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Odessa

Ein gestohlener Sommer im Krieg

Odessa: Ein gestohlener Sommer im Krieg
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Unsere ukrainische Kollegin ist drei Monate nach ihrer Flucht erstmals wieder nach Odessa gereist. In ihrer Heimatstadt erlebte sie den Mut der Verzweiflung und den Trotz der Menschen, die ihr Leben zurückhaben wollen.

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Zeit ist eine seltsame Kategorie. So viel ist passiert seit Februar, dass der Kriegsbeginn unendlich weit weg scheint. Aber wahr ist auch, dass für alle Ukrainer:innen, wo immer sie auch sind, der Kalender am 24. Februar stehen geblieben ist. Es gab keinen Frühling, keiner bemerkte, dass der Sommer schon begonnen hat. Es gibt im Herzen nur einen langen Februar. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, für ein paar Tage heimzufahren. Eine kurze Geschäftsreise zu einer Wissenschaftskonferenz in Sofia, Bulgarien, ließ sich verbinden mit einer Reise nach Odessa, um Familienangelegenheiten zu regeln.

Unter meinen Reisegefährt:innen waren ein 17-jähriger junger Mann, der in der Ukraine sein Studium wieder aufnehmen wollte und eine Großmutter mit zwei Teenager-Enkeln. Alle vier hatten Probleme an der Grenze zu Moldawien: Die Einreiseregeln hatten sich geändert und sie hatten nicht die nötigen Papiere. Die moldawischen Grenzbeamten insistierten, erklärten die Regeln. Die Menschen im Bus kannten die neuen Regeln nicht, waren verwirrt. Doch irgendwie und irgendwann klappte es. Nach einer Stunde ließen die Grenzbeamten uns durch. Alle im Bus waren schon müde von der langen Fahrt, alle wollten heim und ihre Familie umarmen. Aber niemand wurde laut, alle boten ihre Hilfe an, Handys, Internet, um die Verwandten zu informieren. Wir sind wohl alle toleranter und weise geworden durch die erzwungene Flucht.

Wir passierten Bessarabien, eine schöne Ecke nahe Odessa. Hier fließt kaukasisches, bulgarisches, ukrainisches und moldawisches Blut in den Adern der Menschen. Hier wachsen Trauben, hier gibt es dutzende kleine Weingüter und im nahe der Stadt Orlovka gelegenen Reservat leben Herden wilder Büffel. Wäre kein Krieg, würde ich mit Tourist:innen hierher kommen, als Fremdenführerin. Vor dem Fenster meines Busses fliegen jetzt die ukrainische Steppe vorbei, Seen und Flüsse mit Kranichen und Störchen. Ich bin wieder daheim. Aber daheim ist Krieg. Wir passieren immer mehr Checkpoints, die Stimmung wird immer angespannter und schließlich – hallo Odessa, geliebte Stadt.

Wenn die Armee um ein Einhorn bittet

Ich habe Odessa drei Monate lang nicht gesehen. Und obwohl ich jeden Tag mit Verwandten und mit Freunden Kontakt hatte, kann das nicht die direkten Eindrücke einer Stadt wiedergeben. Die Geräusche. Die Gerüche. Vor allem die Gerüche. Nektar nennen wir die Luft in Odessa im Mai. Es riecht nach Rosen, Jasmin und Pfingstrosen, vermischt mit dem salzigen Geschmack des Meeres. In diesen paar gestohlenen Tagen in Odessa lief ich umher, ich sog den Duft der Stadt ein – und ich redete mit meinen Freunden, Bekannten.

Es gibt bei uns ein Sprichwort: Wenn du nicht weiterweißt, finde deine Leute und du bist geerdet. Meine Leute, müde von der ständigen Angst, verwirrt, dass das alte Leben nicht mehr existiert, erschöpft von der Anstrengung, den Soldaten zu helfen. Die Front ist nur 100 Kilometer entfernt. Jeder hilft der Armee. Frauen schneiden Stoffe in Streifen, um Tarnnetze zu weben. Schulsporthallen und Restaurants wurden zu Freiwilligenzentren, Hilfsgüter von Polen, Italien, den USA, der Türkei und von Deutschland strömen hierher.

