KONTEXT:Wochenzeitung
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Geisterfahrer auf der Gäubahn

Geisterfahrer auf der Gäubahn
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Die Gäubahn hat aktuell zwei große Baustellen: den seit 1996 mit der Schweiz vertraglich vereinbarten Ausbau, um Fahrzeiten zu verkürzen. Und die Frage, wie sie wegen S 21 ab 2025 an den Stuttgarter Hauptbahnhof angeschlossen werden soll. In den beiden Fällen wird wild durcheinander argumentiert.

Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann ist unter Druck. Nicht wegen dauernder Zugverspätungen und Pendlerentschädigungen, sondern weil er den Ausbau des Schienenverkehrs torpediere. Sagen zumindest seine Kritiker, und das sind in den letzten Wochen erstaunlich viele, von der CDU bis zur Linken, in zahlreichen Medien, quer durchs Land.

Konkret geht es dabei um die Gäubahn. Jene 1879 eröffnete Schienenstrecke, die von Stuttgart über Böblingen, Horb, Rottweil, Tuttlingen und Singen bis in die Schweizer Finanzkapitale Zürich führt. Sie war einmal Teil einer von Berlin bis Italien reichenden Magistrale, 1917 fuhr schon Lenin auf ihr.

Die Gäubahn hat ein Problem, das genau genommen mit Adolf Hitler zu tun hat. Denn als Reparationsleistung für die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht herausgerissenen Gleise zwischen Belfort und Besançon baute Frankreich 1946 einfach die Hälfte der Gleise zwischen Horb und Tuttlingen ab. Seitdem ist die Gäubahn auf diesem Abschnitt eingleisig, was ihrer verkehrlichen Kapazität, der Menge und Geschwindigkeit der auf ihr fahrenden Züge, nicht eben gut tut.

Kein Zustand, zumal wenn man mehr Menschen auf die Schiene bringen will. Ihn zu ändern, verpflichteten sich Deutschland und die Schweiz bereits 1996 im Vertrag von Lugano. Genau, das ist der Staatsvertrag, der auch den Ausbau der Rheintalbahn beinhaltet im Dienste der sogenannten Neuen Eisenbahn-Alpentransversale, die wiederum wichtiger Teil des Korridors Rotterdam-Genua ist. Bei diesem Vertragsteil hat die Schweiz schon lange ihr Soll erfüllt, während für den deutschen Teil eine Fertigstellung noch lange nicht absehbar ist und sich auf der Baustelle auch mal die Gleise biegen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Und wie sieht’s bei der Gäubahn aus? Große Überraschung: Die Schweiz hat ihren Teil der Vertragsvereinbarungen längst erfüllt, in Deutschland wurde noch nicht einmal mit dem Bauen angefangen. Dabei geht es hier gar nicht um den Ausbau des kompletten eingleisigen Streckenabschnitts, sondern nur um vier Teilstücke, die zweigleisig ausgebaut werden sollen. "Eine darüber hinausgehende Herstellung einer durchgehenden Zweigleisigkeit hätte keinen weiteren Einfluss auf die Fahrzeiten", heißt es dazu in einer am 14. Februar erfolgten Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion.

Hat der Minister eine Chance sausen lassen?

Nun habe es angeblich eine große Chance gegeben, den Gäubahn-Ausbau zu beschleunigen – wenn das Vorhaben auf die Projektliste von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuers neuem Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz (MGVG) gesetzt worden wäre, das die Umsetzung von Infrastrukturprojekten beschleunigen soll und jüngst die letzten Hürden von Bundestag und -rat passiert hat. Doch Minister Hermann habe sich nicht dafür eingesetzt und damit die Möglichkeit nicht genutzt – so zumindest der Tenor der Kritiker aus Politik und Presse.

Das Gesetz abgelehnt hatte Hermanns Ministerium schon im vergangenen Jahr, als es vor dem Bundesrat erstmals debattiert wurde (Kontext berichtete). Unter anderem, weil es eine starke Beschneidung von Bürgerbeteiligungsrechten vorsieht und vermutlich grundgesetz- und europarechtswidrig ist – das sagen zumindest Experten wie der Rechtsprofessor Thomas Groß. Hermanns Kollegin Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, lehnt das Gesetz auf Kontext-Nachfrage aus den gleichen Gründen ab.

Scheuers juristisch bedenkliches Neuwerk wird nun ausgerechnet vom baden-württembergischen Justiz- und Tourismusminister Guido Wolf (CDU) goutiert, der als Vorsitzender des Interessenverbands Gäubahn und Abgeordneter des an der Strecke liegenden Wahlkreises Tuttlingen-Donaueschingen hier womöglich auch als Frühwahlkämpfer auftritt. Jedenfalls nahm die Debatte erst an Fahrt auf, als Wolf gemeinsam mit Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) Mitte Dezember 2019 forderte, Hermann solle sich dafür einsetzen, die Gäubahn auf die Projektliste zu setzen – aktuell befinden sich dort 13 Projekte aus dem ganzen Bundesgebiet. Zahlreiche Parteifreunde Wolfs  sekundierten, unter anderem die bekanntermaßen in inniger Abneigung mit Hermann verbundene Nicole Razavi, und Teile der Presse ebenso.

