KONTEXT:Wochenzeitung
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Polnische Postdemokratie

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Wegen Zweifeln an der polnischen Rechtsstaatlichkeit lehnt es das Oberlandesgericht Karlsruhe ab, einen Beschuldigten an das Nachbarland auszuliefern. Wie weit ist die Aushöhlung bürgerlich-demokratischer Prinzipien in Warschau vorangeschritten? Ein Überblick.

Es herrscht dicke Luft zwischen Warschau und Brüssel – mal wieder. Und es ist abermals der Umbau der polnischen Justiz, der für Spannungen sorgt. Dieser wurde von der Rechtspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), auf deutsch Recht und Gerechtigkeit, bereits 2015 eingeleitet. Doch diesmal scheint die im vergangenen Jahr wiedergewählte polnische Regierungspartei den lange schwelenden Konflikt auf die Spitze treiben zu wollen. Denn die neuen Regelungen im Rahmen der Justizreform dürften die Unabhängigkeit der Rechtsprechung in Polen irreversibel beschädigen.

Diese Bedenken treiben offenbar auch die Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe um: In einer am 9. März bekannt geworden Entscheidung lehnten sie es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ab, einen Tatverdächtigen, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, an das Nachbarland auszuliefern. Angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Polen bestünden "tatsächliche Anhaltspunkte, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung einer echten Gefahr der Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein würde".

Maulkorb per Gesetz: Kritik verboten

Anfang des Jahres protestierten in Warschau noch hunderte Richter gegen ein sogenanntes Maulkorbgesetz der PiS, das ihnen jegliche Kritik an der laufenden Justizreform und den Entscheidungen anderer Richter verbietet – ansonsten drohen Amtsenthebung, Geldstrafe oder bis zu drei Jahre Freiheitsentzug. Den zentralen Streitpunkt, den das "Maulkorbgesetz" richterlicher Kritik entziehen will, bildet ein neues Richterberufungsgremium, in dem die Regierungspartei das Sagen hat. Unter der Kontrolle der parlamentarischen Mehrheit für die PiS wirkt der Neue Landesrichterrat, wie das Gremium heißt, an der Ernennung von Richtern mit. Somit wird die Gewaltenteilung in Polen offen aufgehoben. Inzwischen hat der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro hunderte von neuen Richtern mit guten Verbindungen zur PiS ernannt. Kritik daran führt zu drakonischen Sanktionen: Es sind bereits Richter in Polen suspendiert worden, die gegen diese elementare Einschränkung der Meinungsfreiheit protestierten. Den Betroffenen drohen nun Strafverfahren.

Indes ist bislang unklar, wie weit Brüssel in der gegenwärtigen globalen Krisenlage die Konfrontation mit Warschau zu treiben bereit ist. Die EU-Kommission hat Mitte Januar einen Eilantrag beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingebracht, der die Erwirkung einer einstweiligen Verfügung gegen diese Disziplinarmaßnahme Warschaus zum Zeil hat – und dennoch hat der polnische Präsident Andrzej Duda das umstrittene Maulkorbgesetz im Februar unterschrieben. Kurz darauf verbat sich Jarosław Kaczyński, die graue Eminenz der Rechten in Warschau, alle Kritik Brüssels an der Justizreform. Es sei "völlig sinnlos", sich um die Demokratie in Polen zu sorgen, da diese nicht bedroht sei, deklarierte der mächtige Strippenzieher der PiS. Unterstützung erhielten Polens Rechtspopulisten Ende Februar aus Washington, als die amerikanische Botschafterin in Warschau, Georgette Mosbacher, die Haltung der EU in einem Zeitungsinterview beanstandete. Die EU würde die Kritik an der Justizreform zum "Erreichen ihrer Ziele" instrumentalisieren, erklärte Mosbacher vieldeutig, ohne dies zu konkretisieren.

Störenfriede werden ruhiggestellt

Diese jüngsten, noch offenen Auseinandersetzungen fügen sich somit in eine beeindruckende Reihe von Konflikten zwischen Warschau und Brüssel ein. Der Eilantrag der EU-Kommission vom Januar steht beispielsweise im Kontext eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Warschau, das Brüssel schon im April 2019 eingeleitet hat. Die EU hat bereits mehrere solcher Verfahren gegen Polen eröffnet, sowie eine weitere Klage vor dem EuGH erhoben, die auch erfolgreich war: Nach einem Urteil aus Luxemburg musste Warschau eine windige Bestimmung zur Zwangspensionierung oberster Richter verwerfen. Brüssel hat außerdem ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eröffnet, das bei gravierenden Bedenken bezüglich der Rechtsstaatlichkeit von Mitgliedsstaaten angestrengt werden kann. Polen drohen dadurch – zumindest theoretisch – erhebliche Sanktionen, die sogar im Verlust des Stimmrechts in der EU gipfeln könnten. Doch praktisch muss sich die PiS-Führung kaum Sorgen machen, da hierfür Einstimmigkeit der Staats- und Regierungschefs gefordert ist.

