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Bildungsverbot für afghanische Frauen

"Sie wollen unser Leben zerstören"

Bildungsverbot für afghanische Frauen: "Sie wollen unser Leben zerstören"
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Die humanitäre Katastrophe in Afghanistan spitzt sich immer weiter zu. Frauen trifft es besonders hart: Die Taliban sind – wenig überraschend – wortbrüchig geworden und verweigern Schülerinnen den Zugang zu Bildung.

In Afghanistan begann der Frühling mit vielen Hoffnungen, die vom Taliban-Regime allesamt innerhalb kürzester Zeit zerschmettert wurden. Das traditionelle Neujahrsfest Nawroz wurde von den Extremisten aufgrund seiner vorislamischen Tradition kurzerhand abgesagt. Auch den damit verbundenen Feiertag haben sie aus dem Kalender gestrichen. Stattdessen mussten Schüler und Studenten ihren Unterricht besuchen und an dem einstigen Feiertag Prüfungen schreiben. Ausgeschlossen davon waren Schülerinnen der Oberstufe (7. bis 12. Klasse). Ihnen wurde seitens der Taliban abermals der Gang zur Schule verwehrt.

Damit brachen die Taliban wohl ihr größtes Versprechen gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Staatengemeinschaft. Taliban-Sprecher Sohail Shaheen redete in diesem Zusammenhang von "technischen Problemen" und fehlenden Schuluniformen. Ein Bildungsverbot würde es nicht geben. Doch viele AfghanInnen halten seine Aussagen für unglaubwürdig. "Die neuen Taliban sind weiterhin die alten", sagt Mohammad Hassan, ein Ingenieur aus Kabul: "Sie wollen weiterhin ihre extremistischen Vorstellungen aufzwingen und gehen vor allem gegen Mädchen und Frauen vor." Hassans Schwester und seine Cousinen hätten sich auf den Gang zur Schule gefreut, doch stattdessen wurden sie nach mehreren Monaten ein weiteres Mal von bewaffneten Taliban-Kämpfern vor dem Schultor abgewiesen.

"Warum spielen sie [die Taliban] mit unserer Zukunft?", waren die Worte einer weinenden Afghanin, die vom Lokalsender Tolo interviewt wurde. Es ging in Windeseile in den sozialen Medien viral. "Sie sprach vielen Afghanen in diesem Moment aus der Seele. Da sind wir uns alle einig", meint Hassan. Ähnlich sieht das auch Bezhan Ahmadi, ein Student. Die Entscheidung der Taliban überrascht ihn kaum. "Ihre Sittenwächter patrouillieren vor der Universität und achten besonders auf die Kleidung meiner Kommilitoninnen. Stets steht der Verdacht im Raum, dass sie sich obszön anziehen oder unanständig verhalten", erzählt er.

Taliban kritisieren Taliban

Tatsächlich stellt der jüngste Schritt der Taliban eine Zäsur dar, denn Kritik gibt es nicht nur seitens der afghanischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft, sondern auch innerhalb der Gruppierung. Vor allem auf Twitter äußersten sich sowohl gegenwärtige als auch ehemalige Taliban-Köpfe kritisch gegenüber der Entscheidung. Ähnlich verhielt es sich auch mit Personen, die dem Taliban-nahen Spektrum zugeordnet werden. "Es handelt sich um eine folgenschwere Entscheidung, die auch die Taliban selbst zerrüttet hat. Ein Bildungsverbot für Mädchen wird nämlich auch von vielen Männern innerhalb der Gruppierung nicht unterstützt", sagt Ahmad Waleed Kakar, ein britisch-afghanischer Analyst und Historiker.

