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Die Macho-Branche boomt wieder

Die Macho-Branche boomt wieder
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Es ist, als wäre nie etwas gewesen: kleinere Autos, spritsparend, umweltschonend. Scheinbar eine Debatte von gestern. Die Konzerne setzen auf Groß und Stark, die Autoindustrie kommt wieder als kraftstrotzende Macho-Branche daher.

Es war Mitte Januar 2015, als der Daimler-Chef Dieter Zetsche ganz Amerika zum S-Klasse-Land erklärte: "In Amerika ist ja ohnehin alles größer, ob es jetzt Steaks sind oder Grundstücke. Wenn sich hier die Leute leisten können, größere Autos zu kaufen, dann tun sie es auch." Nachzulesen in der FAZ vom 14. Januar.

Sie tun es. Sie kaufen wieder Autos. Sie kaufen vor allem große: SUVs, Pick-ups, Sportwagen, Spritfresser. Und sie tun es weltweit. Anfang 2015 sieht es so aus, als habe es nie eine Krise der Branche gegeben. In diesem Jahr 2015 könnte die weltweite Produktion auf 95 Millionen Kfz klettern – 50 Prozent mehr als vor fünf Jahren oder 30 Prozent mehr als beim vorausgegangenen Rekordniveau im Jahr 2007.

Der neue Boom wird durch zwei Faktoren gespeist. Erstens durch das anhaltende Wachstum im neuen Maschinenraum des Weltkapitalismus, in der VR China, und der beschleunigten Motorisierung, die in diesem Land mit seinen 1,36 Milliarden Menschen stattfindet. Zweitens durch den dramatischen Verfall des Ölpreises und damit durch die Senkung der Kosten für Benzin- oder Diesel-Kraftstoff.

Wieder einmal ist das Gerede von den "grünen Alternativen" und von "nachhaltiger Mobilität", mit denen wir einige Jahre lang abgefüttert wurden, vergessen. Verflogen sind Schlagzeilen wie die folgende, die nicht einmal ein Jahr alt ist: "Luftverschmutzung: Frankreichs Regierung verhängt ein Fahrverbot für Paris. Europa befürchtet ein neues Smog-Zeitalter – Experten sprechen von 30 000 Toten." Nachzulesen im "Handelsblatt" vom 18. März 2014.

Selbst die FAZ fühlt sich um Jahre zurückversetzt

Auf der Automesse in Detroit im Januar 2015 – wie kurz zuvor auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas, und wie in Ansätzen auch bereits auf dem "Autosalon in Paris" im Oktober 2014 – präsentierte sich die PS-Industrie wie in den 1960er- und 1970er-Jahren: als kraftstrotzende Macho-Branche. In einem Bericht der FAZ heißt es hierzu: "Als die Show in Detroit begann, fühlte man sich auf einmal um Jahre zurückversetzt. Denn bei den Neuheiten, die auf die Bühne kamen, drehte sich wirklich alles um Leistung und dröhnende Motoren. Die Palette reicht vom übergroßen Pick-up bis zum Supersportwagen."

Die internationale Autoindustrie hatte bereits 1974/1975 und 1980 bis 1982 zwei schwere Strukturkrisen erlebt. Beide Male war ihnen ein Ölpreisanstieg vorausgegangen. 2008/2009 erschütterte eine dritte, schwere Branchenkrise diesen weltweit wichtigsten Industriezweig. Auch dieses Mal hatte es im Vorfeld ein Rekordhoch beim Ölpreis gegeben; 148 US-Dollar je Barrel Rohöl waren da zu zahlen. In dieser jüngsten Krise war die weltweite Kraftfahrzeugproduktion so stark wie nie zuvor eingebrochen – von 73,1 Millionen im Jahr 2007 auf 56,3 Millionen Einheiten. Und dies, obgleich in China die Produktion weiter gesteigert wurde. Dieser Einbruch war bislang einmalig – und entsprechend einmalig waren die Krokodilstränen der Daimler-, VW- und Fiat-Chrysler-Bosse Dieter Zetsche, Ferdinand Piech und Sergio Marchionne, die dem Publikum gut drei Jahre lang erklärten, die Autoindustrie werde in Zukunft grün, sparsam und nachhaltig werden.

Interessant ist bei einem Vergleich der drei Krisen, dass in allen drei Fällen dasselbe Wundermittelchen gereicht wurde und es hieß, jetzt werde man auf Elektro-Pkw umsteigen und massiv in diese Alternative investieren.

