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Ausgebremst

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Alarm im Autoland. Daimler, Porsche und Bosch haben fette Probleme, Stuttgart könnte für die Diesel zur No-go-Area werden, Zehntausende fürchten um ihre Jobs. Nur die Schrauber von der Waiblinger Avia-Tankstelle nicht. Sie glauben weiter an das Dröhnen der Motoren.

Wer die Avia-Tankstelle in Waiblingen, nur wenige Kilometer von Stuttgart entfernt, ansteuert, ist Stammkunde. Wie Takki, der Grieche um die Ecke, der jeden Tag eine frische Packung Lucky Strike abholt. Legt das Geld hin, kriegt seine Zigaretten, geht. Manche wurden Freunde, wie der Micha von der Installationsfirma, der seinen Lieferwagen seit Jahren hierher zur Vorsorge schickt. Oder jene Kundin, die nach einem Unfall nicht die Tochter, sondern den Mechaniker anruft. "Die Irene gehört fast zur Familie", sagt Helmut Frank Gehring, einer von drei Helmuts bei Avia, und grinst.

Irene ist 90, bringt ihren Corsa seit Jahren zur Reparatur und hat inzwischen ein bisschen Probleme mit der Sehkraft. So höflich umschreiben sie das hier in der Werkstatt, wo man davon ausgeht, dass jeder jederzeit Auto fahren kann. Irene jedenfalls setzte ihren Corsa auf die Leitplanke, stieg unverletzt aus und rief den Mechaniker ihres Vertrauens an: "Kannst du mich abholen?" Helmut Frank Gehring konnte, und hat getröstet: Der Führerschein war weg und das ist auch in hohen Jahren eine mittlere Katastrophe. Keiner weiß das besser als die Autofreaks von "Helmut und Helmut's": Genau so steht's auf der Visitenkarte.

Ein Besuch bei den Helmuts ist wie eine Reise in alte Zeiten. Die, ganz klar, bessere waren. Kein Feinstaub, kein Dieselgate und die E-Mobilität war auch noch nicht verschlafen. Vor allem aber politisch betrachtet. Was haben sie gezetert, als die Grünen die Schwarzen abgelöst haben. 58 Jahre CDU im Ländle, sie hat das nicht gestört. Und dann das: Einen grünen Lehrer als Ministerpräsidenten! Das war ihnen so angenehm wie ein Nagel im Reifen. Inzwischen haben sie sich beruhigt: "Es gibt keinen schwärzeren Grünen als den Kretschmann." Aber davon später.

Was nutzen 100 PS unter der Haube, wenn im Kopf die Kupplung schleift?

Das Auto feierte gerade 101. Geburtstag, als die beiden älteren Helmuts die kleine Tankstelle übernehmen, die da mitten in Waiblingen etwas eingezwängt zwischen zwei Hauptstraßen am Hang klebt. Helmut Spahlinger und Helmut Gehring hatten sich 1987 beide für die Pacht beworben, beide hatten ein Taxiunternehmen, beide kannten sich mit Autos aus, Gehring hatte beim Daimler gelernt. "Warum machen Sie es nicht zusammen?", fragten die Verpächter. Und weil sich die beiden Waiblinger Helmuts schon aus Kreidler-Zeiten kannten, als sie auf ihren frisierten Floretts aus Kornwestheim den Waiblinger Mädchen zu imponieren versuchten, haben sie das gemeinsame Experiment gewagt. Schließlich verbindet sie die Liebe zu Maschinen aller Art: Hubschrauber, Motorräder, Autos, Lastwagen – vor ihnen ist nichts sicher, was einen Motor hat. Es darf auch mal ein E-Bike sein.

Bei so grundlegenden Gemeinsamkeiten konnte eigentlich nichts schiefgehen. Es ging sogar so gut, dass die beiden Helmuts inzwischen verschwägert sind. Der Sohn von Helmut Gehring heißt – richtig, Helmut. Helmut Frank. Er ist 49 Jahre alt und machte vor knapp zwei Jahrzehnten aus den zwei die drei von der Tankstelle und die zwei älteren Helmuts auf einen Schlag zu Opas. Sowas verbindet. Und seit zwei Jahren gehört auch Tanja Gehring-Spahlinger zum Helmut-Kosmos. Sie hat von ihrem Vater nicht nur die Anteile übernommen, sondern auch den Job im Laden. Helmut Spahlinger meinte, dass er mit 72 Jahren schon mal weniger arbeiten könnte. Aber noch immer kommt er fast täglich vorbei, auf einen Schwatz, zum Tanken oder einfach, um mit auf dem Bänkchen vor dem Tankstellenshop zu sitzen, den sie betreiben wie einen Tante-Emma-Laden.

Helmut Gehring, 70, ist der Chef in der Werkstatt. Dort läuft den ganzen Tag SWR3. Reifen lassen sich viel besser auswuchten, wenn dazu "Material Girl" von Madonna läuft, meint Helmut Gehring der Ältere, den sie hier nur Helmes nennen. "Der Jackpot von 25 Millionen Euro ist geknackt", verkündet die notorisch fröhliche Moderatoren-Stimme gerade, als Helmes frisches Öl einfüllt. Sein lapidarer Kommentar: "I war's net". Was er machen würde mit so viel Geld? "Ha, am beschten weiter so", sagt Helmut senior und grinst. "Bloß völlig unbeschwert", ergänzt Helmut junior, den sie hier Fränki nennen, und wird ein bisschen lauter. Vor der Werkstatt röhrt ein frisierter Wagen vorbei, Musik tönt aus den offenen Fenstern, junge Männer hinter Sonnenbrillen reiten stolz die Fronackerstraße hinunter. Für Angeberei haben die pragmatischen Schwaben kein Verständnis und für die Fahrer nur Spott: "Was nützen 100 PS unter der Haube, wenn im Kopf die Kupplung schleift?", fragt Fränki.

