KONTEXT:Wochenzeitung
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Heimlich mehr Puffer

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Noch bis 7. Oktober läuft die Erörterung für die Flughafenanbindung an Stuttgart 21. Mit Kapazität, Brand- und Umweltschutz geht es auf den Fildern um ähnliche Streitthemen wie beim Talkessel-Tiefbahnhof. Wie beim Herzstück des Milliardenvorhabens wird an der Projektperipherie um die Deutungshoheit gekämpft – manchmal mit unlauteren Tricks.

Draußen herrscht schönster Altweibersommer. Doch drinnen in der riesigen Halle 4 der Landesmesse ist vom sonnigen Herbst nichts zu spüren. Die Klimaanlage reduziert die Temperatur auf Fröstelgrade. Beißender Kerosingeruch wabert vom nahen Flughafen durchs heruntergekühlte Halleninnere. Fast alle Deckenfenster sind verdunkelt, damit Darstellungen möglichst kontrastreich auf den zwei Leinwänden erscheinen. Ein rund 40 Meter langer, schwarzer Vorhang, der als Raumteiler fungiert, unterstreicht das unwirtliche Ambiente, in dem derzeit die Erörterungstermine für die "Ausbau- und Neubaustrecke Stuttgart–Augsburg im Bereich Stuttgart–Wendlingen, Planfeststellungsabschnitt (PFA) 1.3 'Filderbereich mit Flughafenanbindung' der DB Netz AG" stattfinden. Das Regierungspräsidiums Stuttgart (RP) führt derzeit im Auftrag des Bonner Eisenbahn-Bundesamts (EBA) die Veranstaltung durch.

Meist vor kaum besetzten Stuhlreihen, was die hiesigen Zeitungen schnell als schwindendes Interesse des "Wutbürgers" am Jahrhundertprojekt Stuttgart 21 interpretierten: Auf den 1000 Plätzen in der Halle verlieren sich hundert, manchmal auch die doppelte Schar an Projektkritikern. Doch wer nicht aus Profession, etwa als Angestellter oder Sachverständiger von Behörden, Bahn und Umweltverbänden, der Erörterung beiwohnt, muss nicht nur auf Altweiberwetter verzichten, sondern auch Sitzfleisch mitbringen. Auf elf Tage immerhin ist die Erörterung angesetzt, plus zwei Tage Verlängerungsoption. Eine Zeit, die ein Durchschnittsbürger mit Job und Familie in der Regel kaum hat – ebenso wenig wie die Genehmigungsbehörde EBA, die bislang durch Abwesenheit glänzte.

Wer sich dennoch in die Landesmesse wagt, wird mit interessanten Einblicken in die zeitgenössische Planungs- und Genehmigungskultur bundesdeutscher Großprojekte belohnt. Phasenweise besitzt die Erörterung den Erkenntnis- und Unterhaltungswert der S-21-Schlichtung im Herbst 2010. Damals lockten die Diskussionen um Sinn und Unsinn des Milliardenprojekts mit einem öfters begriffsstutzigen Heiner Geißler als Moderator ein Millionenpublikum vor die TV-Geräte. Am vergangenen Montag wurden Besucher auf den Fildern Zeugen einer bemerkenswerten Vorstellung der Vorhabenträgerin Deutsche Bahn. Am ersten von zwei Erörterungstagen waren verkehrliche Aspekte und die Leistungsfähigkeit der Antragsplanung aufgerufen. Dieser Themenkomplex hatte durch ein kurz zuvor veröffentlichtes Gutachten der Technischen Universität Dresden im Auftrag der Anrainerkommune Leinfelden-Echterdingen schlagartig an Brisanz gewonnen.