Hermann gehe mit seiner Ablehnung, das neue Gesetz zu nutzen, "ein hohes Risiko ein", war etwa am 21. Januar in der "Stuttgarter Zeitung" zu lesen. "Nach mehr als 20 Jahren Verzögerung wurde weitere Chance zur Verfahrensbeschleunigung verpasst" heißt es am 6. Februar in den "Badischen Neuesten Nachrichten" schon in der Unterzeile eines Artikeltitels. Und die Gäubahn sei "ein Paradebeispiel dafür, warum es ein solches Gesetz überhaupt braucht", schreibt Ulrike Bäuerlein am 12. Februar im "Südkurier" und im "Mannheimer Morgen".

Unterkomplexe Argumentation

Tatsächlich ist die Gäubahn eher ein Paradebeispiel dafür, warum es so ein Gesetz eben nicht braucht – und die Debatte darüber ein Paradebespiel dafür, mit welcher inhaltlichen Schlichtheit bei gleichzeitiger Hitzigkeit argumentiert werden kann, sobald der Topos der in Deutschland vermeintlich immer viel zu langen Planungsprozesse bemüht und Abhilfe versprochen wird.

Denn was in Scheuers neuem Gesetz die Planungszeiten vor allem verkürzen soll, ist die Regelung, dass statt Länderbehörden wie den Regierungspräsidien nun der Bundestag bestimmte Projekte beschließt und gerichtliche Verfahren dadurch minimiert werden sollen, weil nur noch vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt werden kann. Wegen der potentiellen Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit dieses Punktes ist in den Tweets zum Gesetz schon vom "Mautdebakel 2.0" die Rede.

Für die Gäubahn brächte diese Regelung gar nichts. Denn auf einem Ausbauabschnitt zwischen Horb und Neckarhausen gibt es bereits fast zwei Jahre lang Baurecht. "Die Probleme sind gelöst. Man kann einfach anfangen", betonte Winfried Hermann denn auch in einer langen Pressemitteilung vom 28. Januar. Scheuers Gesetz "bringt keine Beschleunigung" heißt es darin auch, nötig sei "lediglich entschlossenes Handeln von DB und Bund". Denn dort werde aus unterschiedlichen Gründen gebremst und blockiert, dies sei die eigentliche Ursache für die Verzögerungen.

Nicht Bürgerproteste verzögerten den Ausbau

Blickt man zurück, muss man Hermann recht geben: Nach dem Vertragsabschluss von Lugano dauerte es zehn Jahre, bis 2006 die Bahn nach einer Kosten-Nutzen-Studie den komplett zweigleisigen Ausbau erst als unwirtschaftlich ablehnte, um im Jahr darauf den abschnittsweisen Ausbau als Lösung der Wahl zu präsentieren. Dann dauerte es noch einmal neun Jahre, ehe 2016 der Streckenausbau in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wurde. Um langwierige Planungsprozesse ging es damals nie, es wurde schlicht die ganze Zeit um die Finanzierung gerungen. Immerhin: Im April 2018 erging der Planfeststellungsbeschluss für den ersten Ausbauabschnitt, erst ein Jahr später wurde der Finanzierungsvertrag geschlossen. Laut Bahn ist der Baubeginn für 2022, die Inbetriebnahme für 2023 geplant. Bürgerproteste oder lange gerichtliche Verfahren verzögerten hier nichts.

Dagegen könnten die Rechtsunsicherheiten des Gesetzes, argumentiert das Landesverkehrsministerium, langwierige Klageverfahren nach sich ziehen und "dazu führen, dass die Realisierungszeiträume der im MGVG aufgenommenen Projekte sogar noch verlängert werden." Bremse statt Beschleunigung also.

Dass CDU-Landespolitiker im Wahlkampfmodus eher wenig Interesse an Differenzierung haben, verwundert dabei nicht. Dass sogar die Linke Baden-Württemberg ins gleiche Horn stößt, dagegen schon. So verschickte der Landesverband am 18. Februar unter dem Titel "Bahngau auf der Gäubahn" eine Pressemitteilung, in der Winfried Hermann gescholten wird, "einen weiteren wesentlichen Schritt zur Verbesserung des regionalen Schienenverkehrs versäumt" zu haben, indem er sich nicht um die Aufnahme der Gäubahn in die MGVG-Projektliste gekümmert habe. Linken-Sprecher Dirk Spöri nannte es darin "unerträglich mit welcher Ignoranz der grüne Verkehrsminister eine Chance nach der anderen verstreichen lässt, die Verkehrswende in Baden-Württemberg voranzubringen". Wie diese Einschätzung dazu passt, dass zwei Monate zuvor, am 17. Dezember 2019, die Bundestagsfraktion der Linken in einem Antrag gefordert hatte, Scheuers Gesetzentwurf als Ganzes zurückzuziehen, da sie eine Aushöhlung von Bürgerbeteiligung darin sehe, ließ der Landesverband auf Kontext-Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Mit der Gäubahn rein nach Stuttgart? Bald schwierig

Mit der Diversität von Meinungen kennen sich die Grünen indes noch viel besser aus. Zu beobachten bei einer anderen Baustelle der Gäubahn, nämlich der Frage, wo sie ab 2025 in Stuttgart enden soll. Nach den Stuttgart-21-Planungen wäre sie ab da jahrelang vom Hauptbahnhof abgekoppelt und würde in Vaihingen oder am Nordbahnhof enden. Denn die geplante neue Führung ab Vaihingen über die S-Bahnstrecke zum Flughafen ist noch nicht einmal planfestgestellt, der alte Gäubahnabschnitt, die Panoramabahn, soll aber wegen Bauarbeiten ein halbes Jahr vor der Tiefbahnhoffertigstellung gekappt werden (Kontext berichtete).

