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Investigativ-Thriller "Verschollen"

Ein moderner Goldrausch

Investigativ-Thriller "Verschollen": Ein moderner Goldrausch
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Von wegen nachhaltig: Für die Herstellung von "grünem Stahl" wird teils in großem Ausmaß Greenwashing betrieben. Filmemacher Daniel Harrich enthüllt mit seinem neuen Thriller samt Doku einen Umweltskandal in Brasilien. Gedreht wurde auch auf der Stuttgart-21-Baustelle.

Klemens Stadler hat seine letzte Schicht. Er steht kurz vor der Pensionierung. Der Ingenieur ist seit zehn Jahren auf der Großbaustelle von Stuttgart 21 tätig. "Allein in dieser Konstruktion habe ich 350 Tonnen Stahl verbaut", sagt die fiktive Figur, dargestellt von dem in München lebenden Schauspieler Axel Milberg, vor einer der 27 Kelchstützen. Noch weiß Stadler nicht, dass er sich bald auf die Suche machen wird nach seinem Sohn Jan (gespielt von Max Hubacher), der in Brasilien auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Dort war er als Umweltingenieur zuständig für CO2-Zertifizierungen, hatte aber Skrupel bekommen, an einer fragwürdigen Kreislaufwirtschaft mitzuwirken.

Autor, Regisseur und Kameramann Daniel Harrich (rechts) beim Dreh auf der S-21-Baustelle. Foto: Julian Rettig

Mehr als nur ein Film, mehr als nur ein Regisseur

Der Münchner Investigativ-Journalist, Filmemacher und Grimmepreisträger Daniel Harrich hat sich mit fiktionalen Spielfilmen einen Namen gemacht, die er mit seiner Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft diwafilm umsetzt. Er verfilmte beispielsweise illegale Waffengeschäfte deutscher Waffenhersteller ("Meister des Todes"), zugrunde lag die illegale Exportpraxis der Oberndorfer Waffenfirma Heckler und Koch. 2021 drehte er eine Art Heimat-Western, der unter dem Titel "Bis zum letzten Tropfen" die geplante Entnahme von Grundwasser durch einen Getränkekonzern in einer Kleinstadt im Nordosten Baden-Württembergs behandelte. Und in seinem neuesten Film "Verschollen" geht es um einen Umweltskandal in Brasilien, der mit fragwürdigen CO2-Zertifizierungen und dem Geschäft mit "grünem Stahl" zu tun hat. Allen Spielfilmen Harrichs ist gemein, dass sie zwar fiktional zugespitzt sind, aber auf realistischen Fällen basieren.

"Verschollen" läuft am heutigen Mittwoch, 12. November, in der ARD und ist hochkarätig besetzt mit Schauspieler:innen wie Axel Milberg, Max Hubacher, Elisa Schlott, Taís Gonçalves, Julia Koschitz und Benjamin Sadler. Die Doku dazu kommt direkt im Anschluss um 21.45 Uhr. Beides auch in der ARD-Mediathek (os/ana)

Die Szene auf der S-21-Baustelle ist eine der ersten im Fernseh-Thriller "Verschollen", dem neuesten Werk des Filmemachers Daniel Harrich. Er gilt als Erfinder des Genres "Investigativ-Spielfilm" und ist bekannt für weltweite Recherchen zu Polit- und auch zu Umweltskandalen. Stahl ist aktuell sein maßgebliches Stichwort, genauer gesagt "grüner Stahl". Auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität gilt dieser als wichtiger Bestandteil: Normalerweise ist die Herstellung von Stahl in Hochöfen mit gewaltigen CO2-Emissionen verbunden. Für die Erzeugung von "grünem Stahl" soll dagegen Wasserstoff, der mithilfe von erneuerbaren Energien gewonnen wird, verwendet werden. So weit zumindest die Theorie.

Das Image ist jedenfalls gut. So wird etwa beim Bau der "Hochbahn U5" in Hamburg "grüner Stahl" verwendet. Von dessen Nachhaltigkeit gehen zwei Ingenieure fest aus, die Harrich auf der Großbaustelle interviewt hat. Die Sequenz gehört zu einer 30-minütigen Doku, die im Anschluss an den fiktionalen Thriller läuft – ein Prinzip, das Harrich schon bei früheren Filmen angewandt hat. Gigantische Infrastrukturprojekte wie die U5, die über 29 Kilometer quer durch Hamburg führen, bis zu 16,5 Miliarden Euro kosten und 2029 in Teilen in Betrieb gehen soll, lassen sich viel besser verkaufen, wenn sie ein ökologisches Label haben. CO2-Label sind derzeit en vogue, auch die Deutsche Bahn fährt mit "grünem Strom" und will demnächst erstmals Schienen aus "grünem Stahl" verbauen.

