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Ein Jahr Machtübernahme der Taliban

Wie im Käfig

Ein Jahr Machtübernahme der Taliban: Wie im Käfig
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Afghanistan befindet sich ein Jahr nach dem Truppenabzug des Westens im freien Fall. Die gut Ausgebildeten verlassen das Land, Pärchen dürfen nicht mehr gemeinsam in öffentliche Parks, die Bevölkerung verarmt, viele könnten ohne Hilfe aus der Diaspora nicht überleben.

Vor einigen Monaten saß ich im Wohnzimmer eines Freundes in Kabul, als dessen Vater das Geschehen wie folgt zusammenfasste: "Wir leben zurzeit in einem Käfig und unsere Zukunft ist ungewiss." Der ältere Mann wusste, wovon er sprach, denn er hatte die Kriege und Umbrüche in Afghanistan hautnah und am eigenen Leib miterlebt. Anfang der 1980er-Jahre verlor er als Soldat ein Bein. Damals wie heute hoffte er auf einen Frieden, der nie kam.

Ein Jahr nach dem Abzug der NATO-Truppen befindet sich Afghanistan weiterhin im freien Fall. Die neuen Taliban-Herrscher, die zwanzig Jahre lang mit Guerillakrieg und Terror beschäftigt waren, scheinen überfordert zu sein und von Staatsführung nichts zu verstehen. Daran leidet in erster Linie die afghanische Bevölkerung, denn die westlichen Sanktionen gegen das Regime treffen hauptsächlich den einfachen Bürger. Die ausländischen Devisenreserven in Höhe von rund zehn Milliarden US-Dollar stehen weiterhin unter Verschluss, während die Bevölkerung verarmt. Allein sieben Milliarden davon werden von den USA zurückgehalten. Anfang des Jahres beschloss die Biden-Administration, die Hälfte des Geldes an die Familien der Opfer der Anschläge des 11. Septembers 2001 zu verteilen. Eine Entscheidung, die weltweit und vor allem in Afghanistan für heftige Kritik sorgte. Viele Afghanen und Afghaninnen würden ohne private Hilfen aus dem Ausland und die finanzielle Unterstützung der großen Diaspora wohl gar nicht überleben können.

Hunderte Milliarden Dollar in Korruption versickert

Dabei sind nicht Privatpersonen, die meist selbst durch die Kriege in ihrer Heimat traumatisiert wurden, Afghanistan etwas schuldig, sondern in erster Linie die internationale Staatengemeinschaft. Sie war rund zwei Jahrzehnte in Afghanistan präsent und hat mehrere hundert Milliarden US-Dollar in das Land investiert. Geld, das jene, die es bitter benötigten, nie erreicht hat. Stattdessen waren Politiker und Militärs in Washington und anderswo auf eine kurzfristige Kriegswirtschaft bedacht, von der vor allem der militärisch-industrielle Komplex, Söldnerfirmen, korrupte Politiker und Warlords profitierten. Jedem, der die Lage ernsthaft beobachtete, hätte klar sein müssen, dass so kein wirtschaftlich souveräner Staat entstehen würde, obwohl das sogenannte Nation Building im Land von vielen westlichen Politikern als "Ziel" genannt wurde.

Dass die Taliban mitsamt ihrer geballten Inkompetenz in solch einem Zustand scheitern würden, war vorherzusehen. Seit ihrer Machtübernahme findet ein massiver Brain Drain statt, der bis heute kein Ende gefunden hat. Den neuen Machthabern fehlen in vielerlei Hinsicht Experten, die wissen, wovon sie reden und ordentliche Arbeit machen können. Doch selbst jene, die aufgrund von Heimatverbundenheit geblieben sind, fühlen sich von den Taliban-Mullahs verschreckt, verhöhnt und beiseitegedrängt. Die Extremisten machen es aufgrund ihrer Haltung nicht nur möglichen internationalen Partnern schwer, sondern auch den Afghanen im Land. Dass die allermeisten von ihnen weiterhin bleiben werden, ist klar. Nicht jeder kann fliehen oder hat das Glück, evakuiert zu werden. Für diese Menschen sind die Taliban keine Wahl, sondern eine Realität, mit der sie sich auseinandersetzen müssen.

