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ErzieherInnen

"Jetzt sind die Beschäftigten dran"

ErzieherInnen: "Jetzt sind die Beschäftigten dran"
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Für ErzieherInnen muss es mehr als Klatschen geben. Geld nämlich. Eine Bundeskanzlerin allein kann noch keine Änderung der Wertschätzung bewirken, sagt die Verdi-Sekretärin Ariane Raad. Das muss von allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst erkämpft werden.

Seit dem 29. Juni gehen alle Kinder wieder regelmäßig in ihre Kitas und die Kindertagespflege. Grundlage für die Öffnung der Kitas und Kindertagespflege für einen Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen waren die vorläufigen Ergebnisse der Kinderstudie. Doch der Anfang war holprig, ein Runder Tisch mit den Fachkräften kam nicht zustande, soziale Kriterien bei der Kinderbetreuung wurden zu wenig berücksichtigt, so Ariane Raad. Teil 3 unserer Interview-Reihe mit jungen GewerkschafterInnen.

Ariane Raad, 37, hat Geschichte und Politik studiert. Seit zehn Jahren ist sie Gewerkschaftssekretärin bei Ver.di Stuttgart und ist dort zuständig für den öffentlichen Dienst/Kommunen. 2007 warf Ariane Raad eine Sahnetorte auf den damaligen Ministerpräsidenten Günter Oettinger (er konnte ausweichen), um gegen 1-Euro-Jobs zu demonstrieren. Vor zwei Jahren unterstützte sie die Besetzer der Häuser in der Stuttgarter Wilhelm-Raabe-Straße. Verdi ist mit knapp 2 Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Gewerkschaft der Bundesrepublik.

Frau Raad, Sie berichten, bei Ihnen brenne gerade die Hütte wegen der Erzieherinnen. Freuen die sich denn nicht, dass sie wieder arbeiten können?

In Teilen. Aber jetzt geht's ganz massiv um die Arbeitsbedingungen. Die ganzen Vorschriften sind teilweise sehr schwer umzusetzen. Und es ist unterschiedlich, weil es ja auch nicht wenige Erzieher*innen gibt, die so oder so durchgängig gearbeitet haben. Diese sind mittlerweile ziemlich erschöpft von den sich ständig verändernden Vorschriften, die sie immer wieder umsetzen müssen. Sie sind zum Teil sinnvoll, zum Teil aber auch problematisch.

Zum Beispiel?

An dem einen Tag ist es verboten, mit den Kindern Ausflüge mit dem öffentlichen Nahverkehr zu machen, am nächsten Tag ist es genehmigt. Oder dass die Erzieherinnen und Kinder in feste Gruppe kommen – Geschwisterkinder jedoch in derselben Einrichtung unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden. Vieles ändert sich laufend, was für die Kolleg*innen eine Herausforderung ist. Auch mit den Eltern zu kommunizieren und ihnen zu erklären, warum sie dieses oder jenes an dem einem Tag gemacht haben und am nächsten Tag nicht mehr.

Wer ist da verantwortlich, wer denkt sich denn jeden Tag was Neues aus? Stadt, Land, Bund?

Alle im Endeffekt. Dazu kommt das Problem, dass die ganzen Maßnahmen unterschiedlich kommuniziert werden. Mal von der Politik an die Träger, mal direkt an die Einrichtungsleitungen. Die Wege sind unterschiedlich. Manches widerspricht sich auch. Dazu kommt: Viele pädagogische Fachkräfte haben sehr lange in offenen Konzepten gearbeitet und das war für viele auch eine Form der pädagogischen Qualität. Jetzt müssen sie auf einmal wieder in geschlossenen Gruppen arbeiten, teils auch mit wechselnden Bezugskindern. Und das ist natürlich für viele von heute auf morgen problematisch und schwer umzusetzen – alleine von den Räumlichkeiten her. Außerdem werden die Bestimmungen auch von Träger zu Träger unterschiedlich umgesetzt. Bei dem einen werden beide Augen zugedrückt, bei dem anderen keines.

Wie wäre es denn besser gelaufen?

Es wäre sinnvoll gewesen, wenn die pädagogischen Fachkräfte stärker eingebunden gewesen wären in die Maßnahmen. Wir als Gewerkschaft haben ja lange einen Runden Tisch gefordert, aber darauf hat sich die Politik erst überhaupt nicht eingelassen. Und als es endlich dazu kam, wurden unsere Forderungen zur Kenntnis genommen, aber nichts Richtung Umsetzung unternommen. Und es ist natürlich ein Problem, wenn fachfremde Politikerinnen und Politiker sich Konzepte für Kitas überlegen, ohne genauere Ahnung darüber zu haben oder den Kita-Alltag sowie die alltäglichen Herausforderungen zu kennen, die die pädagogische Fachkraft jeden Tag meistern muss.