Computersimulation spuckte Engpässe aus

Per Betriebssimulationen identifizierten die Dresdner in der Antragsplanung zur Anbindung der Gäubahn an den Flughafen zahlreiche Konfliktpunkte. Der vorgesehene Mischverkehr auf der bestehenden S-Bahn-Strecke, eine eingleisige Belegung im Flughafen-Halt Terminal sowie niveaugleiche Schienenkreuzungen würden erhebliche Verspätungsrisiken bergen, die insbesondere in den Hauptverkehrszeiten den Zugverkehr in der gesamten Region Stuttgart aus dem Takt bringen könnte (<link http: www.kontextwochenzeitung.de wirtschaft aufschrei-aus-le-2454.html _blank>siehe Kontext-Bericht, Ausgabe 182), so das Gutachterfazit. Im Extremfall blieben am "Zwangspunkt" Rohrer Kurve nur drei Sekunden Pufferzeit zwischen ICE und S-Bahn, so ein Resümee. "Die Antragsplanung kann ich so nicht empfehlen", sagte der Dresdner Wissenschaftler Uwe Steinborn am Ende seiner Präsentation. Diesem Fazit schloss sich Armin Wirsing an: "Die Antragstrasse wird den maßgeblichen Qualitätsstandards für Neu- und Ausbauten von Schieneninfrastruktur nicht gerecht", kritisierte der Rechtsbeistand der Schutzgemeinschaft Filder. Seine Forderung: "Die Vorhabenträgerin muss sich an Umplanungen machen."

Doch das focht die Bahn nicht an. Denn sie kommt angeblich in einer eigenen Betriebssimulation auf ganz andere Werte, die ausreichend Pufferzeit an den neuralgischen Trassenpunkten bieten. Auch hätten die Simulationen im Rahmen des Stresstests ergeben, dass die Trasse einen wirtschaftlich optimalen Betrieb ermöglicht, argumentierte Christian Becker, Leiter Vertrieb und Fahrplan der DB Netz. Nach Bahn-Regelwerk 405 trägt Infrastruktur dieser Kategorie nicht zum Verspätungsaufbau bei, sondern dämpft Verspätungen sogar.

Wie kommen die unterschiedlichen Ergebnisse zustande? "Wir benutzen zwei unterschiedliche Simulationssysteme", vermutete Becker gegenüber Gutachter Steinborn zunächst. So verwendet die Deutsche Bahn das Programm Railsys, während auf den Computern der Dresdner Uni selbst programmierte Software läuft. Im weiteren Verlauf lieferte die Bahn eher unbeabsichtigt eine plausiblere Erklärung, die zu tumultartigen Reaktionen des Publikums führte. "Leider sind wir auch von unterschiedlichen Fahrplänen ausgegangen", erwähnte Thomas Kaspar von DB Netze nebenbei. Demnach veränderte die Bahn beim jüngsten Simulationsdurchlauf Anfang Juli selbst den Fahrplan – freilich ohne dies dem Gutachter der Uni Dresden mitzuteilen. Die pufferzeitkritischen S-Bahnen der Linie 3 ließ sie eine Minute später als zuvor am Halt Rohr abfahren, statt zur Minute 03 und 33 eben zu 04 und 34. Mit der Folge, dass sich die Pufferzeit an der Rohrer Kurve zum kreuzenden ICE auf über 60 Sekunden verlängerte – was in der Fahrplangestaltung Welten sind. Welche Wirkung die einzelne Zeitänderung auf das Gesamtsystem Stuttgart 21 hat, etwa an anderen Engpässen wie dem Tiefbahnhof, verriet Kaspar jedoch nicht.

Bahn-Handeln verdattert Baubürgermeisterin 

Dem derart vorgeführten Verkehrswissenschaftler blieb nach diesem Eingeständnis fast die Spucke weg. "Ich habe Anfang Juli mehrfach mündlich und schriftlich bei der Bahn nachgefragt, ob es irgendwelche Änderungen im Simulationslauf gibt. Diese Infos habe ich bis heute nicht bekommen", empörte sich Steinborn, dass ihm wichtige Informationen vorenthalten wurden, die die Aussagekraft seiner Arbeit entwerten. Nachgefasst hatte er bei der Bahn, weil ihm die Simulationsergebnisse gerade so unglaublich zeitkritisch vorkamen. "Ich habe alles sogar per Hand nachgerechnet", erwähnte Steinborn. Fassungslos reagierte auch Eva Noller, Baubürgermeisterin von Leinfelden-Echterdingen. "Habe ich das richtig verstanden, dass hier ein Gutachten auf Grundlage falscher Daten berechnet wurde", wagte sie kaum zu glauben, dass die Investition von Steuergeldern in ein Gutachten durch eine heimliche Dateneingabe der Bahn nun weitgehend nutzlos war. Mehrere Redner forderten unter tosendem Applaus des Publikums das Regierungspräsidium auf, die Erörterung abzubrechen, bis die Bahn alle Daten und Pläne öffentlich gemacht hat. Dies lehnte RP-Verhandlungsführer Michael Trippen ab.