Mehrjährige Recherche in Brasilien

Die Realität ist weit weniger strahlend. Mehrere Jahre hat der 42-jährige Harrich für sein aktuelles Spielfilm- und Doku-Projekt recherchiert, in Brasilien und weltweit, begleitet hat ihn dabei wie bei früheren Projekten Thomas Reutter, der heute als Redakteur in der Doku-Abteilung des SWR in Baden-Baden tätig ist. Erstmals 2019 berichtete Reutter, damals noch als Redakteur von "Report Mainz", in einer großen Fernseh-Doku über die Ausbeutung tropischer Urwälder. Dabei stieß er auf das Konzept des "Green Steel" aus Brasilien. Ein Schlüsselmoment sei, so erzählt es Harrich, ein reales Treffen gewesen, das später sogar Eingang in den Spielfilm gefunden hat: In einer Bar prahlte ein angetrunkener Finanzinvestor mit dem Geschäft rund um CO2-Plantagen und angeblich "grünem Stahl". In "Verschollen" tut er dies gegenüber dem von Axel Milberg gespielten fiktiven Charakter.

"Diese Szene ist exakt so passiert, an genau dem Ort, an dem wir später gedreht haben", berichtet Harrich. Der Mann war kein Fantasieprodukt, sondern tatsächlich Leiter der Abteilung für "nachhaltige Investments" eines der größten Vermögensverwalter der Welt. Kurz gesagt geht es um Konzerne, die zum Ausgleich für ihre CO2-Emissionen Wälder aufforsten, etwa riesige Eukalyptusplantagen im Osten Brasiliens.

Als Harrich und Reutter danach tiefer gruben, sei klar geworden, dass dieselben Eukalyptusbäume, die angeblich CO2 binden sollten, in Wahrheit gefällt, zu Holzkohle verkokelt und als klimafreundlich deklariert werden. Und der "grüne Stahl" soll mit der so gewonnenen Holzkohle erzeugt werden. Das ist der Kern der Geschichte.

Es ist ein Etikettenschwindel, der einen riesigen, in Europa eher unbekannten Landstrich bedroht: den Cerrado im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Die savannenartige Steppe umfasst rund zwei Millionen Quadratkilometer Land, was ein Viertel des Staates Brasilien ist und gleichzeitig mehr als fünfmal so groß wie Deutschland. Das teils unwirtliche, eher extensiv genutzte Gebiet grenzt südlich an den Amazonas-Regenwald, der aktuell besonderes Augenmerk erfährt mit der Weltklimakonferenz in Belém, Hauptstadt des benachbarten Bundesstaates Pará. Die Fläche des Regenwaldes ist dabei noch einmal doppelt so groß wie die des Cerrado.

Grünes Label für fragwürdige Kreislaufwirtschaft

Mit den Zertifizierungen der in Bonn sitzenden NGO "Forest Stewardship Council" (kurz: FSC) wird hier einer fragwürdigen, angeblichen "Kreislaufwirtschaft" ein grünes Label verpasst. Und das geht so: Große Flächen der savannenartigen Steppe werden von internationalen Finanzinvestoren gerodet, um danach auf Tausenden von Hektaren Eukalyptus-Plantagen hochzuziehen. "Unsere Plantagen werden künftig das Klima schützen, für gepflanzte Bäume bekommen wir CO2-Zertifikate", lässt Filmemacher Daniel Harrich in "Verschollen" seinen Film-Charakter Kurt Winkler (dargestellt von Benjamin Sadler) referieren. Was vordergründig als riesiger CO2-Speicher erscheint, durch das Pflanzen neuer Bäume, angerechnet als so genannter "CO2-Ausgleich" für Industrieproduktion in Europa und anderswo, wird aber in der Wirklichkeit konterkariert. Es ist ein Umweltskandal von gewaltigem Ausmaß, der hier enthüllt wird.

Dem heutigen Zustand des Cerrado und wie dort mit den Bewohnern in einer der ärmsten Regionen Brasiliens umgegangen wird, geht Harrich in der Doku nach dem Spielfilm genauer nach, gemeinsam mit zwei Wissenschaftlern: Dem aus Heidelberg stammenden Klemens Laschefski, der an der Universität Minas Gerais in Brasilien Politische Ökologie und Geographie lehrt, und Dietrich Darr von der Hochschule Weihenstephan, Professor für nachhaltige und resiliente Farm- und Ernährungssysteme. Mit ihnen fuhr der Filmemacher in das rund 700 Kilometer nördlich von Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaates, liegende kleine Dorf Pindaíba. Für die Menschen dort ist der Cerrado Heimat und Lebensgrundlage. Doch die wird ihnen geraubt.