Und was hat sich geändert? Warum gibt sich die Autobranche wieder exakt so, wie sie immer war und ist, als PS-Maschine, die sich ohne Rücksicht auf Stadt, Land und Mensch in immer größerem und gewalttätigerem Umfang ausbreitet? Richtig – es änderte sich genau das, was sich auch am Ende der vorausgegangenen Branchenkrisen 1975 und 1982 änderte: Der zunächst relativ hohe Ölpreis sank und sank. Und er sinkt und sinkt. Ende Januar 2015 ist er bei weniger als 45 US-Dollar je Fass angelangt. Dieser Preis entspricht einem Drittel des Rekordpreises vor der letzten Krise. Mit solchen drastischen Rückgängen des Ölpreises konnten bislang alle drei Krisen beendet und in jeweils einen neuen Boom überführt werden. Und damit konnte bislang immer wieder die weiterhin berechtigte Kritik von Umweltverbänden weggefegt werden.

Doch so erstaunlich und beeindruckend die jüngste Erholung ist, so kam es in den vergangenen Jahren doch zu dramatischen Veränderungen in der Struktur der internationalen Autoindustrie. Tabelle 1 liefert die entsprechenden Fakten.

Bis zur letzten Krise 2007/2008 wurden knapp 60 Prozent aller Kraftfahrzeuge, die weltweit hergestellt wurden, in Europa, in den USA und in Japan gefertigt. Einschließlich der südkoreanischen Autoindustrie waren es sogar knapp zwei Drittel. Inzwischen entfallen nur noch 42 Prozent auf die USA, Europa und Japan; einschließlich Südkoreas sind es 47 Prozent.

Stattdessen rückte China zum Land mit der größten Autoindustrie auf. Ein Viertel der weltweiten Fertigung findet inzwischen in China statt; zusammen mit Indien sind es 30 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 machte die Autofertigung in China nur 3,5 Prozent aus; zusammen mit Indien waren es knapp fünf Prozent. Einen vergleichbaren Aufstieg einer regionalen Branche – die Verachtfachung des Weltmarktanteils im Zeitraum von einem Dutzend Jahren – dürfte es in der Geschichte des Kapitalismus noch nie gegeben haben. Und dieser Trend wird sich fortsetzen. 2015 dürften in China mehr Kraftfahrzeuge als in den USA und Europa zusammen hergestellt werden.

Das Bild ist noch dadurch geschönt, dass es aktuell in den USA einen Boom gibt. Immerhin wurden 2014 in den USA wieder doppelt so viele Autos produziert wie 2010. Geradezu desaströs sieht es hingegen in fast allen klassischen europäischen Autoherstellerländern aus. 

In Großbritannien und in Spanien liegt die Autofertigung heute um 20 Prozent unter dem Niveau von 1999; der Weltmarktanteil der Kfz Made in UK bzw. Made in Spain hat sich von 3,5 auf 1,8 Prozent bzw. von 5,1 auf 2,5 Prozent halbiert. In Frankreich gab es im gleichen Zeitraum sogar eine knappe Halbierung der absoluten Zahl hergestellter Kfz – von 3,2 Millionen im Jahr 1999 auf 1,7 Millionen 2013. Der Weltmarktanteil sank von 5,6 auf 1,9 Prozent oder auf ein Drittel.

Geradezu dramatisch ist die Lage in Italien, wo Fiat-Boss Sergio Marchionne nicht müde wird zu erklären, dass Italien als Autoland abgedankt habe. Das Land mit so berühmten Marken wie Fiat, Alfa Romeo, Lancia, Ferrari und Maserati erlebte einen Einbruch der Autofertigung von 1,7 Millionen im Jahr 1999 auf nur noch 658 000 im Jahr 2013. Damit sank der Anteil Italiens an der Weltautofertigung von drei Prozent auf 0,8 Prozent. Deutschland und die Tschechische Republik sind die einzigen europäischen Länder, in denen im genannten Zeitraum das Niveau der Autoproduktion weitgehend erhalten blieb.

Die Zahl der Arbeitsplätze bleibt stabil – wegen China

Womit wir bei dem Totschlagargument "Arbeitsplätze" wären. Trotz des gewaltig angestiegenen Volumens der Weltautoproduktion blieb ihre Zahl über mehr als 70 Jahre weitgehend unverändert. In diesem strategisch wichtigsten Wirtschaftszweig arbeiten derzeit knapp zehn Millionen Menschen. Allerdings gibt es erhebliche Verschiebungen dieser Jobs weg aus Europa und Nordamerika und hin nach China, Indien und zeitweilig auch nach Brasilien. Der Grund für diese stabile Zahl liegt in den Produktivitätsfortschritten und darin, dass sich das Autobauen ideal für halb automatisierte Fertigung und den massenhaften Einsatz von Industrierobotern eignet.

