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Schweineteuer

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Der Tiefbahnhof Stuttgart 21 wird knapp zehn Milliarden Euro kosten, über drei Milliarden mehr als bislang offiziell eingeräumt, prognostiziert der Münchner Verkehrsplaner Martin Vieregg. Kostentreiber sind die filigranen Kelchstützen der Bahnhofshalle.

Die Straßen sind weihnachtlich geschmückt, das Foyer des Bahn-Towers am Potsdamer Platz auch. Doch besinnliche Stimmung will hoch droben in der Berliner Luft, in der obersten Führungsetage der Deutschen Bahn AG (DB), nicht aufkommen. Zu mies sind die Zahlen des ablaufenden Geschäftsjahrs, als dass die Damen und Herren des Aufsichtsrats Bahnchef Grube und seinem Vorstand wie üblich vertrauensselig Absolution erteilen könnetn. 1,3 Milliarden Miese sollen dieses Jahr in der Bilanz des Staatskonzerns stehen. Erstmals seit zehn Jahren wird der Schienen- und Logistikkonzern tiefrote Zahlen schreiben.

Zur letzten Aufsichtsratssitzung des Jahres am 16. Dezember 2015 platzen weitere Hiobsbotschaften in die Runde. Im Tauziehen um das Nürnberger S-Bahn-Netz hat sich die britische National Express (NX) gegen den bisherigen Betreiber, die Bahntochter DB Regio durchgesetzt. Damit soll zum Fahrplanwechsel im Dezember 2018 erstmals ein Privatunternehmen ein großes regionales S-Bahn-Netz in Deutschland mit rund 20 Millionen Fahrgästen pro Jahr betreiben. Schon im November hatte das Land Baden-Württemberg die lukrativen Stuttgarter Regionalzugnetze statt an DB Regio an die private Konkurrenz vergeben. Das Bahnangebot <link http: www.kontextwochenzeitung.de wirtschaft angst-vor-dem-abstellgleis-3287.html internal-link-new-window>scheiterte ausgerechnet an einem Formfehler.

Und dann standen am Sitzungstag noch Stuttgart-21-Gegner vor der Konzernzentrale und wedelten mit <link http: www.kopfbahnhof-21.de wp-content uploads external-link-new-window>einem Gutachten, das eine weitere Kostenexplosion beim Bahnhofsbau zu Stuttgart prognostiziert.

Mit mindestens 9,8 Milliarden Euro soll das Verbuddeln des bestehenden Kopfbahnhofs zu Buche schlagen. Das wären über drei Milliarden Euro mehr, als der aktuelle Finanzierungsrahmen von 6,526 Milliarden Euro zugesteht. Zudem sollen weitere Kostenrisiken von über einer Milliarde Euro im Stuttgarter Talkessel lauern. Etwa, falls sich der neue Jahrhundertbahnhof bei Inbetriebnahme als zu klein dimensioniert erweisen sollte und der bestehende Kopfbahnhof teilweise weiterbetrieben werden müsste. Apropos Fertigstellung: Auch hier prognostiziert der Gutachter der Gegner weitere Verzögerungen, statt Ende 2021 sollen Züge erst Ende 2025 in die achtgleisige unterirdische Bahnhofsstation einfahren.

Solch niederschmetternde Nachrichten können in diesen schweren Zeiten weder Vorstände noch Aufseher brauchen, sodass keiner aus der illustren Runde bereit war, die Berechnungen des Münchner Verkehrsplaners Martin Vieregg wenigstens haptisch zur Kenntnis zu nehmen. Auch die SPD-Bundestagsabgeordneten Brigitte Zypries und Kirsten Lühmann, die beiden einzigen Volksvertreterinnen im Kontrollgremium des "volkseigenen" Betriebs, verweigerten die Entgegennahme von Eisenhardt von Loeper. Der ist Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, das die aktuelle Kostenberechnung beauftragt hatte. Den Job übernahm letztlich der stellvertretende Leiter der Konzernpressestelle, mit der in zahlreiche TV-Kameras gesprochenen Zusage, das Gutachten dem obersten Gremium vorzulegen.