Diese Fülle von Verfahren und Auseinandersetzungen mit Brüssel stellt gewissermaßen den politisch-juristischen Fallout des autoritären Umbaus des polnischen Staates dar, an dem die PiS seit ihrem Wahlsieg 2015 in bewährter Salamitaktik arbeitet: Wesentliche bürgerlich-demokratische "checks and balances" werden immer weiter ausgehöhlt oder rundweg ausgehebelt, um eine immer größere Machtfülle bei der PiS zu bündeln. Begründet wird dies, unter Rückgriff auf antikommunistische Reflexe und Verschwörungsdenken, immer noch mit dem Kampf gegen den sogenannten "Układ" (das Netz, das Machtsystem). Damit meint die PiS ein informelles Netzwerk von Geheimdienstlern, Politikern, Mitgliedern der organisierten Kriminalität und der Wirtschaft, das sich während der Systemtransformation ab 1989 etabliert habe, und in dem alte kommunistische Seilschaften wirksam sein sollen.

Auch das Vorgehen gegen die Richterschaft Polens wird mit einer entsprechenden Propaganda flankiert: In den staatstreuen Medien wird eine angebliche Dokuserie namens "Die Kaste" ausgestrahlt, in der die polnische Justiz, wie der Titel erahnen lässt, als eine korrupte und abgeschottete Kaste dargestellt wird. Polens öffentliche Medien hat die PiS bereits Ende 2015 – also nur wenige Monate nach ihrem unerwarteten Wahlsieg – an die Kandare genommen. Den öffentlichen Rundfunk Polens, der zuvor als staatliche Aktiengesellschaft organisiert war, überführte die PiS in die Rechtsform eines "nationalen Kulturinstituts". Der Chefposten wird nun vom Kulturminister persönlich besetzt. Betroffen sind sowohl die öffentlichen Fernsehsender wie auch die Rundfunkanstalten. Politiker der PiS kritisierten – ähnlich wie Orbáns Rechtspartei in Ungarn – die inhaltliche Ausrichtung der polnischen Medien immer wieder als "unpatriotisch", was eine entsprechende inhaltliche Neuausrichtung und Produkte wie "Die Kaste" zur Folge hatte.

Anfang 2017 nahm die PiS Polens Armee ins Visier. Die Führungsakademie der polnischen Streitkräfte wurde vom damaligen Verteidigungsminister Antoni Macierewicz auf den infantil-martialischen Namen "Akademie der Kriegskunst" getauft, während rund ein Viertel der Generäle aus dem polnischen Generalstab herausgedrängt wurde. Flankierend kündigte die PiS-Führung an, dass Offiziere, die "zu kommunistischen Zeiten" ihre Ausbildung absolviert hatten, keine Karrierechancen mehr hätten, sodass frei werdende Stellen mit politisch zuverlässigen Kandidaten besetzt werden konnten. Zugleich wurde der Aufbau einer Miliz beschlossen, der "Armee zur Territorialverteidigung" (Wojska Obrony Terytorialnej – WOT), einer patriotisch geschulten paramilitärischen Formation, in der neben der Landesverteidigung auch ideologische Indoktrination stattfinden soll. Diese für einen Partisanenkrieg übende Hilfstruppe der Armee, in der inzwischen rund 24.000 Personen organisiert sind, soll nach Ansicht von Kritikern als ein Magnet für alle möglichen rechten bis rechtsextremen Gruppierungen dienen. Einheiten der WOT sind erstmals landesweit beim Kampf gegen die Corona-Pandemie im März 2020 zum Einsatz gekommen.

Sozialpolitik ummantelt die autoritäre Transformation

Die autoritäre Transformation des polnischen Staates wurde anfangs, als die PiS bei Säuberungen im Staatsapparat Tausende von Führungsposten mit ihren Leuten besetzte, noch von einer starken Oppositionsbewegung begleitet. Diese war zunächst in der Lage Massendemonstrationen zu organisieren und Warschau unter Druck zu setzen – wie zuletzt bei Protesten gegen ein neues, drakonisches Abtreibungsgesetz im März 2018. Doch hat die Mobilisierungsfähigkeit der liberalen Opposition inzwischen stark nachgelassen. Dies ist nicht zuletzt auf die erfolgreiche Sozialpolitik der PiS zurückzuführen, die der Partei ein festes Wählerreservoir verschaffte.

