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Und täglich mampft der Flächenfresser

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Im Stuttgarter Umland werden in irrem Tempo Einfamilienhäuser hingestellt. Doch die Wohnungsnot lindert das nicht. Dafür schafft dieser Bauboom neue Probleme: Fruchtbare Böden verschwinden für immer, historische Dorfkerne veröden. Und Experten sagen einen Preissturz in naher Zukunft voraus.

Die letzten Umzugswagen fuhren vor wenigen Tagen ab. Jetzt machen es sich die Bewohner in ihren neuen Eigenheimen gemütlich. Möbel werden positioniert, Innen- und Außenbeleuchtung installiert, Garagen mit Autos und Zweirädern belegt, junges Rasengrün sprießt in den Vorgärten. Das Leben im frisch aufgesiedelten Baugebiet Erpfenfeld in Allmersbach am Rande des Schwäbischen Waldes, rund 30 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, nimmt seinen Lauf. Auf zwei Hektar Ackerfläche entstand ein schmuckes Wohnquartier mit rund zwei Dutzend Einfamilienhäusern. Ein Zuhause, in das sich vorwiegend junge Familien einkauften.

Doch die Neubauten machen nicht alle glücklich. Das "durchmischte Wohngebiet", wie es im offiziellen Bebauungsplan heißt, hinterlässt auch unschöne Spuren in amtlichen Statistiken. Etwa beim Flächenverbrauch, wie Umwelt- und Naturschützer beklagen. Dieser stieg in Baden-Württemberg nach einem einmaligen Rückgang im Jahr 2016 zuletzt wieder massiv an. So wurden in 2017 täglich 7,9 Hektar (das sind 79 000 Quadratmeter) des Landesbodens zu Siedlungs- oder Verkehrsflächen. In anderen Worten: Tag für Tag verschwinden rund fünfeinhalb Fußballfelder an fruchtbaren Feldern und Wiesen, idyllischen Wäldern und wertvollen Biotope unter Beton und Asphalt. Ein Jahr zuvor hatte sich der tägliche Flächenfraß durch Häuser, Gewerbegebiete, Straßen und Parkplätze noch mit 3,5 Hektar begnügt.

Der unersättliche Hunger auf Baugrund hat Folgen: In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden in Baden-Württemberg rund 680 Quadratkilometer zubetoniert – eine Fläche mehr als dreimal so groß wie das Stuttgarter Gemarkungsgebiet. Mittlerweile sind bereits 14,6 Prozent der Landesfläche mit Siedlungen (9,2 Prozent) und Verkehrswegen (5,5 Prozent) belegt. Noch zersiedelter zeigt sich die Region Stuttgart: Knapp ein Viertel (22,8 Prozent) des Bodens belegen hier Gebäude und Verkehrswege. In der Landeshauptstadt ist sogar bereits mehr als die Hälfte der Gemarkungsfläche "verbaut": 2017 erreichte der Anteil der siedlungswirtschaftlich genutzten Flächen 51,7 Prozent.

Die Einfamilienhäuser bringen für den Markt der Mieter nichts

Auch wenn der Flächenfraß angesichts einer Gesamtbodenfläche von 35.738 Quadratkilometern in Baden-Württemberg auf den ersten Blick marginal erscheint: Selbst im ländlichen Allmersbach ist der Raubbau am so genannten Schutzgut Boden inzwischen im Ortsbild erkennbar. Das gerade entstandene Wohngebiet am Dorfrand lässt die Gemeinde weiter mit dem benachbarten Teilort Heutensbach zusammenwachsen. Nur noch wenige hundert Meter trennen die einst eigenständigen, einen knapp einstündigen Fußmarsch auseinander liegenden Ortschaften voneinander.

Kein Einzelfall rund um Stuttgart: Neue Wohnquartiere im Grünen sowie großzügige Gewerbegebiete und Logistikstandorte zerfressen die Landschaft. Wo sich früher Fuchs und Hase gute Nacht sagten, entstanden ausgedehnte Siedlungsagglomerationen. Ein Phänomen, das bis vor wenigen Jahren nur direkt in urbanen Ballungszentren zu beobachten war.

Andererseits lindert der Bauboom im Speckgürtel bislang kaum die Wohnungsnot in Stuttgart selbst, betonen Naturschutzverbände. Eine Entspannung des Marktes ist deshalb nicht in Sicht, weil viele der Umlandgemeinden nur Baugebiete für Einfamilien- oder Doppelhäuser ausweisen. Zusätzlich erhalten auf kommunalen Grundstücken meist nur Ortsansässige den Zuschlag. Mit Zuschüssen ködern viele Gemeinden junge Familien, die nur einen Teil der Wohnungssuchenden repräsentieren.

Eine Streuobstwiese entspricht einem Fledermauskasten?

