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Gefangene in der eigenen Stadt

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Heute fahren Kolonnen von Schweizern zum Einkaufen über die Grenze. Vor 100 Jahren hinderte sie Stacheldraht daran. Der Grund: der Erste Weltkrieg. Eine Ausstellung in Konstanz lenkt den Blick auf eine Zeit, in der es kein Miteinander am Bodensee mehr gab.

Alles war ganz harmonisch am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kreuzlinger kauften auf dem Konstanzer Wochenmarkt ein, auf dem auch Bauern aus dem benachbarten Thurgau ihre Waren anbieten konnten. Der Konstanzer Einzelhandel wiederum belieferte das gesamte Schweizer Umland mit Haushaltsgeräten und Textilien. Beiderseits entstanden bedeutende Industriestandorte, die Wirtschaft boomte, bis zu 4000 Menschen pendelten täglich über die Grenze, um ihrer Arbeit nachzugehen.

Auch der kulturelle Austausch war rege: SchweizerInnen schätzten den Spielplan des Konstanzer Stadttheaters, und Konstanzer Familien und Vereine besuchten am Wochenende die Thurgauer Landgasthöfe. KonstanzerInnen lebten in der Schweiz und SchweizerInnen bei den deutschen Nachbarn. Dieser "kleine Grenzverkehr" ließ den aus Wangen auf der Höri stammenden Schriftsteller Jacob Picard, der den Frühsommer 1914 auf der Schweizer Seite des Bodensees verbrachte, beinahe schwärmen: "Gab es denn Grenzen damals? Man sprach hüben und drüben das alemannische Deutsch, und niemand hinderte einen zu gehen, wohin man wollte, ohne Pässe und Scheine."

Doch nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau am 28. Juni 1914 in Sarajewo war es auch am Bodensee schnell vorbei mit der Idylle. Die Ostschweizer Tageszeitungen schlugen sich auf die Seite von Österreich-Ungarn und Deutschland und forderten harte Maßnahmen gegen Serbien. "Dem ungezogenen Buben gehört einmal der Hintern ganz gehörig verklopft", schrieb der "Thurgauer Volksfreund". Die Medien der französischsprachigen Westschweiz fühlten sich eher den Serben verbunden.

Ketten und Holzbarrieren an der Grenze

Am 31. Juli 1914 wurden auf deutscher Seite die Grenzübergänge mit Ketten und Holzbarrieren versperrt, und entlang der grünen Grenze stellte man Stacheldrahtzäune auf. Auch die Schweizer Truppen besetzten ihre Grenzen "zum Schutz der eidgenössischen Neutralität". Somit konnten weder die Konstanzer noch die Kreuzlinger an ihre Arbeitsplätze beim Nachbarn, die bis dahin praktizierte Freizügigkeit im Personenverkehr endete am 1. August für viele Jahre.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs versetzte auch der Schweizer Wirtschaft und ihrem bis dahin starken Export einen schweren Schlag. Spätestens mit dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 war die Schweiz von kriegführenden Ländern umschlossen, der Handel stagnierte und die Industrie drosselte aus Mangel an Aufträgen oder wegen fehlender Rohstoffeinfuhr die Produktion. Erschwerend kam hinzu, dass viele ausländische Arbeitnehmer die Schweiz verlassen mussten, weil man sie in ihrer jeweiligen Heimat zum Kriegsdienst eingezogen hatte. In der ganzen Schweiz brachen die Börsenkurse ein, Sparer zogen vor die Banken und wollten ihr Geld zurück, in den Lebensmittelgeschäften waren Hamsterkäufe an der Tagesordnung.

Die bedrohliche Situation entspannte sich erst, als es der Berner Regierung gelang, mit den Krieg führenden Mächten Handelsabkommen zu schließen. So erwies sich die Erklärung der Neutralität zumindest bis in den Sommer 1916 als Glücksfall für die Schweiz: Rund zwei Drittel der nun wieder steigenden Exporte bestanden aus kriegswichtigen Gütern. Unter dem Deckmantel der Neutralität trug die Schweiz zum millionenfachen Morden auf den europäischen Schlachtfeldern bei und profitierte davon. Auch am Bodensee, im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet.

Dazu hat Tobias Engelsing recherchiert, der umtriebige Direktor des Konstanzer Rosgartenmuseums, in dem die viel beachtete Ausstellung "Die Grenze im Krieg" zu sehen ist. Er verweist dabei auf die in Schaffhausen und auch im deutschen Singen am Hohentwiel beheimateten Eisen- und Stahlwerke Georg Fischer. "Der größte Abnehmer von Stahl- und Eisengussfabrikaten war das Deutsche Reich, aber auch an Frankreich, England und an die Fiat-Werke in Turin lieferte die Georg Fischer AG Teile für U-Boote, Lokomotiven, Kriegsschiffe, Haubitzen, Maschinengewehre und Minenwerfer", notiert Engelsing. Das Geschäft flaute erst wieder ab, als deutsche U-Boote auch Handelsschiffe versenkten und daraufhin die Entente Mitte 1916 die Schweizer Exporte unter strengere Kontrolle stellte.

