt und Euthanasie-Experte Karl-Horst Marquart im Buch über die "Stuttgarter NS-Täter" darlegt, wurde er danach mehrfach entlassen und wieder eingestellt, aber nie angeklagt. Die Spruchkammer stufte ihn 1947 als Mitläufer ein. Noch 1954 erhielt er einen Professorentitel.

Der Stolperstein erinnert an Gerda Metzger, die 1943 im Alter von drei Jahren in der Kinderklinik ums Leben kam. Angeblich ist sie an Diphterie gestorben, wie Marquart dem Leichenregister entnahm Hermann G. Abmayr hat <link http: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen stuttgarter-kindsmord-376.html _blank external-link>in Kontext darüber berichtet. Ihre Mutter Berta hat 2009, am Ende ihres Lebens, ihrem Masseur Matthias-Herbert Enneper die Geschichte erzählt. Sie lebte in Flacht, heute Weissach bei Leonberg. Eines Tages fuhr ein Arzt vor, der das behinderte Kind "untersuchte" und mitnahm. Die völlig verzweifelte Mutter machte sich zu Fuß auf den 35 Kilometer langen Weg nach Stuttgart, fand schließlich die Klinik, in die ihre Tochter gebracht worden war. Als man die Mutter schließlich herein ließ, war ihre Tochter bereits nicht mehr ansprechbar. Am nächsten Tag war sie tot.

Die Nazis tarnten den Ort des Mordens als "Kinderfachabteilung"

Diphterie hat eine Inkubationszeit von etwa zwei bis fünf Tagen und führt auch dann nicht unmittelbar zum Tod. Wenn sich das Mädchen im städtischen Kinderkrankenhaus angesteckt hätte, wäre sie niemals bereits am nächsten Tag gestorben. Die Nazis tarnten die systematische Vernichtung "lebensunwerten Lebens" hinter beschönigenden Begriffen und falschen Angaben. "Kinderfachabteilung" <link http: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen vertuschter-kindsmord-432.html _blank external-link>(Kontext berichtete) hießen die Einrichtungen, die behinderte Kinder ermordeten: häufig mit leichten Überdosen von Luminal so der Markenname des Betäubungsmittels, das den Tod durch Lungenentzündung nach sich zog. In den Sterberegistern steht dann unverdächtig: "Pneumonie". 

Marquart hat sämtliche 506 im Stadtarchiv erhaltenen Totenscheine und Einträge zu Kindern, die von Anfang Januar 1943 bis Ende April 1945 im Städtischen Kinderkrankenhaus starben, ausgewertet. Er fand 52 Fälle von Kindern mit "schweren angeborenen Leiden" und gelangt zu dem Ergebnis:

"Aus den ärztlichen Angaben bei diesen Kindern lassen sich keine medizinisch plausiblen Kausalzusammenhänge für einen natürlichen Tod herleiten. Aufgrund festgestellter gefälschter Einträge in den Sterbedokumenten muss davon ausgegangen werden, dass es sich um 'Euthanasie'-Todesfälle handelt. Gefälscht wurden Krankheitsdiagnosen, Todesursachen und ärztliche Unterschriften.

Unter den genannten 52 Todesfällen sind sechs Kinder mit der dubiosen Krankheitsdiagnose 'Idiotie'. Zwei dieser angeblich idiotischen Kinder waren bei ihrem Tod erst zwei Jahre alt. Da in diesem Alter eine solche Diagnose nicht gestellt werden kann, muss eine Fälschung vorliegen. Vier der sechs Kinder starben laut den ärztlichen Angaben an Pneumonie (Lungenentzündung). Diese Todesursache wurde bei einem Drittel der 52 Kinder angegeben. Hierbei kann es sich nicht um eine zufällig gehäuft auftretende natürliche Todesursache handeln. Der Tod infolge einer Lungenentzündung weist vielmehr auf die Tötung der Kinder mit Luminal hin: Überdosierte Luminalgabe verursacht einen Dämmerschlaf mit nachfolgender Lungenentzündung. Deshalb wurde als häufigste, scheinbar natürliche Todesursache bei in 'Kinderfachabteilungen' getöteten Kindern 'Pneumonie' in den Sterbedokumenten eingetragen."