Kakar verweist auf das Taliban-Regime der 1990er-Jahre. Damals gab es ähnliche Probleme, und prominente Taliban-Köpfe beschwerten sich über das Verhalten ihrer geistlichen Führung im südlich gelegenen Kandahar, der Quasi-Hauptstadt der Extremisten. "Die Führung in Kandahar wollte ihren Willen und die damit verbundenen, extremen Vorstellungen im ganzen Land durchsetzen", so Kakar. Selbst der berühmt-berüchtigte Taliban-Führer Dschalaluddin Haqqani, der aus dem südöstlichen Paktia stammt, soll damals seinen Unmut geäußert haben.

Ähnliches scheint auch heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, der Fall zu sein. Besonders offensichtlich ist auch die Abwesenheit jeglicher Logik. Das Schulverbot betrifft nämlich ausschließlich Schülerinnen der Oberstufe, während Mädchen und Frauen weiterhin die Unterstufe oder Universitäten besuchen dürfen. Während viele Taliban in Kabul mittlerweile gekonnt medienaffin agieren und mehrere ihrer Führer in den vergangenen Jahren ein Jetset-Leben zwischen dem Golfemirat Katar und dem Rest der Welt gepflegt haben, hält sich ihr offizieller Führer, Haibatullah Akhundzada, weiterhin bedeckt und hat sich kein einziges Mal in der Öffentlichkeit gezeigt. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Akhundzada, abgesehen von Kandahar und einigen Grenzregionen zwischen Pakistan und Afghanistan, nicht viel von der Welt gesehen hat. Auch der Alltag der Menschen in der Hauptstadt Kabul interessiert ihn nicht.

Reisen ohne Männer ist jetzt verboten

"Sie entscheiden einfach über unsere Köpfe hinweg und wollen unser Leben zerstören. Die misogyne Politik der Taliban hat weder mit dem Islam zu tun, noch mit unserer Kultur. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft sich gegen sie wehren wird", sagt Maria Aber*, eine Frauenrechtsaktivistin aus der westlichen Stadt Herat. Auch die betont, dass die neuen Taliban weiterhin die alten seien.

"In diesem Land können wohl nur Extreme regieren. Unser gegenwärtiger Staatschef ist ein Mann, dessen Gesicht wir nicht einmal kennen – und er bestimmt einfach über den Alltag unserer Kinder, ohne sich je damit ernsthaft auseinandergesetzt zu haben", sagt Mehdi Ahmad, der einst für eine ausländische NGO tätig war. Mittlerweile spielt er mit dem Gedanken, mit seiner Familie auszuwandern. "Ich sehe mit den Taliban keine Zukunft. Da ziehe ich es vor, im Iran oder in Pakistan zu leben", sagt er. Es habe sich deutlich gezeigt, dass auch jene Taliban-Mitglieder, die in den vergangenen Wochen und Monaten als "moderat", "pragmatisch" oder "realistisch" eingestuft worden sind, letzten Endes nichts zu sagen haben. Die Hoheitsgewalt liegt in den Händen Akhundzadas, der den Titel "Amir ul-Momineen" ("Führer der Gläubigen") trägt.

In der vergangenen Woche gab es in Kabul mehrere Proteste gegen das Schulverbot. Angeführt wurden sie unter anderem von den betroffenen Schülerinnen. In der Provinz Bamiyan haben Mädchen während einer Schulzeremonie die Banner der Taliban heruntergerissen. Für Aufsehen sorgten auch die Worte der afghanischen Frauenrechtsaktivistin Mahbuba Seraj. "Was sollen wir denn machen? Was wollen diese Menschen von uns? Sollen wir einfach verschwinden und aufhören zu existieren?", fragte sie wütend während eines Interviews.

Das Verhältnis der Taliban zur Bildung von Mädchen wurde bereits vor einigen Monaten von ranghohen Geistlichen der islamischen Welt kritisiert. Afghanistans neue Führer zeigen sich allerdings weiterhin unbeeindruckt und schränkten jüngst die Freiheiten von Frauen zusätzlich ein: Ihnen wurde das Reisen ohne männliche Begleitung ("mahram") untersagt.


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