Über Internet und Social Media suchen die Odessianer:innen alles, was notwendig ist für die Front und für die Flüchtlinge in der Stadt, finden Freunde in den USA, finden Unterstützer:innen, die Geld geben. Sie bringen Babynahrung in die besetzten Gebiete und Medizin in die Krankenhäuser. Sie verteilen Kleidung und Essen an die, die nach Odessa geflohen sind vor den Bomben. Ein anderer Bereich ist für Armee-Hilfsgüter reserviert: Erste-Hilfe-Sets, Uniformen, Handschuhe, kugelsichere Westen. Drohnen für die Späher und Autos für die Front. Ein Witz, der unter den Freiwilligen kursiert: Wenn die Armee um ein Einhorn bittet, sind wir nicht überrascht, sondern fragen nach der gewünschten Farbe.

Das ständige Geheul der Sirenen

Warum tun die Menschen das? Womöglich, weil die Möglichkeiten des Staates nicht reichen. Womöglich, weil die Ukrainer:innen nicht daran gewöhnt sind, untätig zu bleiben. Wenn am Morgen Schreckliches passiert, haben wir am Abend nicht nur einen Plan A, sondern sicherheitshalber auch einen Plan B. Dahinter steckt der ungebrochene Durchhaltewillen derer, die ihr Land verteidigen.

Foto: Joachim E. Röttgers

Anna Kupriy, 47, arbeitete 20 Jahre als Journalistin in Odessa. Als der Krieg in der Ukraine begann, flüchtete sie mit mehreren Familien. Unter ihrem Fahrersitz lag eine Axt als Schutz, sie war nur mit Frauen und Kindern unterwegs in ihrem Fluchtauto. Über sieben Länder fuhr sie von Moldawien nach Deutschland. Heute wohnt sie in Gerlingen bei einer deutschen Familie. Neben ihren Artikeln bei Kontext berichtet sie auch in einem Blog bei der Landeszentrale für politische Bildung.  (sus)

Das alles geschieht unter dem ständigen Geheul der Sirenen. Die Menschen in Odessa reagieren unterschiedlich. Manche steigen in die Schutzräume, andere ignorieren den Alarm. Nichts wird dich vor einem direkten Treffer schützen. Das hat die Rakete gezeigt, die Ende April ein Wohnhaus getroffen und acht Menschen getötet hat. Sie waren ganz normale, gewöhnliche Einwohner:innen von Odessa, darunter das drei Monate alte Baby Kira, seine Mutter und Großmutter. Dass Odessa weit von der russischen Grenze entfernt liegt, schützt die Stadt vor der dortigen Artillerie. Doch beständig besteht die Gefahr, dass von Schiffen aus Cruise Missiles gefeuert werden. Eine Rakete hat ein großes Einkaufszentrum getroffen, eine andere zerstörte eine Eisenbahnbrücke. Einmal schlug eine Rakete in den Friedhof ein, zerstörte Dutzende Gräber und es schien, als ob die Menschen, die schon begraben waren, ein zweites Mal sterben würden.

Aber es ist erstaunlich: Odessa ist nicht tot, diese Stadt ist so voller Leben, Wärme und Sonne, dass sie trotz der Schrecken des Krieges ihren Charakter nicht verliert. Katzen dösen in den Höfen, ältere Frauen verkaufen Erdbeeren und Blumen auf den Märkten. Verzweifelte Draufgänger schwimmen trotz Verbot im Meer. Verboten, weil ständig Minen angeschwemmt werden. Ich sehe eine Frau, die sich nicht von einem Bad abbringen lässt und einen Grenzsoldaten, der sie überreden will, aus dem Wasser zu steigen. "Ich bin keine Frau, ich bin ein kleiner Fisch", antwortet sie und schwimmt weiter. Es ist der Mut der Verzweiflung und der Trotz von Menschen, die um ein Stück Normalität im Krieg kämpfen.

Das alles nehme ich mit von meinem Besuch in Odessa. Ebenso den Duft der Akazien und die Bilder der Straßenkünstler, das Glitzern des Meeres, wo ich Delphine gesehen habe. Ich nehme mit den Staub der von Bomben zerstörten Gebäude, die ängstlichen Blicke hinter Fenstern, die mit Klebestreifen repariert sind. Ich nehme mit den Sonnenuntergang an der Oper, die mit Sandsäcken von allen Seiten geschützt ist. Ich spüre den Sommer, der in Odessa schon im Mai beginnt. Den Sommer, der uns gestohlen wurde wie unser ganzes Leben.


Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Stiefel.


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