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IBM lässt Tochter sterben

IBM lässt Tochter sterben
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Der Computerriese IBM beerdigt seine schwäbische Tochtergesellschaft EAS. Die betroffenen Arbeitnehmer sind schockiert, ihr Betrieb wird ersatzlos eingedampft – in der Tradition des US-Unternehmens ein vollkommen normaler Vorgang.

Wer nur einen einzigen Kunden als Auftraggeber hat, steckt in einer unternehmerischen Abhängigkeitsfalle. Auch wenn der einzige Kunde der Mutterkonzern ist, kann die nährende Brust abrupt und mit tödlichen Folgen versiegen. Diesen fatalen Liebesentzug durchleiden gerade die rund 100 Mitarbeiter der IBM-Deutschland-Tocher Enterprise Application Solutions GmbH (EAS) aus Ehningen im Landkreis Böblingen, die für ihr Mutterhaus die interne Datenverarbeitung erledigen.

"Wir haben irgendwie damit gerechnet, doch als es so weit war, hat es uns trotzdem kalt erwischt", sagt eine von der Kündigung bedrohte IBMlerin, die nach über 30 Jahre Unternehmenszugehörigkeit vor dem beruflichen Aus steht. Die Jobs wandern wohl nach Mexiko, China oder Indien. Bislang gab es für die EAS-Mitarbeiter kein Übernahmeangebot für eine andere IBM-Gesellschaft. Es droht mit Ende 50 der bittere Gang in die Arbeitslosigkeit. Kein Einzelfall. Bei EAS programmieren viele Frauen zwischen 45 und 60, und das in Teilzeit. Schlechte Voraussetzungen, um einen neuen, vergleichbaren Job zu bekommen.

Auf den Spuren von Charles Darwin

Für viele IBMler trifft die EAS-Schließung auch deshalb einen Nerv, weil sie sich im Jargon der Company mit dem blauen Schriftzug als "tiefblau" empfunden haben. Dass "Mother Blue" nun lang gediente Mitarbeiter so brüsk vor die Tür setzt, wird als Kulturbruch gewertet, womöglich sogar als Blaupause für weitere Auslagerungen und Betriebsstilllegungen innerhalb der IBM-Welt, wo man sich weithin als eine Art Familie empfindet.

Dabei zeichnen vermeintliche Kulturbrüche die Geschichte des über 100 Jahre alten Unternehmens aus. Für Experten ist dies sogar das Geheimnis des Überlebens dieses IT-Dinosauriers. Mit "Disruption" umschreiben Beobachter der digitalen Welt den Umbruch innerhalb von Branchen. Neue Wettbewerber mischen demnach die alten Platzhirsche regelmäßig auf, überrumpeln die satten, sich als unbesiegbar wähnenden Branchenführer wie IBM. Doch bevor sich IBM von Wettbewerbern überrumpeln lässt, besorgt IBM das Überrumpeln lieber selbst.

Die wissenschaftliche Grundlage für diese Methode der Disruption hat der Hochschullehrer Clayton Christensen gelegt. Harvard-Professor Christensens Hauptwerk "The Innovator's Dilemma" von 1997 wird zu den einflussreichsten Publikationen der Nachkriegszeit gezählt. Er wandelt ein Stück weit auf den Spuren von Charles Darwin, wonach "nicht die stärkste oder intelligenteste Art überlebt, sondern die wandlungsfähigste". Die Unternehmen sind Christensen zufolge Getriebene – und zwar nicht aus eigenem Antrieb oder wegen der Genialität ihrer Manager, sondern Getriebene durch die sich permanent verändernden Kundenwünsche.