Was fordert Verdi konkret in Bezug auf die Kitas?

Wir haben einen Riesenkatalog. Ganz grundsätzlich muss man sagen, dass sich mit Corona die Probleme der seit Jahren verfehlten Politik deutlich gezeigt haben: Im öffentlichen Dienst wird privatisiert, die soziale Infrastruktur wurde nicht aus-, sondern abgebaut. Außerdem haben wir das Problem, dass nach wie vor diese Bereiche weniger Anerkennung finden als in der Privatwirtschaft. Man verdient mehr, wenn man Autos zusammenschraubt, als wenn man Kinder erzieht. Und das alles hat natürlich zu Fachkräftemangel geführt.

Ihr Eindruck insgesamt: Wie ist die öffentliche Hand bezogen auf die Kitas mit dem Lockdown umgegangen?

Das war absolutes Chaos. Bei der Stadt Stuttgart zum Beispiel gab's am Freitag die Info, es wird geschlossen und am Montag konnten die Kinder noch kommen. Oder die Frage der Notbetreuung: Ich finde, da hätte man von Anfang an soziale Kriterien stärker berücksichtigen müssen. Es ist ein Riesenunterschied, ob ein Kind aus einer ökonomisch privilegierten Familie kommt, die Haus mit Garten und vielen Zimmern zur Verfügung hat, oder ob ein Kind aus einer Familie mit beengten Wohnverhältnissen und ohne Garten kommt. Da hätte man früher klären müssen, welche Kinder früher wieder in die Einrichtungen kommen dürfen als andere.

Was bekommen Sie mit, wie die Eltern auf die Wiedereröffnung der Kitas reagieren?

Ich kriege ja nur die Probleme mit. Es gibt Eltern, die sich in den Einrichtungen beschweren und die eine sehr hohe Erwartungshaltung haben. Es gibt natürlich auch die Einrichtungen, die ihre Öffnungszeiten kürzen mussten, weil sie zu wenig Personal haben. Oder aber Einrichtungen, die an bestimmten Tagen schließen mussten, da nicht ausreichend pädagogische Fachkräfte da waren. Da kommt natürlich Unmut bei den Eltern auf. Aber den sollten sie lieber an die Politik richten und nicht bei denen abladen, die versuchen, den Laden am Laufen zu halten. Ich glaube aber auch, dass viele Eltern gemerkt haben, was für eine Arbeit in den Kitas täglich zugunsten von ihrem eigenen Kind geleistet wird. Und ich hoffe, dass diese Anerkennung und Wertschätzung, die ja auch in dem Beifallklatschen der Öffentlichkeit zum Ausdruck kam, jetzt in einer Unterstützung des anstehenden Arbeitskampfes mündet.

Bevor wir zur Tarifrunde kommen: Wer wurde bei diesem Klatschen eigentlich vergessen?

Die Reinigungskräfte. Die hatten sehr schlimme Bedingungen, sie mussten weiterarbeiten und das zum Teil nicht unter den Hygieneschutzverordnungen, weil sie einfach das Material nicht gestellt bekommen haben. Auch bei den Beschäftigten bei der Müllabfuhr und Straßenreinigung gab es Zustände, die einfach unterirdisch waren. Da saßen die Kolleginnen zu dritt in den Müllwagen-Führerhäusern, der gesetzlich vorgeschriebene Abstand kann so nicht eingehalten werden. Auch die Beschäftigten in den Jobcentern haben unglaublich viel gearbeitet. Es haben ja viele Leute ihre Arbeit verloren und dadurch ist deutlich mehr an Arbeit angefallen. Eigentlich wurden alle vergessen, die ihrer Arbeit trotz Gesundheitsgefährdungen nachgehen mussten.

Jetzt steht die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst an …

Genau. Wir hatten ja vorgeschlagen, einen Kurzläufertarifvertrag zu machen. Also einen Tarifvertrag für ein paar Monate, in dem akute Themen wie die Übernahme der Azubis oder die Verlängerung der Altersteilzeit geregelt sind. Dazu eine Einmalzahlung. Damit wären wir mit der Tarifauseinandersetzung nicht in den Herbst gekommen, wenn der Alltag gerade wieder einigermaßen läuft und man aber auch nicht weiß, ob es eine zweite Corona-Welle geben wird oder nicht. Aber die Arbeitgeber haben sich dazu nicht bereit erklärt. Sie wollen die Situation ausnutzen. Also müssen wir jetzt tatsächlich in die Tarifrunde gehen. Der erste Verhandlungstermin ist am 1. September.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Rathäusern hält sich eher in Grenzen. Wie sieht es überhaupt mit der Streikbereitschaft aus in Coronazeiten?