Bürgermeister Wölfle hört auch gegenteilige Stimmen

Nun hat der Arbeitskreis Euthanasie der Stolperstein-Initiative, dem Marquart angehört, zusammen mit dem Stuttgarter Bürgerprojekt "Die Anstifter" den Antrag gestellt, an der ehemaligen Kinderklinik eine Gedenktafel für die Euthanasieopfer anzubringen. Doch der zuständige Bürgermeister Werner Wölfle lehnt ab. Im Bescheid des Haupt- und Personalamts vom 20. Oktober 2015 heißt es:

"Es gibt starke Indizien, die für die Existenz einer Stuttgarter 'Kinderfachabteilung' und ihre Funktion als Mordstätte für schwerbehinderte Kinder sprechen. Allerdings bleiben aufgrund der fehlenden Unterlagen Fragen offen, insbesondere zur Methode der Tötungen. Forscher gehen überwiegend von Euthanasie-Maßnahmen in Stuttgart aus, allerdings gibt es auch gegenteilige Stimmen, die keine ausreichenden Beweise hierfür sehen."

Gegenteilige Stimmen gibt es eigentlich nur eine: die des früheren Backnanger Gymnasiallehrers Rolf Königstein. Er beruft sich auf die Verfahren der Nachkriegszeit gegen Krankenhausleiter Lempp und seine Mitarbeiterin Magdalene Schütte, die keine Beweise erbracht hätten. Wegen einer beschönigenden Darstellung zur ersten "Kinderfachabteilung" in Brandenburg-Görde bezichtigte ihn der 2013 verstorbene Journalist Ernst Klee, der wie kein anderer zur Aufarbeitung der Euthanasiemorde beigetragen hat, gar der Lüge.

Wölfle bezieht sich auf eine beim Leiter des Stadtarchivs Roland Müller von ihm angeforderte Stellungnahme, die Kontext vorliegt. Darin setzt sich Müller auf drei dicht beschriebenen Seiten mit der Forschungslage auseinander und gelangt zu dem Ergebnis:

"Sowohl die Erkenntnisse aus den spärlich überlieferten Akten zur Organisation des 'Reichausschusses' zur Existenz einer 'Kinderfachabteilung' bei den Städtischen Kinderheimen in Stuttgart, wie auch die Analyse der Unterlagen zu den Einzelfällen, liefern starke Indizien für die Existenz einer solchen 'Abteilung' und ihre Funktionsweise als Mordstätte für schwerbehinderte Kinder."

Er weist allerdings darauf hin, dass die meisten Forscher die Ergebnisse von Ernst Klee übernommen hätten, denen auch er selbst in seiner Dissertation über "Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus" gefolgt sei "und bis heute mit gebotener Vorsicht folgt" und verweist auf offene Fragen. Der Stadtarchivar schließt: "Nach grundsätzlicher Klärung ist der Text einer Gedenktafel rasch formuliert; ein erster Entwurf liegt vor." Das klingt nun freilich nicht ablehnend.

Bürgermeister Wölfle seinerseits betont auf Nachfrage: "Die Aufklärung und das Gedenken zu den Verbrechen der (Kinder-)Euthanasie ist der Stadt Stuttgart und auch mir persönlich ein wichtiges Anliegen." In der Tat hatte der Bürgermeister selbst im November 2013 im Stuttgarter Rathaus die Ausstellung "Im Gedenken der Kinder" der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin eröffnet. Zu den Veranstaltern gehörte auch der Arbeitskreis Euthanasie der Stolperstein-Initiative. Warum dann jetzt die Ablehnung?

