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Von den Nazis geköpft

Von den Nazis geköpft
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Auf dem Mahnmal in der Stuttgarter Urbanstraße bleiben die von Nazis hingerichteten französischen Widerstandskämpfer eine Zahl. In Dijon hingegen stehen ihre Namen auf einer Gedenktafel. So werden aus anonymen Opfern Menschen mit einer Geschichte und einem Gesicht.

Seit dem Juni 1994 gibt es in der Mauer neben dem Treppenaufgang zum Justizgebäude in der Urbanstraße 20 in Stuttgart ein Mahnmal. Die Inschrift lautet: "Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung." Um das Wort "Mord" drückt sich die Inschrift genauso wie um "Unrecht". Und ob man den Männern und Frauen, die hier ermordet wurden, mit der Bezeichnung "Opfer" gerecht wird, ist mehr als fraglich.

Es wird überhaupt, ungewöhnlich für Juristen, jedes konkrete Datum verweigert: Wie hießen die Hingerichteten? Wie viele waren es? Woher kamen sie? Wer hat sie für was verurteilt? Wer war außer den Richtern beteiligt? Wer hat sie hingerichtet? Der Internetauftritt des Oberlandesgerichts verrät so viel: "Im Lichthof des Justizgebäudes in der Urbanstraße (siehe Baugeschichte) wurde eine Zentrale (sic) Hinrichtungsstätte des NS-Regimes eingerichtet. Dort wurden Häftlinge aus ganz Südwestdeutschland und dem Elsass mit dem Fallbeil hingerichtet. In der Zeit zwischen 1933 und 1944 dürften wenigstens 450 Hinrichtungen erfolgt sein; seit 1942 wurden an einem Hinrichtungstag 20 oder mehr Urteile vollstreckt, teils im Abstand von wenigen Minuten."

Das ist immer noch ungenau. Und selbst das Ungenaue ist falsch. Das Karlsruher Ehepaar Brigitte und Gerhard Brändle, mit großem Gespür für Verbrechen an Widerstandskämpfern im Nationalsozialismus und großer Akribie für deren Aufklärung ausgestattet, stieß am Bahnhof von Dijon, das im Nordosten Frankreichs und sicher nicht im Elsass liegt, auf eine Tafel, auf der die Toten Namen und Alter haben. Auf dieser Tafel steht, dass sieben Eisenbahner, Mitglieder der französischen Widerstandsbewegung, am 19. April 1944 in Stuttgart geköpft wurden: "Décapités par les Nazis le 19. Avril à Stuttgart." Und dann werden sieben Namen mit Altersangaben aufgelistet.

Die Brändles recherchierten im Netz und bei einem weiteren Besuch in Dijon in den Archiven der Stadt, der staatlichen französischen Eisenbahngesellschaft Société Nationale des Chemins de fer (SNCF), der ältesten, mitgliederstärksten Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT), die der Kommunistischen Partei Frankreichs nahesteht, und bei Verbänden der Résistance. Im Generallandesarchiv Karlsruhe fanden sie das "Vollstreckungsheft" mit Urteil des Gerichts der Feldkommandantur 669 in Dijon. Im Vollstreckungsheft ist der gesamte Vorgang von der Verhaftung der Eisenbahner aus Dijon von Ende August 1943 über die "Gerichtsverhandlung" in Dijon bis zur Ablieferung der Leichen in der Anatomie Heidelberg am Abend des 19. April 1944 peinlich genau, wie die deutsche Bürokratie eben arbeitet, festgehalten.

Die Gestapo hat nicht die gesamte Widerstandsgruppe erwischt

André Dubois, Raymond Gaspard, Paul Meunier, Raymond Pageaux, Maxime Perreau, Jean Ridet, Jean Tamigi und Maurice Thuringer sind zwischen 1909 und 1914 geboren. Alle bis auf Meunier, der bei der Stadtverwaltung Dijon beschäftigt war und deshalb nicht auf der Tafel am Bahnhof von Dijon auftaucht, waren als Eisenbahner bei der SNCF, alle waren Mitglieder der CGT, vier waren Mitglieder der Parti communiste français. Alle waren verheiratet und hatten zusammen elf Kinder. Meunier hatte mit den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen die faschistischen Truppen des Generals Franco gekämpft.

