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Mietenwahnsinn

Mitverkauft

Mietenwahnsinn: Mitverkauft
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Angela Gerace wohnt seit 1970 in der Reinsburgstraße 65. Vor ein paar Jahren wurde das alte Haus auf den Stuttgarter Immobilienmarkt geworfen. Seitdem lebt sie in einem Spekulationsobjekt. Wie lange noch, steht in den Sternen.

Ihre Wohnung steht mittlerweile bei Immobilienscout24 zum Verkauf. Drei Zimmer, 61 Quadratmeter, 369.000 Euro Kaufpreis. "Hier können Sie Ihren Traum von Ihrer eigenen Eigentumswohnung im Stuttgarter Westen verwirklichen", steht in der Anzeige. "Vom Schlafzimmer aus erreichen Sie den südwestlich ausgerichteten Balkon, auf dem Sie nachmittags die Sonnenstunden genießen können." Bezugsfrei nach Absprache.

Auf dem Sonnenstunden-Balkon trocknet ein paar Tage zuvor die Wäsche von Angela Gerace, 74 Jahre alt, Bewohnerin dieser Wohnung seit 1970. Sie sitzt auf ihrem Sofa mit Tränen in den Augen, ihre Tochter Sandra ist auch da. Gerade hat ein Makler der Immobilienfirma Protectum aus Fellbach die Wohnung besichtigt, in der schriftlichen Ankündigung seines Besuchs hießt das "Vermarktungsvorbereitung". Der Mann war freundlich, wie all die anderen in den vergangenen zwei Jahren, die durch diese Wohnung gelaufen sind und mit Argusaugen begutachtet haben, wie viel Angela Geraces Zuhause wohl wert ist. Ihr Wohnzimmer mit der Schrankwand, ihr Schlafzimmer mit dem Jesusbild, ihr Badezimmer, ihre Küche, ihr Flur mit den gerahmten Bildern der Tiere, die sie gepflegt hat, bis sie starben.

Der Makler hat Fragen gestellt und sich Notizen gemacht. Als er Fotos machen möchte, kommt es kurz zum Streit. Die Geraces wollen keine Fotos, das ist auch ihr Recht. Weil sie keine Ahnung haben, was mit diesen Bildern passieren wird. Die beiden Frauen trauen keinem mehr. Vor allem keinen Immobilienmenschen.

Der Makler hätte sich mehr Kooperation erhofft

Angela Gerace ist Rentnerin. Ihre Wohnung in der Stuttgarter Reinsburgstraße ist günstig, 400 Euro kalt, 466,76 warm. Das ist ein sehr guter Preis in einer der teuersten Städte Deutschlands. Sie hat viel in Eigenleistung renoviert, immer in Absprache mit den früheren Eigentümern, die noch ein Haus besaßen, in dem Menschen ihr Leben verbringen, und kein Renditeobjekt, das nun scheibchenweise verkauft wird. Zu einem Preis, zu dem man vor nicht allzu langer Zeit im Speckgürtel um Stuttgart noch ein Einfamilienhaus mit Garten bekommen hätte.

Es ist eine hübsche Wohnung, schnieke, sauber. Das sei wichtig, sagen die Geraces, damit sich keiner an ihren Haustieren stört. Die sind auch ein Grund, warum sie nicht möchte, dass jemand Bilder macht. Wenn die Tiere fotografisch dokumentiert sind, fürchtet Gerace, seien die womöglich ein Ansatzpunkt, sie aus der Wohnung zu drängen. Davor hat sie Angst. Denn die aufopferungsvolle Pflege alter Tiere hat sie sich auf ihre eigenen alten Tage zur Aufgabe gemacht, das ist ihr Lebensinhalt. Drei kleine Hunde und eine Katze leben bei ihr. Der vorwitzige Dackelmischling mit dem schiefen Gebiss, den jemand im Urlaub auf der Straße aufgelesen hatte, weil ihm das eine Auge wie Suppe aus dem Kopf lief. Oder die blinde Malteserdame, die anfangs im Schlaf so jämmerlich gewinselt hat, dass die Geraces sicher sind, ihr wurde im früheren Leben etwas Fürchterliches angetan. Das sind ihre "Hundle", alle folgen aufs Wort.