"Was für das Klima gilt, gilt auch für den Boden als eine unserer Lebensgrundlagen", fordert Gerhard Pfeifer, Geschäftsführer vom BUND-Regionalverband Stuttgart, und "Schluss mit Bodenverbrauch". So fallen den neuen Baugebieten häufig Ackerflächen zum Opfer, auf denen lokale Lebensmittel produziert werden. Oft sind es auch ökologisch wertvolle Gebiete wie Streuobstwiesen, die Bagger nun für Wohngebiete platt machen. Dabei ist Boden eine endliche Ressource. "Erst einmal bebaut, ist er unwiederbringlich verloren", betont Pfeifer. Auch deshalb hält der Umweltschützer nur wenig von Ausgleichsmaßnahmen.

Tatsächlich müssen die Umweltauswirkungen eines Bebauungsplans untersucht und kompensiert werden. Die Vorgaben erlauben es den Gemeinden allerdings, unvermeidliche Verluste an Boden und Habitaten kreativ auszugleichen. "Die Eingriffe sind meist enorm, die Ausgleichsmaßnahmen lächerlich", erwähnt Pfeifer ein Beispiel aus dem Schwäbisch-Gmünder Teilort Weiler, wo eine Streuobstwiese Einfamilienhäusern weichen musste. Als Ausgleich beschloss der Gemeinderat, zehn Fledermauskästen und 12 Nistkästen für Vögel anzubringen. Die Bodenversiegelung des Allmersbacher Baugebiets Erpfenfeld rechnete der dortige Gemeinderat unter anderem mit einem Sporterlebnispark schön, der über zehn Wohnmobil-Standplätze, mehrere Camping-Hütten und einen Kräutergarten verfügt.

Viele Bürgermeister sähen Neubaugebiete am Ortsrand als einzige Rettung, um die Einwohnerzahl zu halten, kritisiert Pfeifer. "Erhebungen zeigen aber, dass dies kein nachhaltiger Lösungsweg ist", betont er. Demnach konnten viele Gemeinden ihre Einwohnerzahl in den vergangenen Jahrzehnten zwar stabilisieren. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich jedoch die Siedlungsfläche. Was sich die Gemeinden teuer erkaufen mussten. "Mit jedem neuen Baugebiet steigen die Infrastrukturkosten", rechnet Pfeifer vor. Der Bau von Straßen und Kanalisation wird zwar über Erschließungskosten durch die Bauherren finanziert. Für ihren Unterhalt kommt jedoch die Gemeinde auf, sprich die Gesamtheit der Steuerzahler. Zudem verhinderten viele der Neubaugebiete aufgrund ihrer abgeschiedenen Ortsrandlage die notwendige Mobilitätswende im ländlichen Raum, ergänzt Pfeifer.

Es muss in die Höhe gebaut werden, um Fläche zu sparen

"Wir brauchen auch im Umland Mehrgeschosswohnungsbau", fordert der BUND-Mann, Bauen zu realisieren. Ökologisch betrachtet sei unversiegelter Boden viel zu wertvoll, um ihn durch meist zu große Einfamilienhäuser zu verbrauchen.

Allerdings tun sich viele Bürgermeister und Gemeinderäte schwer, flächensparende Wohnmodelle in ihre Kommunen zu übernehmen. "Aktuell sehen wir keinen Bedarf für eine verdichtete Bauweise", bügelte vor kurzem etwa der Lorcher Bürgermeister Karl Bühler Anregungen aus dem Gemeinderat ab, in einem Wohngebiet oberhalb des Remstals auch mehrgeschossigen Mietwohnungsbau zu ermöglichen.

So würden leider viele Amtsträger im Speckgürtel von Stuttgart ticken, kritisiert Pfeifer. Frei nach dem Motto, dass sich gefälligst die großen Städte wie Stuttgart, Waiblingen oder Esslingen um das lästige Thema sozialer Wohnungsbau kümmern sollen. "Das ist Rosinenpickerei und sich aus der Verantwortung stehlen", sagt der Umweltschützer. Mit einer derartigen Haltung werde man das Ziel eines schonenden Umgangs mit dem immer wertvoller werdenden Schutzgut Boden nicht in den Griff bekommen.

Gierige Erben sind ein Grund für den Leerstand

Mit Standardsätzen wie der "dringlichen Nachfrage nach Wohnbauplätzen von ortsansässigen Bauplatzinteressenten" und dem Fehlen von "Wohnbauflächen im ausreichenden Umfang" wird die Aufsiedelung am Dorfrand meist begründet. Gern wird in Bebauungsplänen darauf verwiesen, dass "in der jüngeren Vergangenheit mangels Wohnbauflächen bereits der Wegzug eingesessener Bürger" hingenommen werden musste. Häufig betonen die Verantwortlichen auch, dass man sich bis zuletzt bemüht habe, innerörtliche Baulücken zu schließen und in Zukunft die Innenentwicklung forcieren wolle. "Ein Baugebiet am Ortsrand auszuweisen geht leichter und schneller, als sich mit Eigentümern und Erben von Bestandsimmobilien im Dorf herumzuschlagen", konstatiert Pfeifer vom BUND.