Der unerwartete Wahlsieg der polnischen Rechten im Oktober 2015 beruhte auf einer unwahrscheinlichen wahlarithmetischen Konstellation. Da die sozialdemokratische Wahlkoalition Vereinigte Linke (Zjednoczona Lewica) damals mit 7,6 Prozent knapp an der für Parteibündnisse geltenden acht-Prozent-Hürde scheiterte, konnte die PiS mit nur 37,2 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit im Parlament erringen. Den Partei-Strategen war klar, dass dies zu wenig ist, um sich dauerhaft an der Macht zu halten. Es war der Ausbau des Sozialstaates, der den Rechtspopulisten die notwendige Unterstützung verschaffte.

Polens Rechtspopulisten verfügen tatsächlich über ein soziales Standbein, da sie immer wieder die langfristigen sozioökonomischen Folgen der katastrophal umgesetzten Systemtransformation thematisierten. Die PiS ist beides zugleich: sozial und national. Polen gilt zwar ökonomisch als europäisches "Erfolgsmodell", denn das Land hat nach dem Beitritt zur EU ein hohes durchschnittliches Wirtschaftswachstum sowie eine spürbare Reduzierung der Arbeitslosenquote erreichen können. Doch überdecken die offiziellen Zahlen, die aus Polen ein neoliberales "Erfolgsmodell" machen, die krasse soziale Spaltung des Landes – zumal die nach dem EU-Beitritt sinkende Arbeitslosigkeit größtenteils auf die massive Arbeitsmigration aus Polen zurückzuführen ist. Der aufstrebenden urbanen Mittelklasse Polens steht eine große, sozial abgehängte Schicht verarmter Menschen gegenüber.

Parallelen zu Erdoğans Anfängen

Die PiS hat mit umfassenden sozialen Versprechungen – etwa der Erhöhung des Mindestlohns und der Senkung des Renteneintrittsalters – diese verarmten Bevölkerungsschichten angesprochen. Die soziale Rhetorik der polnischen Rechtspopulisten war im Wahlkampf 2015 so erfolgreich, dass sie, wie dargelegt, die neoliberal deformierte Sozialdemokratie um den Einzug ins Parlament brachte. Und es handelte sich dabei nicht um bloße Demagogie: Die PiS hielt auch Wort, sie reduzierte das Renteneintrittsalter und führte ein Kindergeld ein, von dem vor allem kinderreiche, verarmte Familien profitieren. Deswegen verfügen Polens Rechtspopulisten tatsächlich weiterhin über beträchtlichen Rückhalt in breiten Bevölkerungsschichten jenseits der urbanen Mittelklasse, der sich auch im Wahlergebnis 2019 manifestierte, als die PiS mit 43,6 Prozent abermals die absolute Mehrheit holte. Es scheinen hier sogar Parallelen zu der Frühphase der Regentschaft Recep Tayyip Erdoğans in der Türkei auf, der anfangs ebenfalls eine erfolgreiche Sozial- und Wirtschaftspolitik betrieb, um sich so den Massenrückhalt zur später forcierten Akkumulation von Machtmitteln zu verschaffen.

Daneben instrumentalisiert Polens Rechte immer wieder fremdenfeindliche, schwulenfeindliche oder antisemitische Ressentiments, um die eigene Machtstellung zu sichern. In Ermangelung substanzieller religiöser oder ethnischer Minderheiten müssen Schwule immer wieder als Sündenböcke dienen, etwa bei der Anfang 2020 initiierten Kampagne zur Schaffung "LGBT-freier Zonen", bei der Kommunen Resolutionen zum Verbot von "LGBT-Propaganda" verabschiedeten. Dieses offene Schüren von Ressentiments hat bei der PiS Tradition. Während der europäischen Flüchtlingskrise verband die polnische Rechte erfolgreich die gezielt geschürte Angst vor den Folgen mit den alten Ängsten vor deutscher Dominanz und einer allmächtig scheinenden EU-Bürokratie. Merkel, Brüssel und das Schreckensbild einer "arabischen Invasion" verschmolzen zu einem Bedrohungsszenario, das der PiS starken Auftrieb verschaffte.

Nicht immer gelingt es der polnischen Rechten, auf diese Weise politisches Kapital zu schlagen. Anfang 2018 wurde das latente antisemitische Potenzial Polens im Zuge geschichtspolitischer Auseinandersetzungen um ein autoritäres Holocaust-Gesetz zwischen Polen und Israel deutlich; es löste eine breite Welle antisemitischer Hetzte in der polnischen Öffentlichkeit aus. Den Populisten der PiS, die eigentlich dem Ausland ihr Geschichtsbild aufnötigen wollten, entglitt diese ideologische, in offenen Antisemitismus mündende Dynamik, sie verselbstständigte sich regelrecht – während die Beziehungen zu Israel und den USA infolge der zunehmenden antisemitischen Ausfälle im Land über einen längeren Zeitraum belastet waren.


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