Der Makler geht, ohne Fotos. Dafür mit einer Notiz an die Hauseigentümer, dass sich Gerace nicht kooperativ gezeigt habe. Zum zweiten Mal. Beim ersten Mal hat sie den Handwerker nicht reingelassen, der die Fenster vermessen wollte. Das hätte sich doch widersprochen, sagt die Frau, wenn man erst Einspruch einlegt gegen die Modernisierung der Protectum und dann den Handwerker Fenster für ebensdiese vermessen lässt. Jetzt weint sie. Vor Hilflosigkeit und weil sie eigentlich nicht unfreundlich sein wollte zu diesem Makler. Aber wer ist schon nett, wenn er sich seit mehreren Jahren fühlt, als stünde er mit dem Rücken zu Wand?

Mit Kindern werben und Rentner auspressen

Alles sei so anonym geworden, klagt Gerace, seitdem das Haus keinen Menschen mehr gehört, die auch mal zum Kaffee kommen wie der alte Hausbesitzer. Sondern Firmen, mit Internetauftritten, mit Visitenkarten, mit versendeten Standardschreiben und Rechtsanwälten, mit Klemmbrettern, auf denen ihr Zuhause erfasst wird.

Ihren ersten großen Kampf hat Gerace 2018 geführt, kurz nachdem das Haus aus Privatbesitz auf den verrückten Stuttgarter Immobilienmerkt geworfen wurde. Gekauft hatte die Immobilie, Baujahr 1958, alt aber ordentlich, die "Schwäbische Bauwerk" von Marc-René Ruisinger (Kontext berichtete). Eine Firma, die sich in dicken Lettern "sozial" auf die Fahnen geschrieben hatte und in einem ihrer ersten Briefe plötzlich einen Außenaufzug ankündigte und fast dreimal so viel Miete von den Bewohnern wollte.

Gerace wehrte sich, sie schaltete einen Rechtsanwalt ein, die Hausbewohner der Nummer 65 gingen auf die Barrikaden. Die Presse war da, Zeitungen, sogar Fernsehen, der Mieterverein schaltete sich ein. Deren Chef Rolf Gaßmann stand wenig später gegen Ruisinger und die "Schwäbische Bauwerk" vor Gericht, weil Gaßmann die Firma in einer Pressemeldung als "einen der größten Wohnungsspekulanten in Stuttgart" bezeichnet hatte. Das sei geschäftsschädigend, fand Ruisinger. Vor Gericht hat er verloren (Kontext berichtete). Die Mietsteigerung kam nicht, auch nicht der Außenaufzug. Angela Gerace und die Hausbewohner hatten Ruhe. Zwischenzeitlich allerdings, so berichtet Rolf Gaßmann, habe die Schwäbische Bauwerk auch das Haus Rötestraße 47 an die Fellbacher Protectum verkauft. "Der gelang es dann, die letzte Mieterin mit Abfindung zu 'entsorgen'".

Elf Wohnungen gibt es in der Reinsburgstraße 65, zwei davon sind von jüngeren MieterInnen bewohnt, so um die 40. Dann gibt es ein Ehepaar um die 70, zwei Männer über 80 und Angela Gerace. Dreimal ist sie nun schon mitverkauft worden. Zuerst, nachdem die alten Eigentümer bei einem Unfall ums Leben kamen. Dann, als der neue Besitzer das Haus an die Schwäbische Bauwerk verkaufte. Jetzt gehört das Haus der Protectum GmbH aus Fellbach, die modernisiert und die Wohnungen einzeln weiterverkauft. Rechtlich zulässig sind zwei Besichtigungstermine die Woche, auch während Corona. Die ersten Interessenten waren bereits da, haben gekuckt, ob die vier Wände von Gerace es wert sind, Geld auszugeben, die nächsten sind schon angemeldet.

Den Prospekt der Protectum ziert ein buntes Familienbild mit glücklichen Kindern – Papa, Mama, Bruder, Schwester, Blume, Schmetterling. "Unser Ziel ist es, das wertvollste Gut des Menschen – die eigene Immobilie – für jedermann zu realisieren", steht auf der Homepage.