Das bekam auch die Bevölkerung im Grenzgebiet von Konstanz und Kreuzlingen zu spüren. Laut den Kontrollvereinbarungen des Außenhandels galt beispielsweise der Verkauf von Lebensmitteln an Konstanzer Kunden als "Unterstützung einer Krieg führenden Partei" durch die neutrale Schweiz. Da, wo die Grenze fließend verlief und oft kaum mehr wahrgenommen wurde, unterband der Krieg abrupt enge geschäftliche und persönliche Beziehungen, die über Jahrzehnte hinweg entstanden waren. Konstanz, umgeben von Wasser und Grenzen, war somit fast völlig isoliert und seine BewohnerInnen laut Engelsing "Gefangene in ihrer eigenen Stadt". Passierscheine in die Schweiz wurden nur noch selten ausgestellt, Telefon- und Postverkehr über die Grenze hinweg funktionierten nur noch stark eingeschränkt, ebenso die Schifffahrt. Sogar die Berufsfischer auf dem Bodensee mussten vor Einbruch der Dunkelheit den See verlassen. Überfuhr einer versehentlich die Linien der militärischen Sperrzone, eröffneten Grenzwächter das Feuer.

Asylsuchende wurden zu überflüssigen Brotessern

Gegen Ende des Krieges entwickelte sich die deutsch-schweizerische Landesgrenze zum Zufluchtsort für viele Deserteure, die dem Massensterben entkommen wollten. Es hatte sich herumgesprochen, dass es zwischen Konstanz und Kreuzlingen noch einige wenige Grenzübergänge gab, die relativ ungesichert waren und die Chance boten, sich in die rettende Schweiz abzusetzen. Doch die anfangs praktizierte Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, schwand auch in der Schweiz, als sich dort die Versorgungslage für die Bevölkerung zunehmend verschlechterte. Asylsuchende wurden immer öfter zurückgeschickt, weil man sie als "überflüssige Brotesser" empfand.

Durch die Beschränkung des Schweizer Außenhandels blühte vor allem in der zweiten Kriegshälfte der Ausfuhrschmuggel. Deutsch-schweizerische Schieberbanden machten gute Geschäfte und schafften Waren über die Grenze, die in Deutschland kriegsbedingt kaum mehr zu erhalten waren. Aufsehen erregte eine Bande, so ein Bericht des "Thurgauer Volksfreunds", "deren Mitglieder aus dem Zürcher Zuhältermilieu stammten und die von einem Keller eines Hauses an der Grenzstrasse einen Transportstollen unter der Staatsgrenze hindurchgetrieben hatten, um säckeweise Schmuggelgut ins Deutsche Reich verfrachten zu können".

Nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und der politischen Neuordnung lebte der "kleine Grenzverkehr" zwischen Konstanz und Kreuzlingen schnell wieder auf, allerdings nur in einer Richtung. Nicht nur die Thurgauer Nachbarn kamen zum Einkauf über die Grenze, denn sie profitierten vom Verfall der Reichsmark. Wahre Heerscharen aus der gesamten Schweiz fielen in Konstanz ein, beteiligten sich an der Schnäppchenjagd und kauften die Konstanzer Geschäfte leer. "Es gab Tage", so der Publizist Heinrich Burkhart rückblickend auf die Jahre bis zur Inflationsphase 1923, "da waren Konstanzer Geschäfte vollständig ausverkauft, so dass sie mehrere Tage schließen mussten, bis sie ihre Lager wieder gefüllt hatten".

Bis heute ist die Unbeschwertheit der Jahre vor 1914 vorbei

Der vorübergehende Aufschwung konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erste Weltkrieg dazu beigetragen hat, den Alltag an der Grenze nachhaltig zu beeinflussen. Der Stacheldraht an den Zöllen zwischen Konstanz und Kreuzlingen blieb und mit ihm Schikanen aller Art: Arbeitsbeschränkungen, Zuzugsreglementierungen, frühe Schließzeiten der Grenzübergänge und Visaverordnungen machten das lockere Miteinander, das hier lange geherrscht hatte, nahezu unmöglich. 

Engelsings abschließendes Resümee: "Was vom freundnachbarlichen Zusammenleben an der deutsch-schweizerischen Grenze aus den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit noch übrig geblieben war, wurde in den folgenden zwölf Jahren vollständig ausgelöscht. Deutsche und Schweizer wurden sich während der Herrschaft des braunen Terrors so fremd, dass es einer weiteren langen Nachkriegszeit bedurfte, bevor der 'kleine Grenzverkehr'wieder auflebte. Die Unbeschwertheit der Jahre vor 1914 hat das Zusammenleben an dieser Grenze bis heute nicht wieder erreicht."

 

Die Ausstellung "Die Grenze im Krieg – Der Erste Weltkrieg am Bodensee" ist im Richentalsaal des Konstanzer Kulturzentrum am Münster noch bis zum Jahresende zu sehen. Zusammengefasst ist sie auch in einem gleichnamigen Buch, das im Handel erhältlich ist.


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2 Kommentare verfügbar

  • FPopp
    am 08.11.2014
    Antworten
    "Es gab Tage", so der Publizist Heinrich Burkhart rückblickend auf die Jahre bis zur Inflationsphase 1923, "da waren Konstanzer Geschäfte vollständig ausverkauft, so dass sie mehrere Tage schließen mussten, bis sie ihre Lager wieder gefüllt hatten."

    Also alles beinahe schon ganz so wie heute. ;-)
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