Doch während Einfamilienghettos an Ortsrändern aus dem Boden sprießen, veröden immer mehr Dorfzentren und ältere Wohnquartiere. "Fünf Prozent aller Wohngebäude stehen leer", nennt Stefan Flaig das Ergebnis von Erhebungen im Kreis Böblingen. Demnach betrifft der Leerstand vor allem Ein- und Zweifamilienhäuser, die in den 1980er-Jahren oder früher von jungen Familien erstbezogen wurden. "Die Kinder sind längst ausgezogen, und wenn die Eltern sterben, ist der Leerstand programmiert", erläutert der Fachberater von der Stuttgarter Ökonsult-Agentur. Mittlerweile sei in zehn Prozent der Wohngebäude der jüngste Bewohner älter als 70 Jahre, was die Leerstandsquote in naher Zukunft weiter nach oben treibe, sagt Flaig einen gewaltigen Umbruch auf dem Immobilienmarkt voraus. "Der Peak wird erreicht sein, wenn die Babyboomer wegsterben", erwartet er, und dass das Wohnungsangebot die Nachfrage bald deutlich übersteigt. Die Preise für Einfamilienhäuser würden dann massiv einbrechen.

Viele leerstehende Wohnungen kommen allerdings gar nicht auf den Markt - aus verschiedenen Gründen. "Häufig sind ältere Einfamilienhäuser zu klein und haben veraltete Heizungs- und Dämmsysteme", nennt Flaig hohe Sanierungskosten als Hindernis. Zudem hätten die Erben oft zu hohe Preisvorstellungen. Anderseits hielten die derzeit niedrigen Zinsen Besitzer ab, ihre Immobilien zu verkaufen. "Der Glaube ans Betongold ist größer", sagt der Experte.

Es droht das Ende des schwäbischen Traums

Auch eine im Juli erschienene Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) kommt zu dem Schluss, dass bereits in vielen, allerdings strukturschwachen, Landkreisen und Städten zu viel gebaut wird. Während in den Ballungszentren ein regelrechter Kampf um Wohnraum tobe, wurde in 69 der 401 kreisfreien Städte und Landkreise in den vergangenen zwei Jahren über 50 Prozent mehr Wohnungen gebaut, als tatsächlich benötigt werden, so die Studie. Umgekehrt seien zwischen 2016 bis 2018 in den sieben größten Städten gerade einmal 71 Prozent der benötigten Wohnungen fertiggestellt worden. Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt am Main erreichten Quoten von über 78 Prozent, Stuttgart und München kommen dagegen nur auf 56 und 67 Prozent. Um den Bedarf zu decken, müssten bundesweit bis 2020 rund 341.700 Wohnungen pro Jahr gebaut werden, davon 62.800 in den sieben größten Städten, so das Fazit der IW-Studie.

"Den Schlachtruf 'Bauen, bauen, bauen!' kann ich nicht mehr hören", sagt dagegen Fachberater Stefan Flaig. "Statt immer nur auf Einwohnerzahlen zu schielen, müssen Bürgermeister und Gemeinderäte Belegungsdichte und Bedarfszielgruppen im Auge behalten." Dann werde klar, wie groß welcher Wohnungsbedarf tatsächlich sei.

"Einfamilienhäuser lösen unser Wohnungsproblem nicht", sagt Flaig. Weil es wegen der Überalterung unserer Gesellschaft immer weniger gut verdienende junge Familien gebe. "Wir brauchen preiswerte Mietwohnungen für sozial Schwächere, mit guter ÖPNV-Anbindung und über das Gemeindegebiet verteilt für eine gute Durchmischung", rät der Experte. Zudem wachse rasant der Bedarf an Seniorenwohnungen mit fußläufigen Versorgungseinrichtungen in den Ortslagen.

"Die Zeit neuer Einfamilienhäuser mit Doppelgarage ist definitiv vorbei", sagt auch BUND-Mann Gerhard Pfeifer. Im Land der Häuslebauer sei dieser Wohntraum ökologisch wie ökonomisch zwangsläufig ein Auslaufmodell.


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4 Kommentare verfügbar

  • Krauss Gerhard
    am 11.08.2019
    Antworten
    Hallo,sicher ist es um jeden Quadratmeter Acker oder Wiese schade, doch irgendwie erkenne ich in diesem Artikel die Wut der Makler, denen der fette Gewinn z.Z. entgeht. Das die Preise fallen,das die Gemeinden bauen, das ist für sie die Makler ein Alptraum.-Das ist meine Meinung.
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