"Sie müssen auch alle Stresstest-Unterlagen vorlegen, wenn Sie damit arbeiten", beharrte der Verkehrsberater Sascha Behnsen für die Filder-Schutzgemeinschaft. Beim sogenannten Stresstest war auf Anregung von Schlichter Geißler dem Tiefbahnhof von Stuttgart 21 bescheinigt worden, 49 Züge in der morgendlichen Spitzenstunde bewältigen zu können. Projektkritiker hatten jedoch schon während der Präsentation im Juli 2011 bemängelt, dass der Leistungstest intransparent sei.

Auch an den anderen Erörterungsterminen fühlten sich viele Beobachter an die Schlichtungsrunden zum Gesamtprojekt Stuttgart 21 erinnert. Wie damals beherrschen auch heute Konfliktthemen wie Brandschutz, Umweltauswirkungen, verkehrliche Aspekte und mögliche Alternativen die Diskussion.

Gegen Probleme wächst auch auf den Fildern kein Kraut

So fehlt es wie beim geplanten Tiefbahnhof im Stuttgarter Talkessel aus Sicht von Fachleuten auch im PFA 1.3 an einem brauchbaren Brandschutz- und Rettungskonzept. Als schwierig gilt die Situation, weil die Bahnsteige des geplanten Flughafen-Fernbahnhofs 27 Meter unter der Erdoberfläche liegen. "Die Bahn muss beim Brandschutz für ihren neuen Fernbahnhof am Flughafen und die umzubauende S-Bahn-Station nachbessern", sagte der Esslinger Kreisbrandmeister Bernhard Dittrich am vergangenen Freitag. Als "fehlerhaft und unzureichend" kritisiert wurden die Bahnpläne auch von Hans Heydemann von den "Ingenieuren 22", der für den Umweltverband BUND sprach. Klaus-Jürgen Bieger, der Brandschutzbeauftragte der Bahn, verwies auf neue Schutztechniken, die längere Rettungszeiträume ermöglichten. So soll im Terminal-Bahnhof Passagieren und Feuerwehren im Brandfall ein Hochdruck-Wassernebel helfen.

Während Projektkritiker beim Bau des Tiefbahnhofs im Talkessel auch das Stuttgarter Mineralwasser gefährdet sehen, sorgen sich Naturschützer und Bauern auf den Fildern vor allem um den Flächenverbrauch. Flughafenerweiterung und die neue Landesmesse kosteten in jüngster Vergangenheit viele Hektar des fruchtbaren Filderbodens.

Wie viele Fahrgäste wollen eigentlich zum Flughafen?

Wie beim Gesamtprojekt, das offiziell inzwischen bis zu 6,8 Milliarden Euro kostet, wird auf den Fildern die Kosten-Nutzen-Frage gestellt. Nach aktuellem Planungsstand schlägt die Flughafenanbindung mit 730 Millionen Euro zu Buche. Ob sich das je rechnet, will Steffen Siegel wissen. "Wir verlangen von der Bahn, dass sie eine Fahrgaststromanalyse vorlegt", forderte der Vorsitzende der Schutzgemeinschaft Filder. Diese soll zeigen, wie viele Reisende die neuen Zugverbindungen zum Flughafen nutzen werden. Bislang gibt es dazu öffentlich noch keine Erkenntnisse.

Ein genereller Schlagabtausch über Stuttgart 21 ist am 6. und 7. Oktober zu erwarten, wenn die "Planrechtfertigung" auf der Tagesordnung steht, diesmal in der heimeligeren Filderhalle in Leinfelden-Echterdingen als Verhandlungsort. Sachlich-nüchtern soll es nach Ende des Diskussionsmarathons weitergehen: mit einer Empfehlung des Regierungspräsidiums an das Eisenbahn-Bundesamt, dass die umstrittene Antragstrasse der Vorhabenträgerin genehmigungsfähig ist – oder dass sie es nicht ist.


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7 Kommentare verfügbar

  • Bereits im Jahr 1996 …
    am 03.10.2014
    Antworten
    entdeckte Gerhard Heimerl, der emeritierte Bahnprofessor und Vater von Stuttgart 21, die Häufung von Zwangspunkten auf der Filderstrecke, sollte diese dereinst von S-Bahn-, Regional- und Fernverkehrszügen befahren werden. Seitdem wies der 82-Jährige die Deutsche Bahn mehrfach auf die Probleme eines…
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