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Das Schweigen der Streithähne

Das Schweigen der Streithähne
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Jahrelang hat ein europäisches LKW-Kartell die Preise für Lastwagen abgesprochen. Während die Klagewelle vieler Speditionen und Kommunen rollt, bestreiten die Hersteller bislang, ihren Kunden geschadet zu haben. Außer in einem Fall: Die Daimler AG hat sich offenbar mit der Stadt Stuttgart auf einen Vergleich eingelassen.

Im Saal 114 des Stuttgarter Landgerichts herrscht dicke Luft. Seit Stunden schon sitzen sich an diesem 7. November die Streitparteien gegenüber: Übach-Palenberg gegen den Weltkonzern Daimler AG. Es ist der erste Verhandlungstermin im Verfahren mit dem Aktenzeichen 30 O 89/18, das die nordrhein-westfälische Kleinstadt angestrengt hat. Der Streit dreht sich um drei Feuerwehrfahrzeuge mit dem Stern, die das 25 000 Einwohner zählende Städtchen vor Jahren angeschafft hatte. Für sie, betont Rechtsdezernent Marius Claßen, habe man einen fünfstelligen Euro-Betrag zu viel bezahlt.

Immer wieder blättern die beiden Anwälte der Düsseldorfer Kanzlei GTW, die Claßen im Prozess beistehen, in dicken Aktenordnern. Suchen nach Kaufverträgen und Rechnungen, die belegen sollen, wie viel die Fahrzeuge gekostet haben, wann sie bestellt und bezahlt wurden. Ebenso eifrig scrollt der Anwalt der renommierten Stuttgarter Wirtschaftskanzlei Gleiss Lutz, von der sich der schwäbische Autobauer vertreten lässt, durch Dokumente auf seinem Laptop. Dutzende Schriftsätze ans Gericht sind gespeichert, alle kommen zum gleichen Schluss: Der einstigen Bergbaustadt an der Grenze zu Holland ist kein Schaden durch das Geschäftsgebaren des Daimler-Konzerns entstanden.

Wer in diesen Tagen die Verhandlungen der 30. Zivilkammer am Stuttgarter Landgericht (LG) verfolgt, wähnt sich eher auf einem orientalischen Basar denn in einem Gerichtssaal. Denn unter den Augen von Justitia wird gefeilscht, was das deutsche Zivilrecht hergibt. Es geht um Fußmatten und Sitzbezüge. Gehören sie zur Grundausstattung eines LKWs? Oder zählen sie zur Sonderausstattung, die extra zu bezahlen ist? Und wie verhält es sich mit dem Kfz-Brief? Ist das Zulassungsdokument im Kaufpreis inklusive? Oder sind dafür zehn Euro auf den Brutto-Listenpreis eines Sattelschleppers oder Müllwagens anzurechnen, der je nach Ausstattung mit 100 000 Euro zu Buche schlägt? Gestritten wird auch über Grundsätzliches: ist ein Feuerwehrauto eigentlich ein Lastkraftwagen? "Nein, da es nach seiner Funktion her zum Löschen und nicht zum Transport von Lasten dient", meint ein Anwalt, der in einem der Verfahren den Münchner LKW-Hersteller MAN vertritt.

2011 machte MAN das Kartell öffentlich

In den Verfahren geht es um Schadensersatz, den die Käufer mittelschwerer und schwerer LKW von Daimler, Iveco, DAF, MAN, Scania und Volvo/Renault fordern. Nach Feststellung der EU-Kommission hatten diese Hersteller zwischen 1997 und 2011 ein Kartell gebildet und so über 14 Jahre hinweg ihre Verkaufspreise für mittelschwere (Nutzlast sechs bis 16 Tonnen) und schwere Lastkraftwagen (Nutzlast über 16 Tonnen) abgesprochen. Zusätzlich haben die Hersteller auch den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen Euro 3 bis Euro 6 an Endkunden untereinander abgestimmt.