Kelchstützen kosten mehr Zeit und Geld als gedacht

Knapp 500 Kilometer Luftlinie weiter südwestlich regnete es derweil Hunde und Katzen, was die bereits ausgehobene Bahnhofsgrube im Stuttgarter Schlossgarten im Schlamassel, diesmal der lehmigen Art, versinken ließ. Nur ein Bauwerk blieb auf der Riesenbaustelle unbefleckt, dank aufwendiger Überdachung: die Musterkelchstütze, die Mitte Oktober von der Bahn mit großem Pressebrimborium und unter Anwesenheit von Bahnhofsarchitekt Christoph Ingenhoven der Öffentlichkeit präsentiert wurde. 28 dieser Kelchstützen sollen später die riesige Decke der 420 Meter langen und 80 Meter breiten Bahnsteighalle tragen. Jede einzelne Kelchstütze wird 1000 Tonnen wiegen. Auf ihnen sollen die Lichtkuppeln sitzen, die im unterirdischen Bahnhof für natürliche Beleuchtung sorgen. Zwei bis drei Monate, so die grobe Schätzung der Bahn, soll die Produktion einer Kelchstütze dauern. Bis zu 500 Kubikmeter gekrümmter und geschwungener Stahlbeton pro Stütze, neun bis zwölf Meter hoch, maximal 27 Meter Durchmesser, 36 Meter von Kelch zu Kelch.

Die erste Kelchstütze ist allerdings nur ein Versuchsballon, der keine schwere Lasten tragen wird. Der Prototyp soll Aufschluss über Materialeigenschaften geben, was sich am Computer nicht simulieren lässt. Im weiteren Bauablauf wird er wieder abgebrochen.

Doch schon längst ist das Provisorium, auf das sein geistiger Schöpfer Ingenhoven voller Stolz blickte, für die Projektkritiker zu einem weiteren Menetekel des Superbahnhofs geworden. Denn die formschöne Konstruktion kostet mehr Zeit als gedacht und offenbar auch mehr Geld als kalkuliert. Etwas Vergleichbares gebe es auf der Welt in architektonischer Hinsicht nicht, meinte Staringenieur Werner Sobek, der die Statik der Bahnhofshalle verantwortet, während einer Podiumsdiskussion. "Das ist das Komplizierteste, was wir je gemacht haben", bestätigt ein Eisenbieger, der zusammen mit Kollegen monatelang auf dem Konstrukt herumturnte, bis alle Streben absolut exakt saßen.

Zudem steht die erste Kelchstütze auf "tönernem Boden". Die Bahn hat keine Genehmigung vom Eisenbahn-Bundesamt, die bis zu 2,50 Meter dicke Bodenplatte der Bahnsteighalle zu betonieren. Es fehlt ein wichtiger Nachweis zur Erdbebensicherheit, wie die Bahn zwei Tage nach der Enthüllungszeremonie einräumen musste. Bislang wurden nur Bohrpfähle für die Stützen gesetzt. Die Stützen selbst können vorerst nicht gebaut werden.

Vieregg lag schon einmal richtig

Derartige Schwierigkeiten können nicht spurlos an den Projektkosten vorbeigehen, sagt Verkehrsplaner Vieregg, der eine frühere Kostenkalkulation für Stuttgart nun im Auftrag des S-21-Aktionsbündnisses fortschrieb. Bereits im Jahre 2008, als offiziell noch 2,9 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof kommuniziert wurden, hatte Vieregg ein Kostenvolumen von mindestens 6,8 Milliarden Euro für S 21 prognostiziert. Eine Punktlandung: Die damals von Bahn und Politik vehement bestrittenen Zahlen haben sich inzwischen voll bestätigt. Seither hätten sich "einige Annahmen und Ausgangsdaten deutlich verändert", schreibt Vieregg im neuen Gutachten.

Die aktuelle Berechnung geht vor allem von steigenden Kosten für die unterirdische Bahnhofshalle aus. Das kelchgestützte Bauwerk soll sich um mehr als 900 Millionen Euro verteuern. Statt 757 Millionen Euro wird der Lichtaugen-Halt im Talkessel rund 1,6 Milliarden Euro kosten. "Aus den Planfeststellungsunterlagen war die Komplexität und der Schwierigkeitsgrad des Bahnhofsbauwerks nicht ersichtlich", sagt Vieregg. Vor sieben Jahren sei er von einem Standardbauwerk mit eher niedrigen Rohbaukosten von 320 bis 400 Euro pro Kubikmeter ausgegangen. Inzwischen hätte sich das Gegenteil anhand von Umplanungen und Verzögerungen offenbart.