Die Gestapo hatte im August 1943 nicht die ganze Gruppe erwischt. René Zimberlin arbeitete im SNCF-Depot in Dijon mit den anderen Widerstandskämpfern zusammen. Er floh und wurde am 18. März 1944 in Chaumont, etwas mehr als 100 Kilometer nördlich von Dijon, von der Gestapo erschossen. Deshalb fehlt sein Name auf der Gedenktafel am Bahnhof von Dijon. François Grillot, Deckname Germain, auch er ein Mitglied dieser Gruppe der Résistance, ist 1972 in Dijon gestorben. Er setzte, nachdem die Gruppe aufgeflogen war, seine Widerstandstätigkeit als Leiter der Francs-tireurs et partisans (FTP), der bewaffneten Résistance-Gruppen im Burgund, fort.

Yvonne Thuringer, Maurice Thuringers Frau, geriet Ende August 1943 in die Hände der Gestapo. Ihr Name taucht auf einer Transportliste auf. 959 Frauen wurden am 31. Januar 1944 aus dem Konzentrationslager Royallieu bei Compiègne ins KZ Ravensbrück verschleppt. Dort musste Yvonne Thuringer im Außenlager Holleischen in der Munitionsfabrik Škoda arbeiten. Sie wurde am 5. Mai 1945 durch die polnische Untergrundarmee Narodowe Siły Zbrojne befreit.

In den im "Vollstreckungsheft" aufbewahrten Schriftsätzen der verschiedenen Behörden und Ämter, die zusammenwirkten, um die acht Franzosen umzubringen, ist strikte Geheimhaltung angeordnet. Die Angeklagten durften Abschiedsbriefe schreiben, steht da, abgeschickt werden die Briefe nicht. Wenn sie von einem Ort an einen anderen verbracht werden, immer unter Deckung. Dies wälzt sich durchs gesamte Aktenkonvolut: "Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich vorliegendenfalls um einen Fall von besonderer militärischer und politischer Bedeutung handelt", heißt es da. Im Grunde hat es mit der Geheimhaltung, bis die Brändles kamen, geklappt.

Alle, bis auf Meunier, der wegen unerlaubten Waffenbesitzes angeklagt ist, werden der "Freischärlerei" bezichtigt. Am 27. November 1943 tritt in Dijon ein Feldkriegsgericht zusammen, als "Richter" fungieren Oberkriegsgerichtsrat Dr. Kramer, und die Beisitzer Hauptmann Blau (Frontleitnebenstelle 115) und Oberfeldwebel Schünemann von der motorisierten Feldgrenadiertruppe 516, die zu dieser Zeit in Dijon stationiert war.

Transformatoren-Häuschen im Bahnhof Dijon gesprengt

Nach den in den Akten niedergelegten Ermittlungen haben die angeklagten Eisenbahner von "feindlichen Flugzeugen abgeworfene Waffen und Sprengstoffe" geborgen und mit dem Material drei Sprengstoffanschläge verübt. Am 14. Juli 1943, dem französischen Nationalfeiertag, der an den Sturm auf die Bastille 1789 erinnert, wurde, "zur Probe", wie es in den Gerichtsakten heißt, mit Sprengstoff eine Schnellzuglokomotive attackiert. Am 10. August 1943 verübten Raymond Gaspard, 30, verheiratet mit Irène, Vater einer dreijährigen Tochter, und Maxime Perreau, 34, verheiratet mit Noémie, der Sohn war drei Jahre alt, auf Anweisung des Chefs der Gruppe, Maurice Thuringer, 33, der mit seiner Frau Yvonne einen zehnjährigen Sohn hatte, auf das Transformatoren-Haus des Bahnhofs Dijon-Perrigny, dem größten Eisenbahnknotenpunkt in Nordostfrankreich, einen Anschlag.