Untersucht man schließlich die Macht der Autokonzerne, so ergibt sich ein anderes Bild. Die folgende Tabelle 3 nennt für die Jahre 2005, 2009 und 2013 die 20 größten Autoproduzenten. Dabei sind die verschiedenen Marken bereits den jeweiligen Konzernen zugeordnet: VW als Konzern meint heute nicht nur Volkswagen, sondern auch Audi, Porsche, Phaeton, Seat, Skoda, Lamborghini, Scania, MAN, Ducati, Bugatti und Bentley. Fiat schließt Lancia, Alfa Romeo, Chrysler, Jeep und Dodge mit ein. Zu Hyundai gehört auch Kia. Zu General Motors zählen Daewoo, Chevrolet, Opel, Holden, Vauxhall. Eher überschaubar ist dann BMW, wozu noch Mini und Rolls-Royce gehören. Suzuki wiederum kontrolliert den indischen Hersteller Maruti. Im Besitz des indischen Autokonzerns Tata befinden sich Land Rover und Jaguar. Daimler hat in seinem Imperium unter anderem Smart und Freightliner. Renault kontrolliert Nissan und Dacia. Der chinesische Konzern Geely ist Eigentümer von Volvo.

Die Tabelle 3 weist eine überraschende Stabilität aus. Zunächst ist bemerkenswert, dass die 20 größten Autokonzerne der Welt mehr als 90 Prozent aller Autos herstellen. Das den Markt beherrschende Dreckige Dutzend vereint sogar 80 Prozent der globalen Produktion auf sich. Das war so in den 1980er-Jahren. Das war so 2005. Und das ist auch heute exakt so. Die Kapitalkonzentration ist unverändert und sie ist sehr groß – trotz des Aufstiegs von China.

Dann fällt auf, dass bisher die Weltautoproduktion von den traditionellen Herstellern dominiert wird. Unter den zwölf größten gab es 2013 elf "westliche" und mit SAIC einen chinesischen Hersteller. Bei den übrigen elf führenden Unternehmen handelt es sich um Toyota, GM, VW, Hyundai, Ford, Renault-Nissan, Fiat-Chrysler, Honda, Suzuki, PSA und BMW.

Dieter Zetsche verglich im Januar 2015 auf der Automesse in Detroit "seinen" Daimler-Konzern mit dem "Geist der Apple Stores". Der Konzern wolle, so Zetsche, "in Zukunft vor allem jüngere Kunden" ansprechen. Es gehe um "die Generation Y", um jene Leute, die um die 30 Jahre alt und gut ausgebildet sind und die "im Beruf Fuß gefasst" haben. Der Daimler-Boss spricht hier in zweifacher Weise ein ernstes Problem an, mit dem sich die Branche konfrontiert sieht: erstens die eher ältere Kundschaft, für die teure Autos erschwinglich ist, zweitens die jüngeren Menschen, bei denen seit rund 15 Jahren ein Trend weg vom Statussymbol Auto zu beobachten ist.

Nicht zu vergessen: Zur gleichen Zeit, wie die Meldungen vom neuen Autoboom durch die Weltpresse gingen, wurde im Kleingedruckten einiger Medien darüber berichtet, dass die Stadt Detroit inzwischen ihre Kunstschätze – darunter Gemälde von Pablo Picasso – verkaufen muss, damit bei der Straßenbeleuchtung wenigstens jede zweite Laterne weiter leuchten kann. Erinnert sei auch daran, dass 5. Dezember 2014 in Bochum das Traditionswerk der GM-Tochter Opel endgültig geschlossen wurde. Damit wurde auch in Deutschland eine große Stadt, die mehr als ein halbes Jahrhundert auf das Auto gesetzt hatte, in eine tiefe Strukturkrise gestürzt. 

Diese Entwicklung steht noch vielen Standorten bevor, in einer Industrie, in der Glanz und Elend dicht beieinanderliegen.

 

Winfried Wolf ist Chefredakteur von "Lunapark21". Er verfasste mehrere Bücher zur Autoindustrie und zur Verkehrspolitik.



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6 Kommentare verfügbar

  • Schwabe
    am 03.03.2015
    Antworten
    Wohlstand basiert auf Innovation und der Arbeitsleistung vieler fleißiger ArbeiterInnen und ist nicht vom Verbrennungsmotor abhängig. Festhalten am Verbrennungsmotor mit fossilen Brennstoffen ist teuer, zerstört und schädigt (Feinstaub, CO², Verkehrstote, etc.). Festhalten am Verbrennungsmotor…
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