Die Grünen halten sie nicht länger für den Feind aller Schrauber

Es gibt viele Freunde der Tankstelle. Einer heißt – wie könnte es anders sein – Helmut, verdealt "Lastwagen an Bimbos", wie er sagt und weiß auch sonst Schwarz und Weiß klar zu unterscheiden. Mit den Grünen haben sie sich inzwischen versöhnt. "Die haben doch kein Gefühl im Gasfuß", haben sie vor sechs Jahren gelästert. Inzwischen kauft der grüne Lehrer Kretschmann demonstrativ einen dicken Diesel, damit er Sand für seinen Enkel transportieren kann, veranstaltet einen Autogipfel, um die Zetsches und Co. zu beruhigen und aus Dieselgate raus- und in die neue Öko-Auto-Welt reinzukommen. "Wer das Geld hat, sagt an", erklärt der vierte Helmut, Spannberger mit Nachnamen, den sie hier Spanne nennen. Eine Million Autos im Jahr werden hier in Baden-Württemberg gebaut. Das Auto ist hier alles. Arbeit. Wohlstand. Sicherheit. Die Helmuts finden es gut, dass die Grünen von der Industrie ausgebremst wurden. Für sie gilt, heute wie gestern, die baden-württembergische Weisheit: "Wenn Daimler hustet, hat das Land Fieber."

Mögen sie manche auch für Dinosaurier halten: Die Schrauber von der Avia-Tankstelle sind zufrieden mit sich und ihrer Welt. Das hier ist ihr Reich. Diese Stillleben aus Öldosen, das Schlangengewirr von Auspuffrohren und all die bunten Kabel bilden ein Chaos, dessen Ordnungsprinzip nur das Trio der Eingeweihten durchschaut. An der Wand hängen Fotos von nackten Frauen, die wohl überall hängen, wo Männer mit ölverschmierten Händen an Motoren schrauben. In zwei Jahren läuft die Pacht aus. Und dann? Dreifaches Schulterzucken. Mitten in der Stadt sind Bauplätze begehrt. "Wenn jemand gut arbeiten kann, findet er immer Gschäft", sagt Helmut der Jüngere. So schnell lässt sich hier keiner aus der Ruhe bringen.

Ökonomie sticht Ökologie – das gilt bis heute im Helmut-Kosmos

Der Helmut-Kosmos hat viele Facetten. Sie haben geheult, als Eddy, der kleine Yorkshire-Terrier, von einem großen Hund tot gebissen wurde. Sie reden Klartext, wenn es um ihre Meinung geht. Sie sind konservativ, wie fast alle hier. Ihr Ton ist von jener grantelnden Herzlichkeit, die grad noch mal Gnade vor Recht ergehen lässt. Es ist eine schwäbische Freundlichkeit, nicht süßlich, sondern räs wie der Most, der hier im Land der Streuobstwiesen gerne getrunken wird. Most ist nicht jedermanns Geschmack. Wer ihn mag, bleibt ihm treu.

Sie leben auf dem Land, in der Natur, und Stuttgart, die Hauptstadt des Feinstaubs und des Staus, scheint mehr als zehn Kilometer entfernt. Selbstverständlich gönnen sie allen gute Luft. Und natürlich war die Betrugssoftware bei VW ein großer Schmuh, "aber, mal ehrlich, das machen doch alle". Schulterzucken darüber, was eh nicht zu ändern scheint. Und eine gewisse klammheimliche Freude über das handwerkliche Können, das dahinter steckt: Der Porsche Cayenne, Betrugssoftware getarnt als Aufwärmprogramm, "das war doch eine Meisterleistung der Ingenieure", sagt Spanne. Erfolgreiche Schlitzohrigkeit kommt hier an. Feinstaub hin, Dieselgate her – nach wie vor gilt in ihrem Kosmos: Ökonomie sticht Ökologie.

Die Grünen allerdings sehen sie nicht länger als den natürlichen Feind aller Schrauber. "Der Kretschmann hat doch alles lassen, wie es war", sagt Helmes. Gut so, nicken die anderen. So gefällt ihnen das. Zuviel Veränderung schadet bloß. Aber grün wählen ginge ihnen dann doch zu weit. "So schlimm isch's no net", sagt Fränki. Sie tanken weiter die Tanks voll, testen Bremsen, verkaufen Kaugummi. "Wir werden sehen", sagen die Helmuts.


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3 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 25.07.2017
    Antworten
    "Der Führerschein war weg und das ist auch in hohen Jahren eine mittlere Katastrophe."
    Nein ist es nicht! Nur wenn man es dazu hochstilisiert und gleichzeitig der ÖPNV von der Politik mit Milliarden Steuergeldern an die Wand gefahren wird!
    In Deutschland gäbe es bei einer vernünftigen…
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