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Justizschande

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Von dieser Schande kann sich die Justiz in Baden-Württemberg nicht mehr befreien: Das SS-Massaker von Sant'Anna di Stazzema bleibt endgültig ungesühnt. Denn jetzt ist auch für den letzten Beschuldigten die Frist für ein Klageerzwingungsverfahren abgelaufen. Er ist "dauerhaft verhandlungsunfähig".

"Ich habe den Verdacht, dass diese deutschen Staatsanwälte ganz bewusst alles unternommen haben, damit dieser Prozess sich von selbst auflöst, dass sie gehofft haben, die Verantwortlichen würden sterben oder ganz unzurechnungsfähig werden, um ein Gerichtsverfahren zu vermeiden." So sagt es Enio Mancini, ein heute 77-jähriger Überlebender des Massakers, in der italienische Zeitung "Il Fatto Quotidiano". Auch Kritiker in Deutschland wie Eberhard Frasch von der Sant'Anna-Gruppe des Bürgerprojekts Die Anstifter unterstellen der Stuttgarter Justiz "mangelnden Strafverfolgungswillen".

Auch in Italien war das Verfahren erst sehr spät in Gang gekommen. Doch dann wurde intensiv und rasch gearbeitet. Im italienischen La Spezia sind die zehn Sant'Anna-Angeklagten 2005 in Abwesenheit wegen hundertfachen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden; sie hätten sich an einem gezielten Massaker an der Zivilbevölkerung beteiligt, sagten die Richter. Die Auslieferung nach Italien konnten die Betroffenen ablehnen, die Vollstreckung des Urteils in Deutschland nicht. Sie kam aber nie zustande, weil in Deutschland über die Gesuche nie entschieden wurde. Ob dies an den deutschen oder italienischen Behörden lag oder an beiden, ist bis heute nicht klar. Stattdessen verwies man in Deutschland immer wieder auf die eigenen Ermittlungen in Stuttgart.

Oktober 2012: Die Hamburger Strafrechtlerin Gabriele Heinecke hat damals kaum noch Hoffnung, dass das Morden der SS am 12. August 1944 in dem toskanischen Bergdorf Sant'Anna noch vor einem deutschen Gericht verhandelt wird. Der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler (mittlerweile im Ruhestand) hatte das Verfahren nach zehn Jahren eingestellt. Und für die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte Oberstaatsanwalt Peter Rörig schließlich die Einstellung, da sich die Mordtaten nicht einzelnen Personen zuordnen ließen.

Ohrfeige für Oberstaatsanwalt Häußler

Doch dann kann Heinecke, die den Überlebenden Enrico Pieri vertritt, in einem Klageerzwingungsverfahren ganz überraschend die Wende durchsetzen. Der dritte Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat unter dem Vorsitzenden Richter Matthias Schwab<link file:21599> erklärt, man könne "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" davon ausgehen, dass Otto Sommer "zur Tatzeit Führer einer SS-Panzergrenadierkompanie war" und verdächtig sei, "in strafrechtlich verantwortlicher Weise an der Ermordung mehrerer Hundert Zivilisten, vornehmlich Frauen und Kinder, beteiligt gewesen zu sein". Es bestünden keine vernünftigen Zweifel, dass die Befehle und die Einsatzplanung von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung gerichtet waren.

Gestützt hatten sich die Karlsruher Richter auf die Angaben von Zeugen sowie auf Gutachten des Kölner Historikers Carlo Gentile, der bereits die italienische Justiz beraten hatte. Sommer war der einzige noch lebende und verhandlungsfähige unter den Beschuldigten.

Was Sommer und die anderen SS-Leute nicht wussten: Unter ihren Opfern von Sant'Anna befand sich eine deutschstämmige Frau, Carmen Sylva Kurz, genannt Carla, Enkelin des Stuttgarter Arztes Alfred Kurz und Urenkelin des Reutlinger Schriftstellers Hermann Kurz. Carla, die mit ihrer Familie in Italien lebte, wollte an jenem 12. August 1944 bei den Großeltern ihres Mannes in Mulina di Stazzema Nahrungsmittel organisieren. Ihr Weg, so die Recherchen von Eberhard Frasch, führte die Mutter von drei Kindern über Sant'Anna di Stazzema. In dem Dorf ist sie zusammen mit mehren Hundert Menschen – exakte Zahlen können nicht ermittelt werden – Opfer des SS-Infernos geworden.

Dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit

Einer der Täter damals, so das Urteil von La Spezia, war Gerhard Sommer. Er ist inzwischen 94 Jahre alt und lebt in Hamburg. Deshalb musste das Verfahren nach dem Karlsruher Urteil an die Staatsanwaltschaft der Hansestadt abgegeben werden. Oberstaatsanwalt Mahnke hat zwar in seinem Einstellungsbescheid die Einschätzung der Richter aus La Spezia und Karlsruhe im Wesentlichen geteilt und Oberstaatsanwalt Häußler gravierende Fehler angelastet, er sah sich aber gezwungen, <link file:21600>das Verfahren gegen Sommer wegen "dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit" einzustellen.

Dagegen legte Rechtsanwältin Heinecke Beschwerde ein. Da sich ein Zeuge zurückzog und ein Gutachten die Verhandlungsunfähigkeit bestätigte, wurde die Beschwerde zurückgewiesen. Ein Klageerzwingungsantrag mache daher keinen Sinn, sagt Heinecke. Inzwischen ist auch die Frist dafür abgelaufen.

Kritiker machen jetzt noch einmal den Stuttgarter pensionierten Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, eine Hassfigur aller Stuttgart-21-Gegner, für den Justizskandal verantwortlich. Das stimmt, greift aber zu kurz. Häußler war als Leiter der politischen Abteilung zuständig, doch er hat sich mit anderen Hierarchieebenen abgestimmt; mit den jeweiligen Leitern der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, Dr. Johannes Häcker und Siegfried Mahler, den "kleinen Generälen", wie sie behördenintern genannt werden, und mit dem inzwischen ebenso pensionierten Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger, dem "großen General". Als Behördenleiter hätten die "Generäle" Anweisung erteilen können, beispielsweise die Ermittlungen zu beschleunigen oder einen anderen Staatsanwalt hinzuziehen. Auch die Justizminister Baden-Württembergs – Cornelia Werwigk-Hertneck, Ulrich Goll, beide FDP, und zuletzt Rainer Stickelberger, SPD – hätten sich einschalten können, denn im Gegensatz zu Richtern sind Staatsanwälte nicht unabhängig, sondern weisungsgebunden.

Warum haben die Behörden nicht früher ermittelt? Spätestens im Herbst 1999 hätten sie jedenfalls handeln können und müssen. Damals veröffentlichte Christiane Kohl in der "Süddeutschen Zeitung" – gestützt auf die Recherchen des Historikers Carlo Gentile – Namen von möglichen Tätern. Kohl berichtete über den ehemaligen SS-Unterscharführer Horst Eggert, den sie in Weil der Stadt, 30 Kilometer von Stuttgart entfernt, besucht hatte. Eggert diente 1944 bei der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS". Er gestand, beim Massaker in dem toskanischen Bergdorf dabei gewesen zu sein. Der Befehl zum "Bandeneinsatz" sei schon am Abend vorher ergangen. Der habe gelautet, man befinde sich im Partisanengebiet und jeder, den man treffe, sei zu erschießen, auch Frauen. Er selbst habe in Sant'Anna die Tür zu einem Stall geöffnet, in dem sich 20 bis 25 Zivilisten befunden hätten. Er habe Kameraden gerufen. Die hätten – "drrrr" – mit dem Maschinengewehr in den Stall hineingehalten und alle erschossen.

Staatsanwälte und Zentrale Stelle haben versagt

Doch statt rasch zu ermitteln, tat sich bei den Staatsanwälten über zwei Jahre lang nichts. Zuständig für Verfahren wegen Mordes im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen im Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart war bis Herbst 2000 Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, der dann als Leiter zur Zentralen Stelle nach Ludwigsburg wechselte und auch in dieser Funktion hätte ermitteln müssen. Doch erst Anfang 2002 vernahm die Zentrale Stelle den von der "Süddeutschen Zeitung" genannten Horst Eggert. Ende 2002 gab Schrimm dann das Verfahren an Bernhard Häußler, seinen Nachfolger in Stuttgart, ab.

