KONTEXT:Wochenzeitung
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Die Magie der Zahlen

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Nach dem Ausscheiden des umstrittenen S-21- Projektsprechers Wolfgang Dietrich soll alles besser werden. Vor allem der Wahrheitsgehalt der Informationen. Daran darf man Zweifel haben – nach den jüngsten Erfolgsmeldungen des Kommunikationsbüros zu Stuttgart 21.

Auf der Straße skandierten Zehntausende "Lügenpack", im Landtag drückten Projektkritiker sich vornehmer aus. "Die Bürgerinnen und Bürger haben inzwischen jedes Vertrauen in die Aussagen und Versprechungen in Sachen Stuttgart 21 verloren, wenn sie tagtäglich erfahren, dass der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen eine immer kürzere Halbwertszeit hat. [...] Ehrlichkeit und Transparenz sind aber der erste Schritt, wenn man mit den Bürgern und der Protestbewegung in einen Dialog treten will", moniert Winfried Kretschmann im September 2010, damals noch Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Landtag. Wenige Tage nach Kretschmanns Kritik präsentierte der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) den Unternehmer Wolfgang Dietrich neben Ex-Regierungspräsident Udo Andriof als neuen Sprecher des Tiefbahnhofprojekts. Als eine der ersten Aufgaben mussten Dietrich und das Kommunikationsbüro des Projektvereins den Schwarzen Donnerstag kommentieren.

Viel mehr Transparenz gewährten Bahn und Kommunikationsbüro auch nicht nach der Landtagswahl im März 2011, aus der Grün-Rot als Sieger mit Kretschmann als neuem Ministerpräsidenten hervorgingen. Die "Kampfrhetorik" des inzwischen allein amtierenden Sprechers Dietrich sowie ein koalitionsinterner Streit um einen Ausstieg aus Stuttgart 21 veranlassten die Regierung im Herbst 2011 dazu, die Mitgliedschaft des Landes im Verein Bahnprojekt Stuttgart–Ulm e. V. ruhen zu lassen.

Ins Leben gerufenen wurde der Verein im Jahr 2009 von den Projektpartnern, um die Einwohner von Land und Landeshauptstadt "aktiv und umfassend" über das Bahnprojekt zu informieren. So sagt es die Satzung. Im Gründungsjahr ging auch <link http: www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de aktuell _blank>das Kommunikationsbüro an den Start, als Anlaufstelle für die Kommunikation nach außen und Gesprächspartner von Medien, Politik und Verbänden. Zum Verein gehört auch das Turmforum Bahnprojekt Stuttgart–Ulm, das eine im Juni 1998 eröffnete Ausstellung auf mehreren Ebenen im Stuttgarter Bahnhofsturm betreibt.

Die doppelte Leistungsfähigkeit ist inzwischen verschwunden

Knapp vier Jahre bemühte sich Wolfgang Dietrich als Sprecher und Vereinsvorsitzender, die Vorteile eines tiefergelegten Hauptbahnhofs der Öffentlichkeit zu vermitteln. Mitunter auch durch Aussagen, die sich im Laufe der Zeit als falsch erwiesen. So ist das Versprechen der doppelten Leistungsfähigkeit mittlerweile aus Werbebroschüren und Ausstellungen verschwunden. Lange kommunizierte Dietrichs Büro weiter den S-21-Kostendeckel von 4,5 Milliarden, obwohl sich bereit 2012 abzeichnete, dass dieser durch die Decke gehen würde. "Auch fast drei Jahre nach dem offiziellen Baubeginn liegt das Projekt dabei im vertraglich vereinbarten Budget", bekräftigte Projektsprecher Dietrich noch im Juli 2013 in einer Antwort auf der Bürgerplattform "Direktzu Stuttgart 21". Nach dem für die Bahn katastrophal verlaufenen Erörterungsmarathon zur Planfeststellung der Flughafenanbindung im Herbst vergangenen Jahres kündigte Dietrich seinen Rückzug zum Jahreswechsel an.

Seit Anfang Februar nun ist der 66-jährige Georg Brunnhuber, einstiger CDU-Bundestagsabgeordneter und Mitte 2010 von Bahnchef Rüdiger Grube 2010 als Cheflobbyist ins Unternehmen geholt, neuer Vereinsvorsitzender. Der Personalwechsel war offenbar Bedingung für die Rückkehr des Landes als aktives Vereinsmitglied. Ohne Dietrich können auch S-21-kritische Grüne wie Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn mit der Institution leben.

Letztlich erleichterte auch eine neue Geschäftsverteilung dem Land die Entscheidung. So übernimmt die Bahn künftig selbst die Kommunikation für den Bau des milliardenschweren Stuttgarter Eisenbahnknotens sowie der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Ulm – womit bei eventuellen Pannen und Preisexplosionen Politiker außen vor bleiben und allein Manager und Bauleiter des Konzerns ihren Kopf hinhalten müssen. Dem Verein, seinem neuen Vorsitzenden und den Projektpartnern als Vorstandsmitgliedern bleiben weitaus harmlosere Aufgaben, etwa der Betrieb des Turmforums, die Organisation von Baustellenführungen und allgemeine Öffentlichkeitsarbeit.