Gegenwärtig sieht diese Realität düster aus. Seit der Machtübernahme der Taliban sind die meisten weiterführenden Schulen für Mädchen geschlossen. Eine strikte Trennung von Geschlechtern, die in solch einem Ausmaß vor allem in den Städten ungewohnt war, bestimmt zunehmend den Alltag. Öffentliche Parks dürfen nur noch getrennt besucht werden. Reisen ohne männliche Begleitung ist nicht erlaubt. Journalist:innen und andere Medienschaffende zensieren sich aus Furcht vor Strafen selbst. Viele von ihnen haben bereits das Land verlassen, ähnlich wie viele Menschenrechtsaktivist:innen.

Taliban-Differenzen und gescheiterter Antiterrorkrieg

Zugleich spitzen sich die Differenzen innerhalb der Taliban zu. Vor Kurzem wurde Al-Qaida-Führer Ayman az-Zawahiri mitten in Kabul durch einen Drohnenangriff der CIA getötet. Der berühmt-berüchtigte Haqqani-Flügel der Taliban soll sein Gastgeber gewesen sein, während andere Fraktionen nichts über den Aufenthalt des seit Jahren gesuchten Topterroristen wussten. Doch az-Zawahiris Tötung war aus westlicher Sicht gewiss kein Erfolg, den es zu feiern gilt. Schließlich wurde der Ägypter nicht in der Wüste oder in einem abgelegenen Bergdorf getötet, sondern mitten in der früheren Kabuler "Greenzone", wo einst Diplomaten, Söldner, NGOs und korrupte Politiker sowie Warlords verkehrten. Der letzte Mieter des Hauses, in dem sich az-Zawahiri aufgehalten hatte, war ein enger Berater von Ex-Präsident Ashraf Ghani. Er flüchtete vor einem Jahr gemeinsam mit dem Präsidenten, als die NATO-Truppen abzogen und die Taliban Kabul einnahmen.

Während des 20-jährigen Krieges war es vor allem das ländliche Afghanistan, das vom US-Militär regelmäßig bombardiert wurde. Afghanische Dörfer wurden als Hort von Militanz und Extremismus und als Rückzugsorte von gesuchten Terroristen betrachtet. Doch merkwürdigerweise wurden jene Menschen, die sich auf den Abschusslisten der Amerikaner befanden, selten getroffen, geschweige denn verletzt oder getötet. Stattdessen waren es oft Hochzeitsgesellschaften oder Beerdigungen, die zum Ziel der Predator-Drohnen wurden. In den vergangenen Jahren wurde az-Zawahiri mehrmals für tot erklärt, unter anderem nach vermeintlich präzisen Operationen. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem mutmaßlichen Gastgeber des Qaida-Chefs, dem Taliban-Führer Sirajuddin Haqqani, der gegenwärtig als Innenminister der Taliban-Regierung agiert.

Dies ist nur eine von vielen Krisen, die sich in den Reihen der Taliban auftun. Auch bei der Öffnung von Mädchenschulen gibt es Unstimmigkeiten. Radikale Kräfte konnten sich durchsetzen, während moderatere Kräfte beiseitegedrängt wurden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa Sher Mohammad Abbas Stanekzai, der einst in Katar die Friedensverhandlungen mit Washington führte. Sein Team wurde damals immer mehr zum "neuen Gesicht" der Taliban. Männer, die Englisch sprechen und mit der internationalen Presse Tee trinken, während sie manchmal gar nicht so unvernünftig klingen. Gegenwärtig gehört Stanekzai, der als Vize-Außenminister agiert, zu den lautesten Kritikern rund um die Mädchenschulthematik, und zwar innerhalb der Taliban. Doch er hat de facto nichts zu sagen und wird von den eigentlichen Machthabern ignoriert.

Es wird klar: Die Machtkämpfe sind da. Und dann gibt es noch die Bedrohung von außen: Der Hauptfeind IS hat in der vergangenen Woche einen prominenten Taliban-Führer getötet. Dies dürfte die Frage aufwerfen, inwiefern das Regime in Kabul auf internationale Partner im Kampf gegen die neue Bedrohung angewiesen ist.


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