Für eine technisch problemlos machbare Interimsanbindung über die bestehenden Gleise an den Hauptbahnhof macht sich eine immer breitere Allianz stark: Verbände wie der VCD, der Böblinger Landrat Roland Bernhard, zahlreiche Bürgermeister von Kommunen entlang der Gäubahn, zuletzt der Rottweiler OB Ralf Broß in einem Schreiben an Hermann, plädieren dafür, aber auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel. Und das grün geführte Verkehrsministerium kann sich diese Lösung auch gut vorstellen – der grüne Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold wiederum gar nicht (mag er in der Vergangenheit auch das Gegenteil vertreten haben, wie dieser Artikel von ihm zeigt.).

Pätzold hat nun aber möglicherweise auch die Grünen-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat gegen sich, die von der Stadtverwaltung wissen will, inwiefern eine interimsweise Weiternutzung der bisherigen Gäubahnführung möglich wäre. Nach Pätzolds bisherigen Ausführungen gar nicht, denn "unmittelbar nach Inbetriebnahme des neuen Hauptbahnhofs" müsse "der zügige Rückbau des Gleisvorfelds unmittelbar erfolgen", schrieb Pätzold jüngst an Landrat Bernhard. Diese Aussage steht freilich im Gegensatz zu einer am 7. Februar erfolgten Antwort der Stadt, unterzeichnet von OB Fritz Kuhn, an eine Anfrage der Gemeinderatsfraktion Die Fraktion. Darin steht: "Nach der Fertigstellung der neuen (S-21-) Infrastruktur wird der kommerziellen Inbetriebnahme (…) ein monatelanger Probebetrieb vorausgehen, während parallel der alte Hauptbahnhof in Betrieb bleibt." "Unmittelbar erfolgender Rückbau" klingt anders.

Neigetechnik? Ach nö.

Eine Verkürzung der Fahrzeiten auf der Gäubahn torpediert die DB auch, indem sie den Einsatz von Neigezügen ablehnt, weil die Kosten zu hoch seien. Von 1999 bis 2010 fuhren schon einmal ICEs mit Neigetechnik auf der Strecke, 2:42 Stunden dauerten damals die schnellsten Verbindungen zwischen Stuttgart und Zürich. Heute sind es rund drei Stunden, mit dem Streckenausbau seien laut Landesverkehrsministerium 2:37 Stunden möglich – allerdings nur mit Neigetechnik. Vom ursprünglichen, im Vertrag von Lugano festgehaltenen Ziel von 2:15 Stunden hat man sich längst verabschiedet. Ob der Bund in Zukunft für den Einsatz von Neigetechnik sorgen werde, war auch Teil einer Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion (Frage 9), die Antwort der Bundesregierung vom 14. Februar allerdings ist denkbar schwammig: "Das Land Baden-Württemberg hat sich dazu verpflichtet, Neigetechnikzüge einzusetzen. Mit den im Bedarfsplan vorgesehenen Maßnahmen werden alle verkehrlichen Anforderungen für eine nachhaltige Nutzung der Gäubahn erreicht. Durch die Profilaufweitung für den Schienengüterverkehr wird ein hoher Nutzen erzielt." (os)

Um es noch unübersichtlicher zu machen, einigte sich die Landesregierung am 11. Februar auf die Einberufung einer Expertengruppe, die über einen Gäubahnanschluss an den Hauptbahnhof beraten soll. Andere Experten sind schon länger tätig: Seit 2017 wird an einer von Stadt, Land und Verband Region Stuttgart in Auftrag gegebenen Studie gearbeitet, die eine Anbindung der Gäubahn über die Panoramabahn an den Hauptbahnhof untersuchen soll – laut Verkehrsministerium soll sie im zweiten Halbjahr 2020 vorliegen. Und seit Juli 2019 tagt auch eine Expertengruppe über einen unterirdischen Ergänzungsbahnhof, der nach den Vorstellung von Verkehrsminister Hermann auch einen Gäubahnanschluss enthalten soll – Ergebnisse sind vage fürs Frühjahr angepeilt (Kontext berichtete).

Die Gäubahn, sie wird wohl noch lange eine Baustelle bleiben. Und voller Geisterfahrer.


Interessant sowohl zur Geschichte als auch zu aktuellen Entwicklungen: Hermann G. Abmayrs Gäubahn-Film, der am 30. August 2019 erstmals im SWR lief.


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