Das Internetportal muss ungeheuer attraktiv sein

Als zentrale Informationsplattform soll weiter das Internetportal www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de dienen. Im vergangenen Jahr wurden knapp vier Millionen Seiten des Portals aufgerufen, vermeldete das S-21-Kommunikationsbüro erst kürzlich stolz. Allein im Januar 2015 seien 66 244 Besuche und 482 455 Seitenaufrufe registriert worden. Von 2009 bis heute hätten vier Millionen Besucher auf 17 Millionen Seiten zugegriffen. Jeder Besucher habe sich im Schnitt fünfeinhalb Minuten lang informiert.

Kontext macht die Nagelprobe, ob neue Besen bei Stuttgart 21 auch ehrlicher kehren. Mit Hilfe des "Traffic-Tools" Similarweb, das Besuche, Seitenaufrufe, Verweildauer und Absprungraten von Internetadressen registriert. Das Ergebnis: Similarweb verzeichnet beim Stuttgart-21-Portal eine deutlich geringere Nutzung als das Kommunikationsbüro. Beispielsweise nur 25 000 Visits (Besuche) im vergangenen Januar. Auch verweilten die Besucher nur 3 Minuten und 43 Sekunden und riefen im Schnitt lediglich 3,31 Seiten (page views) auf. Auf die Differenz angesprochen, verweist das Kommunikationsbüro darauf, die Daten vom Traffic-Tool "Google Analytics" zu beziehen. "Ein Nutzer kann das Internetangebot ja durchaus mehrfach in Anspruch nehmen", versucht ein Sprecher die Unterschiede zu erklären. 

Eine weitere Erfolgsmeldung des Kommunikationsbüros lässt ebenfalls Zweifel aufkommen: Neuer Besucherrekord 2014 im Turmforum! Demnach sollen sich im vergangenen Jahr über 230 000 Gäste die Ausstellung im Bahnhofsturm angeschaut haben, was "das ungebrochene Interesse am Bahnprojekt Stuttgart–Ulm" verdeutlicht", jubelte das Büro. Ein Ansturm, auf den auch der neue Vereinsvorsitzende Brunnhuber stolz ist. "Damit haben wir nach dem Mercedes- und dem Porschemuseum die dritthöchsten Besucherzahlen", betonte er nach seinem Amtsantritt. 

Doch stimmen die Rekordwerte für die Bahnhofsschau, die in 2013 angeblich noch Platz sechs im Stuttgarter Museums-Ranking erreichte? Kann eine thematisch eng umrissene Ausstellung (Slogan: "Bei uns verstehen Sie Bahnhof. Und noch einiges mehr.") international bedeutende Museen wie die Stuttgarter Staatsgalerie auf die hinteren Plätze verdrängen?

Aktuelle Zahlen des städtischen Statistikamts zeigen, dass im vergangenen Jahr die Mercedes-Benz-Welt mit 711 330 Besucher (2013: 702 027) unangefochten Publikumsmagnet unter den Stuttgarter Museen war. Den zweiten Platz belegte ein weiteres Auto-Museum: das Porsche-Museum mit 410 658 Besuchern (2013: 401 119). Dahinter folgt das Turmforum mit Stuttgart 21. Die 2013 noch drittplazierte Staatsgalerie verlor an Zuspruch. Gemälde und Plastiken vom 14. bis zum 21. Jahrhundert wollten "nur" 221 284 Besucher (2013: 248 389) sehen. Rückgänge gab es auch beim Württembergischen Landesmuseum, das 204 351 Besucher zählte (2013: 241 560), und bei den staatlichen Naturkundemuseen mit 194 903 Besuchern (2013: 216 389).

Das Turmforum muss sich vor Besuchern kaum retten können

Um die Rekordmarke zu erreichen, müssten im Schnitt täglich fast 650 Menschen, stündlich mehr als 70 die Bahnhofsausstellung besucht haben. Ist solch ein Zulauf realistisch? Am vergangenen Dienstagmittag zählte Kontext in einer Stunde nur ein Dutzend Interessierte, von denen kaum einer die eigentliche Ausstellung sehen wollte. Die meisten Besucher nahmen den Lift direkt in den 9. Stock, um den Rundblick vom Bahnhofsturm zu genießen. Einige gönnten sich ein Mittagessen im Turmrestaurant im 8. Stockwerk. Gähnende Leere herrschte dagegen in den vier Ausstellungsebenen darunter. "Die Leute sind tagsüber bei der Arbeit", so ein Turmforums-Mitarbeiter. "Wenn es gut läuft, kommen heute maximal 200 Besucher", so seine Schätzung.