Ich denke, dass die Beschäftigten gar keine andere Wahl haben, als jetzt aktiv mitzumachen. Es zeigt sich ja, wie wenig die Arbeitgeber die Arbeit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst wertschätzen, obwohl diese unverzichtbar ist und alles in der Krise am Laufen hielt. Es ist also in der aktuellen Situation gar keine Frage, ob die Beschäftigten wollen oder nicht. Sie werden es machen müssen.

Verdi hat im öffentlichen Dienst ja immer das Problem, dass der Arbeitgeber wir alle sind – der Staat. Wenn die Kommunen mehr Geld für ihre Beschäftigten ausgeben sollen, zahlen das am Ende wir alle …

Naja, man muss ja sehen, was hat der Staat bisher gemacht. Er hat in der Wirtschaftskrise 2008 die Banken gerettet. Und was hat er jetzt gemacht? Die ganzen Zuschüsse, Kurzarbeit und so weiter, sind ja alles Steuergelder oder Sozialversicherungsbeiträge. Der Staat rettet also mit unserem Geld Unternehmen und Banken. Jetzt sind aber die Beschäftigten dran. Und da sagen die öffentlichen Arbeitgeber auf einmal, es sei kein Geld da. Entweder sie erkennen an, dass ein Sozialsystem nur funktionieren kann, wenn Menschen da sind, die dieses sicherstellen, und honorieren das entsprechend. Oder aber der Staat macht so weiter wie in den letzten Jahren: Kaputtsparen und Privatisieren zu Lasten der Beschäftigten und der Gesellschaft.

Wir haben jetzt viel über das Verhalten der öffentlichen Hand im Lockdown gesprochen. Wie hat sich nach Ihrer Einschätzung denn Verdi in dieser Zeit geschlagen?

Aus meiner Sicht war Verdi genauso von Corona überfordert wie viele andere alle. Es gab viele Fragen von Mitgliedern und Personalräten und wir mussten uns in verschiedene Themen in kurzer Zeit einarbeiten um adäquat zu beraten und zu unterstützen. Dennoch hätten wir aus meiner Sicht in manchen Brennpunkten stärker vor Ort sein müssen – Presseerklärungen sind gut, aber reichen nicht aus.

Waren Sie während Corona eigentlich in den Betrieben?

Ja. Ich war vor Ort. Es war auch für mich schwierig, ich hatte mein Kind daheim. Aber es ging natürlich. Ich bin froh, dass es jetzt in Stuttgart das Bündnis gibt "Nicht auf unserem Rücken". Da machen wir mit und am 18. Juli gibt es eine Demonstration. Aber da müsste Verdi auch bundesweit aktiver sein. Denn ich befürchte, die Kosten dieser Krise werden auf den Rücken der Beschäftigten abgewälzt werden. Wir müssen jetzt Sturm laufen, sonst kommen wir zu spät. Ein Rettungsschirm für die Kommunen, damit diese mit den finanziellen Folgen der Corona-Krise nicht alleine dastehen, ist auch dringend nötig.

Schlussfrage: Stellen Sie sich vor, Sie wären Bundekanzlerin. Was würden Sie als erstes angehen?

Eine Bundeskanzlerin oder einzelne Person kann keine relevante Veränderung herbeiführen. Und diese brauchen wir, wenn wir in einem Gesellschaftssystem leben wollen, in dem die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung im Vordergrund stehen und nicht die Profitbestrebungen einer kleinen Elite. Dafür müssen wir jedoch den Kapitalismus überwinden. Dies ist nicht durch die Entscheidung Einzelner zu machen, sondern nur durch den Großteil der lohnabhängigen Bevölkerung, der sich organisiert und in Räten basisdemokratisch entscheidet und für seine Interessen kämpft. Ein weiter Weg, aber immer noch realistischer, als dass sich von oben grundlegend was ändert.


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3 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 08.07.2020
    Antworten
    „Eine Bundeskanzlerin allein kann noch keine Änderung der Wertschätzung bewirken, …“
    Bitte? Befindet sich diese Verdi-Sekretärin tatsächlich in der NEU-Zeit, in der althergebrachtes in Frage gestellt und neu überdacht wird?!?

    Ohne dem Pazifismus das Wort zu reden: Kämpfen, also kriegsähnliches…
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