Nicht zuletzt seien die Kelchstützen gerade keine Standardbauwerke, da die geschwungene Form schwierig zu gießen ist und durch die geringe Zahl der Stützen hohe Punktlasten entstehen. Eine Untersuchung der Mehrkosten der Hamburger Elbphilharmonie zeige, dass der Löwenanteil der Mehrkosten der besonderen Architektur des Bauwerks geschuldet ist: So müssen viele Einzelteile, die üblicherweise "von der Stange" kostengünstig gekauft werden, speziell angefertigt werden, weil die Einzelteile keine Standardmaße aufweisen. Bei der extravagant gestalteten Oper in Sydney wurde die ursprüngliche Kostenkalkulation um den Faktor 15 übertroffen, erwähnt Vieregg.

Dies rechtfertige, für den Tiefbahnhof Rohbaukosten von 650 bis 800 Euro pro Kubikmeter anzunehmen. Für das Bahnhofsdach setzte Vieregg nun nicht mehr 1200, sondern 4800 Euro pro Quadratmeter an. "Was genau die Kelchstützen kosten werden, ist nicht wirklich bekannt, weil man sich momentan noch in der Experimentierphase befindet und die Gründung noch nicht sichergestellt ist", betont Vieregg weitere Unsicherheiten.

Mit spürbar steigenden Kosten rechnet der Verkehrsplaner auch bei den überwiegend unterirdischen südlichen Zulaufstrecken des Tiefbahnhofs auf den Fildern, vor allem für den Brandschutz im Flughafenbahnhof und für dessen Anbindung an die Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm. Zusätzliche Kosten verursache auch das "dritte Gleis", also der um einen eingleisigen Bahnhof für die Gäubahn erweiterte Bauabschnitt am Stuttgarter Flughafen.

Das Ergebnis des Gutachtens schaffe eine grundsätzlich "neue Lage", resümiert Eisenhart von Loeper vom S-21-Aktionsbündnis: "Der Ausstieg aus Stuttgart 21 ist jetzt unaufschiebbar!" Dringend empfiehlt er einen Baustopp, "um ehrlich Inventur zu machen bei den Kosten". In einer ersten Reaktion von politischer Seite forderte Bernd Riexinger, Bundesvorsitzender der Linken und Spitzenkandidat bei der baden-württembergischen Landtagswahl, ein sofortiges Ende des Bahnhofsprojekts.

DB beharrt auf 6,5 Milliarden Euro Baukosten

Die Deutsche Bahn wies das Vieregg-Gutachten als "nicht haltbare Spekulation" zurück und geht weiter von 6,526 Milliarden Euro Baukosten aus. Aufgrund des bereits weit fortgeschrittenen Stands der Vergaben seien die eigenen Kostenkalkulationen plausibel. Derzeit sei auch kein Bauabschnitt im Verzug, wird Peter Sturm, einer der drei Geschäftsführer der Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm, in mehreren Zeitungen zitiert. Wer die Geschichte des Bahnprojekts kennt, fühlt sich an <link https: www.youtube.com external-link-new-window>frühere Dementis zu Kostenexplosionen und Bauverzögerungen erinnert.

Sollten die Kritiker Recht behalten und Stuttgart 21 etwa zehn Milliarden Euro kosten, wäre das eines der teuersten Einzelbauvorhaben in der Geschichte der Bundesrepublik. Es würde sogar fast doppelt so viel kosten wie der Berliner Großflughafen BER, für den inzwischen 5,3 Milliarden Euro veranschlagt werden.

Im Berliner Bahn-Tower glaubt Bahnchef Grube derweil unverdrossen an eine gute "Zukunft Bahn". Mit einem gleichnamigen Programm, das pünktliche Züge, zuverlässige Reiseinfos sowie stabilen Internet- und Telefonempfang unterwegs garantieren soll, will man verlorenes Terrain zurückgewinnen. In den vergangenen Monaten sei fast jeder Stein in der DB umgedreht worden. "Konsequent für unsere Kunden – wir räumen auf und greifen an", so Grube. Beim Bahnhofsbau in Stuttgart müssen noch jede Menge Steine bewegt werden.


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6 Kommentare verfügbar

  • Zaininger
    am 28.12.2015
    Antworten
    Fehlt nur noch, dass die SPD, die sich schon bei der geplanten Daimler-Benz-Teststrecke im Hohenlohischen als konzernhöriger, umweltfeindlicher und tendenziell anti-basisdemokratischer Verein erwiesen hatte, nun jede zusätzliche Milliarde für S21 als Super-Investitionsprogramm lobt.
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