Deswegen hatte die EU-Kommission im Juli 2016 Rekordgeldbußen in Höhe von fast drei Milliarden Euro verhängt. Sie wurden von den Herstellern im Vergleichsweg akzeptiert. Mit rund 1,009 Milliarden Euro kassierte der Daimler-Konzern die höchste Strafe. Der Münchner Mitbewerber MAN, der das Kartell 2011 an die EU verpfiffen hatte, kam als Kronzeuge ohne Strafe davon. Bis heute behaupten die Hersteller, es habe sich bei alledem lediglich um einen "wettbewerbsunschädlichen Informationsaustausch" gehandelt.

Seitdem rollt eine Klagewelle durch Deutschland, die aufgrund der Rechtslage bei den Gerichtsständen der Kartellanten anbrandet. So auch am Stuttgarter Landgericht, wo seit 2017 entsprechende Verfahren von der 30. Zivilkammer, einer für Kartellschadensersatzklagen zuständigen Spezialkammer, abgearbeitet werden. "Aktuell sind rund 250 Klagen anhängig, die sich hauptsächlich gegen Daimler, aber auch gegen MAN und Iveco richten", erläutert eine Gerichtssprecherin.

Auf Klägerseite stehen in der Regel Unternehmen, von der Einzelfirma bis zum international tätigen Großunternehmen. Oft schließen sich aus Kostengründen mehrere Parteien zusammen, um ihre Ansprüche in nur einer Klage geltend zu machen. So begann erst vor wenigen Tagen am Münchner Landgericht der bislang größte Prozess gegen die LKW-Kartellanten: 3200 Spediteure fordern in einer Sammelklage von den Lastwagenherstellern MAN, Daimler, DAF, Volvo/Renault und Iveco insgesamt 867 Millionen Euro Schadensersatz samt Zinsen. Die Deutsche Bahn hat bereits angekündigt, ebenfalls zu klagen. Der Staatskonzern, an den 40 weitere Unternehmen ihre Forderungen abgetreten haben, verlangt Schadenersatz von rund einer halben Milliarde Euro.

Gegen MAN klagt Stuttgart alleine – und gegen Daimler gar nicht

Zu den Klägern gehört auch die öffentliche Hand, sprich Kommunen, Bundesländer und der Bund. In einem der größten Verfahren dieser Art klagen derzeit 27 Gemeinde, Städte und Zweckverbände aus Baden-Württemberg gemeinsam am Stuttgarter Landgericht. Unter anderem Reutlingen, Ostfildern, Ludwigsburg, der Landkreis Böblingen und die Stadtwerke Karlsruhe hoffen, von Daimler, MAN und Iveco zu viel bezahltes Geld erstattet zu bekommen. Insgesamt 828 LKWs sollen ihnen die Hersteller zu überteuerten Preisen verkauft haben. Der Streitwert beträgt 4,2 Millionen Euro.

Anders als ihre Nachbarn kämpft die Landeshauptstadt Stuttgart dagegen allein vor Gericht– bislang auch nur gegen einen einzigen Kartellanten, den Münchner LKW-Hersteller MAN. Streitgegenstand sind MAN-Fahrgestelle, die für 39 Müllfahrzeuge der städtischen Abfallwirtschaft (AWS) und acht Löschfahrzeugen der Stuttgarter Branddirektion angeschafft wurden. "Der vorläufige Streitwert liegt bei etwa 500 000 Euro", bestätigt Stadtsprecher Sven Matis. Weil die MAN Truck & Bus AG eine außergerichtliche Einigung ablehnte, stimmte der Gemeinderat im Dezember 2018 einer Klage gegen den Hersteller zu. Wenige Tage später wurde diese beim LG Stuttgart eingereicht. Der erste Verhandlungstermin fand am vergangenen Donnerstag statt. Wie von Prozessbeobachtern erwartet, verneinten die Anwälte von MAN während des mehrstündigen Gütetermins einen Anspruch der Landeshauptstadt. "Eine gütliche Einigung kommt nicht zustande", protokollierte die Vorsitzende Richterin Silvia Grube. Es wird in ein "streitiges Verfahren" übergegangen, wie es im Juristendeutsch heißt. Noch vor Weihnachten sollen sich die Kontrahenten erneut vor Gericht treffen.