Christensen beschreibt am Beispiel der Festplattenindustrie die Entwicklungsgeschichte eines sich permanent verändernden Wirtschaftszweiges. In der Hauptrolle: IBM. So hat der Konzern in Kalifornien in den frühen 50er-Jahren die Mutter aller Platten entwickelt. Kühlschrankgroß mit einer Kapazität, die heute ein einzelnes Handyfoto beansprucht. Es folgte die transportable Platte, gefolgt von der biegsamen Floppy Disk bis zum Winchester-Laufwerk in den 70er-Jahren. Die Datendichte stieg in den Jahren exponentiell an, und nur die wenigsten Unternehmen hielten den Innovations- und Preisdruck aus. So teilten sich Mitte der 70er-Jahre rund ein Dutzend Firmen den Festplattenmarkt. Übrig geblieben ist nur IBM. Von den späteren Neugründungen blieb nur rund jede zehnte übrig. Und der siegreiche Riese IBM? Der Überlebenskünstler hat die Sparte an Hitachi verkauft. Auch die Festplattenleute bei IBM empfanden sich als tiefblau, was sie nicht vor einem Ausverkauf bewahrt hatte. 

Ob tiefblau oder hellblau – die Jobs sind immer gefährdet

Nun erwischt es mit EAS auch tiefblaue IBMler in Deutschland. Die "Hellblauen" waren hierzulande schon seit jeher Spielball unternehmerischer Hau-ruck- und Hau-raus-Entscheidungen. Unter dieser Farbe firmierten alle diejenigen IBMler, die für andere Unternehmen die IT managen. So übernahm in den 90er-Jahren IBM die komplette IT-Sparte des Schweinfurter Industrie-Platzhirschs FAG Kugelfischer. Ein spektakulärer Premierenfall für das damals noch reichlich unbekannte Phänomen Outsourcing. 2005 machte IBM den Laden in Unterfrankens Industriemetropole dicht. Die Jobs wanderten ins Ausland ab.

Wie unromantisch der blaue Riese mit seinen eigenen Traditionen und seiner gelebten Unternehmensphilosophie umzugehen weiß, lässt sich auch in Stuttgart-Vaihingen sehr anschaulich besichtigen. Dort wird gerade das von der Architekturlegende Egon Eiermann entworfene ehemalige IBM-Hauptquartier an einen Investor verramscht. Seit Jahren verrottet das Campusgelände. IBM hatte 2009 endgültig das Gelände verlassen und verkauft. Die Stadt Stuttgart zeigte sich außerstande, ein vernünftiges Nutzungskonzept für das Areal zu entwickeln. Die Campusarchitektur gilt als hoffnungslos überholt.

Dabei hatte IBM 1996 auf dem Gelände einen historischen Kampf gezeigt und ein Stück Firmengeschichte geschrieben. Hier demonstrierte das Unternehmen mit dem Rechner Deep Blue die Überlegenheit der Maschine gegenüber dem Menschen, indem sie den Rechner gegen den Schachweltmeister Garri Kasparov antreten ließ. Der Werbeeffekt war enorm. Der Rechner hatte die heute lächerlich anmutende Summe von fünf Millionen Dollar gekostet. Die Live-Übertragung aus den USA fesselte auch im deutschen Hauptquartier die Tiefblauen. Kasparov verlor am Ende mit Schwarz. Und IBM zerlegte den Computer. Nur Einzelteile stehen heute in Museen im kalifornischen Palo Alto und Washington. IBM war an dem Rechner nicht mehr interessiert.

Zu den aktuellen Vorgängen äußert sich das Unternehmen auf Anfrage nur spärlich: "Das Management der IBM Enterprise Application Solutions GmbH hat die Mitbestimmungsgremien aufgefordert, in Verhandlungen einzutreten, und den betroffenen Mitarbeitern die Absicht mitgeteilt, die IBM EAS GmbH zu schließen", erklärt IBM-Pressesprecher Hans-Jürgen Rehm. Zu internen Vorgängen äußere sich das Unternehmen aus Vertraulichkeitsgründen nicht öffentlich.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ralf Kiefer
    am 14.10.2015
    Antworten
    Betrachten wir die Situation pragmatisch: viele Politiker und auch Lobbyistenvereine wie die Bitkom beklagen seit Jahren einen Fachkräftemangel [1]. Jetzt tut mal einer, hier IBM, was dagegen, und schon gibt es Kritik.


    [1] Hintergrund: außer diesen sieht den keiner.
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