Thomas Ott hat lange überlegt, ob er einen Leserbrief schreiben soll. Aber dann hat er sich dagegen entschieden, weil er nicht als beleidigte Leberwurst gelten wollte. Das ist in seiner Biographie nicht vorgesehen: 63 Jahre alt, Pionier der Stuttgarter Schwulenszene, ihre "Ikone", wie die "Stuttgarter Zeitung" meint, Mitbegründer der Aids-Hilfe, 1987 fast zu Tode gekommen durch zahllose Messerstiche eines psychopathischen Schwulenhassers. Courage kennt kein Jammern, und wenn sie noch mit Humor gepaart ist, sowieso nicht. Vor fast 40 Jahren war's, als er bei der Oberbürgermeisterwahl gegen Manfred Rommel angetreten ist, mit Pelzmantel und John-Lennon-Brille. 476 Stimmen hat er bekommen und die Anerkennung des legendären Liberalen dazu: "Junger Mann, des isch luschdig, was Sie da machet. Und richdig isch es au."
Ott führt den Buchladen "Erlkoenig" in der Nesenbachstraße, den letzten queeren im deutschsprachigen Raum, neben dem "Eisenherz" in Berlin und dem "Löwenherz" in Wien. Ein heller Laden, LGBT-Literatur auf 85 Quadratmetern, 8.000 Titel, Kundschaft von weit her. Das fühle sich gut an, sagt der Mann, der nie Buchhändler gelernt hat, sondern Geschichte und Geografie, woraus ein Lehrer werden sollte, was aber Mutter und Vater schon waren. Das gute Gefühl relativiere sich nur etwas beim Blick auf den Rentenbescheid, räumt Ott ein, dasselbe gelte für die Einkommensteuererklärung, die bei 16.000 Euro endet. Er halte die "Nasenspitze über Wasser", lächelt er die ewige Knappheit weg, die ihm ein Wegbegleiter ist, seitdem er Bücher verkauft.
Ein Glück, dass es nicht mehr so schlimm ist wie vor vier Jahren. Damals stand der "Erlkoenig" vor dem Aus, Monat für Monat häufte der Laden ein Minus von 5.000 Euro an, das Erbe war aufgebraucht. Ott sandte einen "Hilferuf" aus, rechnete vor, dass es reichen würde, wenn nur jede/r aus der Stuttgarter Community im Monat 25 Cent in der Kasse ließe oder ein Kochbuch für die Mama erwerbe, das zu bestellen ihm keine Mühe bereite. Der Aufruf hat ihn noch einmal gerettet, die Solidarität war da und hat ihn auch ein Stück weit durch die Jahre danach getragen. Auch durch die Coronazeit, in der sein Online-Geschäft ordentlich gelaufen ist und die Vermieterin etwas getan hat, was in der Immo-Branche eher ungewöhnlich ist: Sie verzichtete.
4 Kommentare verfügbar
Axel Berger
am 25.06.2021den letzten Satz verstehe ich nicht. Wer, wenn nicht ein großer Verband mit vielen tausend Mitgliedern, die zudem durch Preisbindung und ein Quasimonopol außergewöhnlich gut gesichert waren, hat denn bessere Voraussetzungen dafür, etwas neues mit Anfangsverlusten auf die Beine…