Vielleicht ist "Anschlag" nicht das richtige Wort: Thuringer hatte 24 Sprengstoffrollen zu einer Masse verknotet und mit einem Zeitzünder versehen. Perreau stand Schmiere, als Gaspard den Sprengstoff unter dem Transformator anbrachte. Die Tür zum Häuschen hatte Gaspard mit der Schulter aufgedrückt. Schwer bewacht wurde das Transformatoren-Häuschen nicht. "Durch die Sprengung wurde die gesamte Hoch- und Niederspannungsstation völlig zerstört und die danebenstehende Hilfsstation beschädigt, wodurch dem Güterbahnhof, der Reparaturwerkstätte und den Nebenräumen der Kraft- und Lichtstrom entzogen wurde", steht in der Urteilsbegründung. Um die Trafostation wieder zum Laufen zu bringen, hätten Ingenieure und Techniker von auswärts geholt werden müssen, heißt es in der Urteilsbegründung.

In der Nacht vom 17. auf den 18. August verübten Thuringer und Gaspard einen weiteren "Sprengstoffanschlag", diesmal auf das Starkstromkabel, das den Strom vom Umspannwerk Dijon zum Güterbahnhof Dijon-Perrigny leitete. Die Sprengung zerstörte die Kabel, "wodurch eine Stromunterbrechung entstand und die elektrischen Anlagen des Maschinendepots mit Werkstätten, Bekabelungsanlagen und Drehscheiben außer Betrieb gesetzt wurden", berichten die Gerichtsakten. Die angerichteten Schäden blieben überschaubar, bei den Anschlägen wurde niemand ein Haar gekrümmt.

Paul Meunier, 33, verheiratet mit Marguerite, keine Kinder, soll Ende August 1943 eine Maschinenpistole bekommen und versteckt haben, die ebenfalls, wie Fallschirmseide, Sprengstoff und Waffen, aus den Behältern, die aus den Flugzeugen abgeworfen worden waren, stammte.

Die Abwürfe von Transportbehältern über dem Nordosten Frankreichs erfolgten durch Agenten der britischen Special Operations Executive (SOE). Die Verhaftung der Gruppe Ende August 1943 wurde durch Pierre Martin – einen Spitzel der Gestapo – ermöglicht, der als Fahrer für den SOE-Agenten John Renshaw Starr arbeitete. Starr, der vor dem Krieg als Plakatmaler in Paris gelebt hatte und dann auf einigen Umwegen – bei der Royal Air Force hatte man ihn abgelehnt, da sein Vater US-Amerikaner war – bei der SOE gelandet war, hatte den Kontakt zu Maurice Thuringer hergestellt und dafür gesorgt, dass die Gruppe per Fallschirmabwurf mit Sprengstoff und Waffen versorgt wurde. Starr unterwies die Eisenbahner auch im Gebrauch von Waffen und Sprengstoff.

Starr war nach einer ereignislos verlaufenden Aktion im Valence im Mai 1943 nach Frankreich geschickt worden, um dort im Raum Saint-Étienne und Dijon eine Organisation aufzubauen, die als "Acrobat network" bekannt wurde.

 

Fortsetzung folgt.


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6 Kommentare verfügbar

  • Liane
    am 22.08.2014
    Antworten
    @Schorsch: danke :-))
    ich war bei einer Veranstaltung vom Müller:
    er erzählte: eine Hausfrau, die einen Nachbarn denunziert hatte, wurde zu 10 Jahren Haft verurteilt weil sie ja hätte wissen können und Richter wurden reihenweise freigesprochen weil sie ja nicht wissen konnten was wirklich nach…
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