Landraub unter dem Vorwand der Nachhaltigkeit

In der Region um Pindaíba wird das aus den Eukalyptusplantagen neu gewonnene Holz in Igluartigen Backsteinöfen zu Holzkohle verkokelt – so wie man es aus früheren Jahrhunderten auch im Schwarzwald kennt. An einer Stelle der Region traf das Filmteam von Harrich auf 400 solche Kohlemeiler. Der Wissenschaftler Laschefski wird deutlich: "Was hat das mit Klimaschutz zu tun?" Mit involviert ist laut den Recherchen auch "Gerdau S.A.", ein großer, international agierender brasilianischer Stahlkonzern, der das Produkt Holzkohle verwendet. Laschefski führt das Filmteam zu Bauern der Region, die als Betroffene dem "Land Grabbing" ausgesetzt sind, dem mehr als offensichtlichen Landraub. Sie sind Leidtragende des CO2-Schauspiels. Da werde "das Heilsversprechen der nachhaltigen Entwicklung benutzt, um die lokale Bevölkerung zu enteignen", resümiert Laschefski.

In den Interviews der Doku wird angemerkt, dass der Grundwasserspiegel der Dorfregion Jahr für Jahr um zehn Zentimeter absinke, bewirkt durch die Eukalyptus-Plantagen. Viehwirtschaft oder dergleichen wird aufgrund der austrocknenden Böden nahezu unmöglich. Das Filmteam ist mit dabei, als an nur einem Tag etwa 1.200 Hektar Land gerodet werden, eine Fläche, die fast 1.700 Fußballfeldern entspricht. Die Polizei des Bundesstaates Minas Gerais greift nicht ein, hilft eher dabei mit, die Landbevölkerung fernzuhalten. Einen "modernen Goldrausch" nennt es die Stimme im "Off" der Doku, gesprochen von Schauspieler Axel Milberg. "Die Vorstellung von CO2-Neutralität, die ihr in Europa habt, gibt es nicht", sagt ein lokaler Bauer lakonisch im Interview.

Dietrich Darr, der zweite Wissenschaftler, der das Filmteam begleitet, will den Wert des Cerrado erforschen; ein Gebiet, das eher extensiv genutzt wird. Bodenproben sollen belegen, wie viel Vielfalt dort besteht, wie viel CO2 der Boden speichert. Erste Ergebnisse "könnten das Klimaversprechen des Projekts infrage stellen", sagt Darr. Der Vorwurf des "Greenwashing" und die Verletzung der Menschenrechte (Recht auf Wasser) steht im Raum, den die NGO FSC aber vehement zurückweist.

Stuttgart 21 als Symbol für gebrochene Versprechen

Darr ist auch bei der Uraufführung von Harrichs Spielfilm dabei, die vorvergangene Woche im Kurhaus von Sasbachwalden (Ortenaukreis) stattfand. Mittlerweile hat er tausende Bodenproben nehmen lassen, so wie es im Spielfilm – fiktiv – auch der Zertifizierungsexperte Jan Stadler machte. Darr geht davon aus, dass im Sommer kommenden Jahres "die Ergebnisse vorliegen". Überhaupt ist der Wissenschaftler von der ökologischen Wertigkeit des Cerrado überzeugt. Dort liege die Hälfte der Biomasse unter der Erde, das mehr als zwei Millionen Quadratkilometer Fläche umfassende Gebiet sei sozusagen "ein umgedrehter Urwald". Die Pflanzungen von Eukalyptus-Bäumen, und deren Verkohlung – zur weiteren Verarbeitung als Brennstoff für die Stahlindustrie – nennt er "total absurd".

Filmemacher Harrich schätzt, dass alleine in der Region, in der er mit seinem Team und den Schauspielern drehte, die Fläche der Plantagen seit 2020 um etwa 30 Prozent vergrößert wurde. Dass dort Monokulturen aufgebaut würden, um so genannten "grünen Stahl" zu produzieren, nennt Harrich "einen ganz großen Betrug". In der Region, in der sein Filmteam drehte, liege die Größe industrieller Eukalyptus-Plantagen einzelner Unternehmen "oft bei 30.000 bis 60.000 Hektar, teils mehr". Im Cerrado sei schon ein großer Teil der ursprünglichen Flächen verloren gegangen.

Dass die Uraufführung von "Verschollen" im Schwarzwald-Kurort Sasbachwalden stattfand, hat auch damit zu tun, dass hier die Anfangsszene gedreht wurde. Warum aber entstand die darauffolgende Sequenz des Thrillers auf dem Areal der Stuttgart-21-Baustelle? Harrich wird auch hier sehr deutlich: "Wir wollten Axel Milbergs Figur – einen Ingenieur, der an das Gute im System glaubt und dann erkennt, wie tief die Verflechtungen zwischen Industrie, Politik und Greenwashing reichen – in einer realen, symbolisch aufgeladenen Umgebung zeigen." Und Stuttgart 21 "stehe wie kaum ein anderer Ort in Deutschland für technologische Hybris, politische Konflikte und gebrochene Versprechen", sagt der Filmemacher.

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