Doch wie hält es Stuttgart mit seinem größten Gewerbesteuerzahler, der Daimler AG? Umgekehrt gefragt: War der Daimler-Konzern so scham- und skrupellos, auch die Kommune an seinem Stammsitz mit überteuerten Listenpreisen für Müll- und Feuerwehrfahrzeuge auszunehmen? "Im fraglichen Zeitraum haben wir auch Daimler-LKW in unseren Fuhrpark aufgenommen", bestätigt Stadtsprecher Sven Matis auf Anfrage. Zu näheren Details, wie viele LKW mit Stern die Stadt und ihre Tochterunternehmen gekauft haben, um welche Summen man sich streitet, wie der Stand des Verfahrens ist – darüber herrscht Funkstille. "Weitere Angaben kann ich derzeit nicht machen, da es sich um eine Rechtstreitigkeit handelt", so Matis.

Das macht misstrauisch. Einen Rechtsstreit bestreitet die Stadt also nicht, doch hat sie bis heute keine Klage gegen den Daimler-Konzern beim zuständigen Stuttgarter Landgericht eingereicht. Dies bestätigt eine Gerichtssprecherin auf Nachfrage. Und dies, obwohl die Verjährungsfristen für LKW-Kartellklagen mittlerweile abzulaufen drohen, wie Fachanwälte warnen.

Auch beim Widersacher der Landeshauptstadt stoßen Anfragen auf eine Mauer des Schweigens. "Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu laufenden Gerichtsverfahren und zu Geschäftsbeziehungen mit unseren Kunden nicht weiter äußern", teilt Daimler schriftlich mit. Die EU-Kommission habe zur Frage eines Schadens in ihrer Entscheidung auch nichts festgestellt, sondern lediglich, dass bestimmte Informationen ausgetauscht wurden. "Wir gehen davon aus, dass unseren Kunden kein Schaden entstanden ist", heißt es von Seiten des Konzerns.

Alles spricht dafür, dass einen Vergleich gab

Für Juristen ist das Schweigen der Stuttgarter Streithähne ein klares Indiz: Dafür, dass sich die Parteien außergerichtlich geeinigt haben – und die Öffentlichkeit darüber im Unklaren lassen wollen. Wie in anderen Kartellverfahren üblich, könnte Verschwiegenheit Teil des Vergleichs sein, um anderen Klageparteien keine Prozessmunition in die Hände zu geben. Damit wären auch Stuttgarts Stadträte zum Schweigen verurteilt, die laut Gemeindesatzung bei Rechtstreitigkeiten mit einem Streitwert ab 130 000 Euro ihr Plazet geben müssen. "Sollten Details in die Öffentlichkeit sickern, könnte der ganze Vergleich platzen", verdeutlicht ein im Kartellrecht erfahrener Anwalt die Geheimniskrämerei.

Riesige Aktenberge

Die LKW-Kartell-Verfahren am Stuttgarter Landgericht betreffen selten nur einzelne, in der Regel Hunderte, teilweise aber auch Tausende, manchmal weit über 10 000 Lkw. Dementsprechend liegen die jeweiligen Schadensersatzforderungen zwischen 3500 Euro und rund 100 Millionen Euro. In rechtlicher Hinsicht werfen die Klagen eine Vielzahl schwieriger Fragen auf, die höchstrichterlich noch nicht geklärt sind. Bislang liegen zum LKW-Kartell nur wenige obergerichtliche Entscheidungen vor, seit April 2019 etwa ein Urteil des OLG Stuttgart, aber keine Entscheidung des Bundesgerichtshofs.

In jedem Verfahren muss jeder einzelne LKW-Beschaffungsvorgang Schritt für Schritt geprüft werden. Dabei übersenden die Prozessbeteiligten dem Gericht jeweils zahlreiche Schriftsätze, die sich regelmäßig über hunderte, sehr oft über tausende Seiten erstrecken. Einzelne Klagen wurden auf Dutzenden Euro-Paletten mit hunderten Ordern abgeladen. Um die Aktenberge unterzubringen sind mittlerweile 20 laufende Meter neuer Regale notwendig geworden, die auf mehrere Räume im Haus verteilt werden müssen. Sowohl Kläger als auch Beklagte legen fast immer jeweils mehrere hochkomplexe ökonomische Privatgutachten vor. Für das Gericht bedeutet dies, sich in jedem Verfahren durch schier unendliche Berge von Unterlagen zu wühlen. Aufgrund der Vielzahl und Länge der Verfahren sind bereits jetzt Termine bis Dezember 2020 angesetzt. Das LKW-Kartell wird das LG Stuttgart noch auf Jahre intensiv beschäftigen. (jl)