Aber ist eine gemietete Wohnung nicht auch das wertvollste Gut des Menschen, der darin wohnt? Ein persönlicher und intimer Schutzraum?

Die Maßnahmen sollen geduldet werden

Anfang September 2019 schickt die Protectum ein Schreiben mit der neuen Bankverbindung. Im Juni 2020 kommt die "Aufforderung zur Duldung baulicher Maßnahmen mit Mieterhöhungsankündigung." Neue Fassade, neue Heizung, neue Fenster, neuer Putz im Treppenhaus, neue Wohnungseingangstüren. Am 10. September sollten die Bauarbeiten anfangen. Aber schon im Mai war ein Schild an der Eingangstür angebracht: Vorsicht Bauarbeiten, mit Bitte um Verständnis.

Damals hat Angela Gerace bei der Immobilienfirma angerufen und nachgefragt, was da auf sie zukomme. Man reiße lediglich die Tapeten in den leerstehenden Wohnungen herunter, hieß es, so erinnert sie sich. "Wenn ich mit dem Schlagbohrer so einen Lärm mache, dass es bei der Mutter im Bad alle Gegenstände runtervibriert, dann ist das nicht Tapeten runterreißen", sagt Tochter Sandra Gerace. Sie hat die Arbeiten mit Fotos dokumentiert. Die Protectum sagt auf Nachfrage: "Bei den im Mai begonnenen Arbeiten handelt es sich nicht um Modernisierungsmaßnahmen, sondern um die Ertüchtigung des Brandschutzes im Gebäude."

Insgesamt soll Angela Gerace nach der Modernisierung rund 150 Euro mehr für ihre Wohnung zahlen als zuvor – inklusive anteiliger Nebenkosten für die neue Heizung, die sie nicht möchte, weil ihr selbst angeschaffter Ofen tadellos funktioniert, kostet die Wohnung dann 590 Euro und 15 Cent warm, heißt es in einer Kostenrechnung. Das ist verträglich im Gegensatz zu den 1065,51 Euro Kaltmiete, die die Schwäbische Bauwerk für die Wohnung im ersten Stock verlangen wollte.

Die Protectum sagt, die monatliche Kaltmiete betrage nach Modernisierung 8,80 Euro pro Quadratmeter. "Gerne können Sie einen Blick in den aktuellen Mietspiegel der Stadt Stuttgart werfen und für sich selbst entscheiden, ob dies als unangemessen zu bewerten ist." Aber Angela Gerace befüchtet, dass diese Mieterhöhung nicht das Ende der Fahnenstange sein wird.

Wohin mit wenig Geld?

In der Zwischenzeit kam es zum Streit mit den Arbeitern im Haus. Weil die, so sagt es Gerace, weder Maske tragen noch die Fenster öffnen, wenn gebohrt und gewerkelt wird. Weil die nicht sauber machen, wenn sie fertig sind. Weil sie samstags, sonntags und einmal auch bis halb zwölf nachts arbeiten. Einer der Arbeiter habe Tochter Gerace am Arm gepackt. Einer spuckte vor ihre Eingangstür, ein anderer soll ihr mit erhobenem Finger gedroht haben, "morgen kommen wir in deine Wohnung", und als sie nicht aufmachte, hätten die Arbeiter mit der Faust gegen die Tür gehämmert. Am nächsten Tag hätten sie gedroht, ihr den Strom abzustellen – der Arbeiter habe mit den Fingern eine Schnipp-Schnapp-Geste gemacht, sagt Gerace. Als sie die Fenster einmal selbst öffnete, weil im Treppenhaus alles so staubig vom Betonbohren war, kam sofort ein Brief der Protectum: Die Fenster seien geschlossen zu halten.