Über den Verkauf von Eintrittskarten erfassen Stuttgarts Museen und Ausstellungen die Gästezahl. Das Turmforum verlangt keinen Eintritt. "Die Besucher, die die Treppen des Turms besteigen oder mit Aufzügen hinauffahren, werden von den Mitarbeitern an der Informationstheke erfasst und gezählt", versichert ein Sprecher auf Kontext-Anfrage. "Die Peaks bei den Besuchen sind in den Nachmittagsstunden sowie an den Wochenendtagen Samstag und Sonntag", erklärt er.

Immer wieder werden mediale Manipulationen mit Zahlen aufgedeckt. So sorgte im vergangenen Jahr die manipulierte Leserwahl des Lieblingsautos beim ADAC für einen Skandal. Die Teilnehmerzahlen für den "Gelben Engel" waren geschönt wie auch die Reihenfolge der Gewinnermodelle verändert worden. Vorwürfe, "unsaubere" Zahlen zu veröffentlichen, gibt es auch gegen die Bauherrin von Stuttgart 21 und Betreiberin des Stuttgarter Kommunikationsbüros, die Deutsche Bahn. Der Konzern in Staatsbesitz gilt als Meister "geschickter" Öffentlichkeitsarbeit, etwa beim Thema Zugpünktlichkeit.

Immer schön ruhig bleiben – auch die Züge fahren pünktlich

Seit August 2011 veröffentlicht der Konzern monatliche Pünktlichkeitsstatistiken, die mehr als 800 000 Personenzugfahrten abbildet. Laut aktueller Pressemitteilung der Bahn sind die Züge erfreulich pünktlich ins neue Jahr gestartet, trotz zahlreichen wetterbedingten Streckensperrungen, Ausfällen und Verspätungen. "Der Fernverkehr verzeichnete einen erfreulich guten Pünktlichkeitsdurchschnitt von über 81 Prozent, der gesamte DB-Personenverkehr sogar über 95 Prozent", so die offizielle DB-Mitteilung.

Schaut man genauer hin, ergibt sich ein anderes Bild. Ob Züge fahrplanmäßig verkehren, erfahren Reisende anhand der Prozentangaben zur "5-Minuten-Pünktlichkeit" sowie zur "15-Minuten-Pünktlichkeit". Beide Kategorien sind jedoch ein gewisser Etikettenschwindel. Denn einen Halt wertet die Bahn noch als "pünktlich", wenn die planmäßige Ankunftszeit um weniger als 6 beziehungsweise 16 Minuten überschritten ist. "Die 5-Minuten-Definition kommt noch aus der Zeit der Bahnhofsuhren ohne Sekundenzeiger. Dementsprechend endete am Bahnsteig die 5. Minute "optisch" erst mit dem "Zeigersprung" auf die 6. Minute nach Ankunft eines Zuges", sagt die Bahn. Bei 800 000 Fahrten im Monat beeinflussen 59 Sekunden mehr oder weniger jedoch gewaltig das Ergebnis.

Fahrgastverbände und Verkehrsclubs üben weitere Kritik. So tauchen ausgefallene Züge in der Statistik nicht auf. Die Bahn argumentiert, kein sinnvolles mathematisches Modell für sie hinterlegen zu können. Zudem fielen Ausfälle kaum ins Gewicht. Die "Erfüllungsquote" aller täglich fast 27 000 Personenzüge läge bei über 99 Prozent im Jahresschnitt. "Eine theoretische Einbeziehung der wenigen ausfallenden Züge würde für die Gesamtpünktlichkeit keine wesentliche statistische Abweichung bedeuten", glaubt die Bahn.

"Ausgefallene Züge können sehr wohl als verspätet gelten, und zwar mit einer Zeit, die dem aktuellen Taktabstand entspricht", sagt dagegen Ulli Fetzer, einer der Initiatoren des Informationsportals www.s-bahn-chaos.de, das einen Verspätungsmonitor für die S-Bahn Stuttgart betreibt. Demnach müssten ausgefallene S-Bahnen mit 30 oder 15 Minuten Verspätung in die Statistik einfließen. Ausgefallene Züge im Regional- und Fernverkehr je nach Taktgebiet sogar mit bis zu zwei Stunden. 


Seit April 2009 stellt die Bahn auf <link http: www.bahn.de _blank>www.bahn.de aktuelle Ankunfts- und Abfahrtszeiten für jeden Zug ein. Wie pünktlich die Züge in den vergangenen Tagen unterwegs waren, erfasst bundesweit das Portal <link http: www.zugfinder.de _blank>www.zugfinder.de. Die Pünktlichkeit der S-Bahn in der Region Stuttgart dokumentiert die Plattform <link http: www.s-bahn-chaos.de _blank>www.s-bahn-chaos.de.


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7 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Hermes
    am 01.03.2015
    Antworten
    Beeindruckend, die Ausstellung im Turmforum … In der obersten Ausstellungetage eine Dauerbeschallung durch lebensgroße, virtuelle Sprechklone. Egal ob IHK-Geschäftsführer, Student, Hausfrau oder Messe-Chef: Mit nahezu identisch ausgestanzten Worthülsen preisen sie die Vorzüge der zukünftigen…
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