Wöfle verweist auf Müllers Stellungnahme. Nun kann man die Formulierung "starke Indizien" mit Betonung auf "starke" lesen und folgern, dass es angesichts der allgemein dürftigen Quellenlage die Akten der Kinderklinik aus der NS-Zeit wurden zwanzig Jahre nach dem Krieg vernichtet ausreichend starke Indizien gäbe, die für die Existenz einer "Kinderfachabteilung" sprechen. Oder man kann, wie offenbar Wölfle, daraus schließen, dass dies eben nur Indizien und keine einwandfreien Beweise seien.

Ein neues Buch bringt weitere Beweise

In seinem neuen Buch "'Behandlung empfohlen'. NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart" zitiert Marquart allerdings aus zwei Briefen Hans Hefelmanns, des Geschäftsführers des "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", an die Leiter der Arbeitsämter Neustadt und Hausach im Schwarzwald. Beiden Male ist eine "Kinderfachabteilung bei dem städt. Kinderkrankenhaus und Kinderheim Stuttgart N, Birkenwaldstr. 10" genannt, das entspricht der heutigen Adresse Türlenstraße 22. Kann es eindeutigere Beweise geben?

Im Anschreiben an Wölfle hatte Müller sicherheitshalber daran erinnert, dass Volker Lempp, ein Enkel des NS-Arztes, und der inzwischen verstorbene renommierte Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp seinerzeit angedroht hatten, gegen die Veröffentlichung des Buchs "Stuttgarter NS-Täter" gerichtlich vorzugehen. Allerdings hatten sie dann doch von einem Verfahren abgesehen.

Müller seinerseits will sich nicht den schwarzen Peter zuschieben lassen. "Mir ist es wichtig, in den Anschreiben stets darauf hinzuweisen, dass alle Entscheidungen über Gedenktafeln, Mahnmale, Straßenbenennungen politische Entscheidungen sind. Im Übrigen können wir in aller Regel bei den einschlägigen Stellungnahmen keine eigenen Forschungen betreiben, sondern den jeweiligen Forschungsstand kritisch analysieren und eben für die politische Entscheidung aufbereiten."

Ein Missverständnis, ein Sturm im Wasserglas? Wölfles Antwort ist jedenfalls deutlich eloquenter als sein ablehnender Bescheid. Er will gern "gemeinsam mit dem AK Euthanasie der Stuttgarter Stolpersteininitiativen und dem Klinikum Stuttgart überlegen, wie und wo in geeigneter Weise an die entsetzlichen Verbrechen der damaligen Zeit, die im Irrglauben der sozialdarwinistisch geprägten nationalsozialistischen Rassenideologie begangen wurden, würdig erinnert werden kann" und nur "aus Fürsorgegründen" das "seelische Gleichgewicht" der heutigen Patienten des Hauses mit bedacht wissen.

Wölfle schließt: "Ich bin allerdings gern bereit, weiter an diesem Thema zu arbeiten und schlage, auch nach Rücksprache mit Herrn Dr. Müller, vor, dass sich erneut Fachleute, allen voran Dr. Marquart, gemeinsam mit Dr. Müller abschließend mit der Thematik und der konkreten Situation am damaligen Kinderkrankenhaus Stuttgart befassen. Das Ergebnis wird dann Grundlage einer politischen Entscheidung sein."


Info:

Literatur: Karl-Horst Marquart: "Karl Lempp. Verantwortlich für Zwangssterilisierungen und 'Kindereuthanasie'", in: Stuttgarter NS-Täter - Vom Mitläufer bis zum Massenmörder", Stuttgart 2009, S. 101-106. Siehe auch <link http: www.stuttgarter-ns-taeter.de>www.Stuttgarter-NS-Taeter.de.

Karl-Horst Marquart: "Behandlung empfohlen". NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart, Stuttgart 2015.


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7 Kommentare verfügbar

  • Klaus_2
    am 05.12.2015
    Antworten
    Auch das ist Volkes Stimme.

    Man kann ja ganz gelöst darüber hinweglesen, wenn man nicht selbst an etwas kleben bleiben würde.

    Das sind dann die auslösenden Momente für einen Kommentar, der halt subjektiv ist und nicht frei von Urteilen und oder Emotionen sein muss.

    "Scharfrichtergetue",…
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