Nachprüfen lässt sich nicht, wie die Arbeiter sich im Haus verhalten. Im Grunde geht es darum auch nicht. Sie sind ein Symbol, direkt vor der Wohnungstür. Symbol der Veränderung, der Vermarktung, der Gerace wenig entgegenzusetzen hat. Sie sagt, jetzt sei es noch schlimmer, als es mit der Schwäbischen Bauwerk war. Denn die Protectum tut weitestgehend, was rechtlich zulässig ist. Geraces Leben hat sich ein neues Kapitel aufgedrängt, das sich trotz aller Bemühung nicht mehr schließen lässt: eines der totalen Unsicherheit. In den vergangenen Jahren ist ihr Vertrauen geschwunden, einen Lebensraum haben zu dürfen, den man nicht selbst besitzen muss. Der Glaube daran ist zerstört worden, dass man über die Zahlung von Miete eine Heimat haben kann, egal was kommt. Was tut so jemand?

Gerace hat ein minutiöses Protokoll geführt über die Arbeiten im Haus und die Protectum davon unterrichtet. Sie hat angerufen, Briefe gesendet, Faxe. Mittlerweile muss die Immobilienfirma ihr Faxgerät gesperrt haben, denn es kommt keines mehr durch. Sie hat der Modernisierung widersprochen, einen Anwalt eingeschaltet. Für die Protectum ist diese Frau das, was man wohl eine schwierige Mieterin nennt. Sie selbst sagt: "Die wollen mich hier raushaben."

Nach dem Verkauf hat sie in Stuttgart einen Kündigungsschutz von fünf Jahren. Das hat der Mieterverein einmal hart erstritten. Aber wie oft wird diese Wohnung in diesem Zeitraum weiterverkauft? Wie oft werden fremde Menschen noch durch ihr Wohnzimmer laufen? Wie oft wird die Miete erhöht, sobald man das darf? Wer kauft die Wohnung? Vertrauenswürdige Leute, Geschäftemacher, Spekulanten? Und was kommt in fünf Jahren? Die Eigenbedarfskündigung? Die schwebt schon jetzt wie ein Damoklesschwert über dieser Frau. Ganz abgesehen von der Frage, wo sie dann leben soll, mit wenig Geld und den vielen Tieren – wo der Immobilienmarkt Haustiere leiden kann wie Zahnweh. Oder kommt vorher vielleicht doch eine außerordentliche Kündigung?

Protectum-Anwälte beklagen "Sandkastenniveau"

Im Schreiben vom 14. September 2020 formuliert der Anwalt der Protectum: "Sie scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, meine Mandantin (die Protectum, d.R.) im Rahmen der berechtigten Modernisierung zu blockieren." Geraces Schreiben hätten "Sandkastenniveau". "Es wäre geradezu zu begrüßen, wenn Sie Ihr als speziell zu bezeichnendes Verhalten fortsetzen, da dies dann zum Anlass genommen wird, Sie fristlos zu kündigen." Darauf folgt eine Abmahnung wegen "vertragswidrigen Verhaltens" und die Drohung: "Die von Ihnen verweigerte Modernisierungsmaßnahme wird beim Amtsgericht Stuttgart geklärt."

Unter Maklern sagt man, in einer solch brenzligen Situation müsse ein Mieter unterwürfig sein, erklären, dass er dem neuen Wohnungseigentümer sehr gerne ein guter Mieter sein möchte. Wer wohnen will, muss sich ducken. Aber Angela Gerace ist keine marktkonforme Verwertungsmasse, sondern eine stolze Frau. Die Protectum schreibt, man habe Frau Gerace angeboten, "sich bei jeglichen Problemen bzw. Anliegen mit uns in Verbindung zu setzen. (...) Wir hatten und haben stets ein offenes Ohr, für jegliche Anliegen unserer Mieter."

Kurz vor Redaktionsschluss kam bei den Geraces die zweite Abmahnung an. Diesmal, weil sie die Handwerker nicht reingelassen hat, die einen Unterverteiler in ihre Wohnung einbauen wollten.


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6 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 26.10.2020
    Antworten
    Leider will es heute kaum noch jemand wissen - aber unser Mietrecht ist eine total verkorkste Geschichte.

    Ja, früher haben Privatleute Mehrfamilienäuser gebaut bzw. sich am Bau beteiligt und Wohnungen vermietet. Als Altersvorsorge oder auch, um später Wohnraum für die Kinder zu haben. So haben…
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