Wer wissen will, um was für eine Summe es sich handeln könnte, die die Daimler AG ihrer Standortstadt im Falle eines Vergleichs überweist, muss deshalb nach anderen Quellen suchen. Ein Hinweis ist die aktuelle Anzahl der Mercedes-Lastkraftwagen im städtischen Stuttgarter Fuhrpark. Nach Kontext-Recherchen umfasst dieser derzeit 163 LKW mit Stern. Diese werden vom städtischen Eigenbetrieb AWS zur Müllsammlung, zur Straßenreinigung und im Winterdienst eingesetzt. Beim Tiefbauamt sind sie in der Kanalreinigung im Einsatz. Die Mehrzahl der Lösch- und Einsatzfahrzeuge der Stuttgarter Branddirektion trägt ebenfalls Stern.

Die Zahl der im Kartellzeitraum angeschafften Mercedes-LKW lässt sich anhand der Erneuerungsrate eines Fuhrparks abschätzen. Die wiederum ist vom Fahrzeugtyp und Einsatzzweck abhängig. Während Speditionen Fahrzeuge aufgrund der hohen Laufleistung heute im zwei- bis dreijährigen Rhythmus erneuern, werden Müllsammelfahrzeuge, um die es sich in der Mehrzahl im Stuttgarter Fall handeln dürfte, gewöhnlich nach acht Jahren ersetzt. Löschgruppenfahrzeuge für die Freiwillige Feuerwehr haben deutlich längere Haltedauern.

Näherungsweise dürfte der städtische Mercedes-LKW-Fuhrpark im 14 Jahre dauernden Kartellzeitraum (1997 bis 2011) etwa einmal erneuert worden sein. Demnach wurden rund 160 Fahrzeuge überteuert einkauft. Nur grob schätzen lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Konfiguration der einzelnen Fahrzeuge der dabei entstandene Schaden. Im oben erwähnten kommunalen Sammelklageverfahren beträgt der durchschnittliche Streitwert rund 5000 Euro. Nähme man diesen Wert als Grundlage, läge im Stuttgarter Fall der Streitwert bei rund 800 000 Euro– und der Vergleich, auf den sich Daimler AG und Stadt Stuttgart mutmaßlich eingelassen haben, knapp darunter.

Woanders bewegt sich Daimler nicht

Städte wie Übach-Palenberg aus Nordrhein-Westfalen warten dagegen weiter auf ein Entgegenkommen. "Das LKW-Kartell beschäftigt uns bereits seit zwei Jahren", sagt deren Rechtsdezernent Claßen. Der Daimler-Konzern habe sich in dieser Zeit keinen Millimeter in Richtung Schadenersatz bewegt, ergänzt er.

Am Stuttgarter Landgericht wurden inzwischen rund 30 Grundurteile im LKW-Kartell-Komplex gesprochen. Sie gingen überwiegend zu Lasten der Hersteller aus. Über die Höhe des jeweiligen Schadens wird nun im weiteren Prozessverlauf entschieden. Auch ein erstes Berufungsverfahren am Oberlandesgericht Stuttgart, angestrengt vom unterlegenen Daimler-Konzern, gewann die klagende Spedition. Beobachter erwarten, dass der Bundesgerichtshof in vielen Fällen in letzter Instanz entscheidet.


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2 Kommentare verfügbar

  • Stefan Urbat
    am 19.11.2019
    Antworten
    M.W. zahlt Daimler überhaupt keine Gewerbesteuer in Stuttgart, denn solche Konzerne suchen sich regelmäßig eine Betriebsstätte mit möglichst niedrigem Gewerbesteuerhebesatz, ein klarer Fehler in den Gesetzen, dass die sich das aussuchen können. Allerdings wird die genaue Steuerzahlung selbst…
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