Zum Thema SS-Massaker in Sant'Anna hat sich Kurt Schrimm öffentlich nicht geäußert. Nur einmal, im Sommer dieses Jahres, wurde er gefragt. Ausdrücklich rechtfertigte er in der Antwort die Einstellung des Verfahrens durch Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler: "Ich meine, dass der Kollege, den Sie jetzt meinen, dem Gesetz entsprechend gehandelt hat. In Italien gelten andere Gesetze und andere Voraussetzungen für ein Urteil. Der Kollege hat sehr sorgfältig ermittelt und kam am Ende zu dem Ergebnis, dass es nach deutschem Recht nicht ausreicht. Ich teile diese Auffassung." (Juli-Ausgabe der Stuttgarter Straßenzeitung "trott-war") Kurt Schrimm, der seit wenigen Tagen Pensionär ist, war viele Jahre CDU-Mitglied. Aus Protest gegen den Kurs von Kanzlerin Angela Merkel ist der bekennende Wertkonservative und langjährige Gemeinderat seines Wohnortes Bondorf nach Informationen der "Stuttgarter Zeitung" aus der Partei ausgetreten. 

Schon vor der Ära Schrimm hat die Zentralstelle in Ludwigsburg versagt. Dabei hätte es nach den Recherchen von Christiane Kohl Mitte der 1960er Jahre Anhaltspunkte für Ermittlungen gegeben, denn Italien hatte damals einige Akten über mögliche Kriegsverbrechen nach Deutschland geschickt, da eine Verjährung drohte.

Mitte der 1980er Jahre erhielt die Zentrale Stelle Kopien der Ermittlungsakten, die US-Amerikaner für die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) 1944 nach dem Abzug der Deutschen in der Nordtoskana erstellt hatten. Die Leute seien nicht bekannt, hieß es damals in Ludwigsburg. Tatsächlich waren Namen von Beschuldigten falsch geschrieben, da die Zeugen diese Namen nur vom Hören kannten. Der Historiker Carlo Gentile konnte sie später alle identifizieren. Doch die deutschen Behörden hatten weder ihn noch einen anderen Sachverständigen zu Rate gezogen.

Strafrechtlerin Heinecke: "Zum Nachdenken gebracht"

Ganz umsonst waren die vielen Recherchen und Aktivitäten in Sachen Sant'Anna di Stazzema dennoch nicht. "Mit seiner Öffentlichkeit hat der Fall Sant'Anna viele Menschen mit den nie verfolgten grausamen deutschen Verbrechen konfrontiert und sie zum Nachdenken und zum Engagement gebracht", schrieb Gabriele Heinecke dieser Tage den Überlebenden in Italien. Ohne die beharrliche Arbeit der Hamburger Strafrechtlerin wäre das Massaker in Sant'Anna di Stazzema wohl nie dermaßen ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gekommen. Und ohne sie hätte der Historiker Carlo Gentile den Fall vermutlich nie so genau untersuchen können. Auch hätten die Überlebenden Enio Mancini und Enrico Piere 2013 vermutlich nicht den Stuttgarter Friedenspreis bekommen. Ganz abgesehen vom Empfang bei Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in Stuttgart und von den Besuchen des baden-württembergischen Kultusministers Andreas Stoch (SPD) und des Bundespräsidenten Joachim Gauck in Sant'Anna. 

 

Hermann G. Abmayr hat seit Sommer 2012 über den "Fall Sant'Anna" berichtet. Für den im Peter-Grohmann-Verlag in Zusammenarbeit mit Kontext:Wochenzeitung erschienenen Sammelband "Politische Justiz in unserem Land" hat er den Beitrag "Die biologische Lösung" verfasst.


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5 Kommentare verfügbar

  • Ulrich R.
    am 12.10.2015
    Antworten
    Die Antwort gibt der gerade angelaufene Film "Der Staat gegen Fritz Bauer". Die gewollten Versäumnisse liegen länger zurück, haben aber auch Kontinuität in der deutschen Justiiz.
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