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Vom Schandfleck zum Venedig des Südens

Vom Schandfleck zum Venedig des Südens
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Matera, in der Region Basilicata im Süden Italiens gelegen, ist in diesem Jahr eine der beiden Kulturhauptstädte Europas. Es war ein langer Weg, denn in der Nachkriegszeit galt die Stadt mit ihren 60 000 Einwohnern einmal als "nationale Schande".

Rappelvoll ist die Piazza San Giovanni vor der wohl schönsten mittelalterlichen Kirche der Stadt, als der italienische Kulturminister Dario Franceschini im Oktober 2014, in einer Übertragung auf Videoleinwand, die Entscheidung verkündet: "Die europäische Kulturhauptstadt des Jahres 2019 ist die Stadt Matera." Die Bewohner sind nicht mehr zu halten. Sie reißen die Arme hoch, hüpfen auf und ab, schwenken weiße Fähnchen und brechen in minutenlange Jubelschreie aus.


Dass Matera die Wahl gewann, war kein Selbstläufer. Siena und Perugia, Ravenna, Lecce und Cagliari hießen die Konkurrenten. Was die Jury überzeugt hat, war ein Vorschlag, der direkt aus der Bürgerschaft kam: Zugang zur Kultur für alle, so könnte man das Konzept der 2008 gegründeten Associazione Matera 2019 zusammenfassen. Die Betonung des Digitalen, die Einbeziehung bestehender Institutionen, die Bedeutung für den Tourismus: Dies alles hat der Jury gefallen. Nicht zuletzt aber auch der Enthusiasmus der Antragsteller.

Hinter dieser Begeisterung steckt der Wunsch, endlich das negative Image loszuwerden, das die Stadt seit der Nachkriegszeit quält. Für Palmiro Togliatti, damals Generalsekretär der kommunistischen Partei, war Matera eine "nationale Schande". Das sitzt tief – selbst nach der Ernennung zum Unesco-Weltkulturdenkmal 1992. Seinerzeit drohte die Altstadt, die in der Nachkriegszeit zu großen Teilen verlassen worden war, endgültig zu verfallen. Seither hat sich viel getan. Häuser und Räume, die einst ganze Familien beherbergten, sind inzwischen Zimmer von Touristenherbergen. Das Bett ist gemacht. Die Stadt kann wieder selbstbewusst in die Zukunft sehen.

Der Tiefpunkt: "Wie in Dantes Hölle"

Dass Matera einmal Sinnbild des rückständigen Südens gewesen ist, hängt zusammen mit dem später verfilmten Roman "Christus kam nur bis Eboli" des Turiner Arztes, Schriftstellers und Künstlers Carlo Levi, der als Mitbegründer der antifaschistischen Gruppe Giustizia e Libertà ("Recht und Freiheit") 1935 in das Dorf Grassano in der Provinz Matera verbannt worden war. Davon handelt sein autobiografischer Roman, in dem auch Matera vorkommt: Levis erstes und erfolgreichstes Buch. Als aufgeklärter Mensch aus der Großstadt war er schockiert von den Lebensverhältnissen im armen Süden.

"Ich kam in Matera gegen elf Uhr vormittags an", berichtet im Roman seine Schwester, die ihn in Grassano besuchen kommt. "Ich hatte in dem Führer gelesen, dass es eine malerische Stadt ist, die einen Besuch verdient, dass es dort ein Museum antiker Kunst und merkwürdige Höhlenwohnungen gibt." Zunächst sieht sie aber nur ein paar unmotiviert in der Gegend herumstehende faschistische Verwaltungsgebäude. In der Questura fragt sie, ob man ihren Bruder nicht anderswo unterbringen könne statt ausgerechnet in einem Malariagebiet. "Malaria? Die gibt es nicht", antwortet der Kommissar. Doch als er erfährt, dass sie Ärztin ist, wird er still. "Malaria gibt es überall", wendet nun der Vizequästor ein, es habe gar keinen Sinn, den Ort zu wechseln.

"Anderen Kindern begegnete ich, deren Gesichtchen voller Runzeln waren wie bei alten Leuten", erzählt sie weiter; "vor Hunger waren sie zu Skeletten abgemagert mit völlig verlausten grindigen Haaren. Aber der größte Teil hatte dicke, riesige, aufgetriebene Bäuche und von Malaria bleiche, leidende Gesichter." Schließlich gelangt sie an den Rand der Ebene und blickt in die Gravina, eine tiefe Schlucht, und zwei angrenzende, bebaute Talmulden hinab. "Diese umgekehrten Kegel, die Trichter, heißen Sassi: Sasso Caveoso und Sasso Barisano. Sie sind so geformt, wie wir uns in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt haben."

Die Hölle Dantes: viel tiefer kann man in Italien nicht sinken. Es war klar: da musste etwas geschehen. Die Malaria wurde mit DDT bekämpft, die Bewohner der Sassi in Neubaugebiete umquartiert. Viele hatten in Höhlenwohnungen gelebt, scheinbar wie in der Steinzeit. "Die Türen standen wegen der Hitze offen und ich sah in das Innere der Höhlen", schildert Levis Schwester die Situation. "Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere."

Der Roman erzählt einseitig

"Ich hatte noch nie ein solches Bild des Elends erblickt", klagt sie, "und dabei bin ich doch in meinem Beruf gewöhnt, täglich sehr viele arme, kranke und schlecht gepflegte Kinder zu sehen." Allerdings entstand durch den Roman ein einseitiges Bild: In Wirklichkeit hatte nur ein Drittel der Bewohner der Sassi in Höhlenbauten gewohnt. Und es gibt nicht nur die Sassi, sondern auch das eigentliche historische Zentrum auf einem Hügel dazwischen, wo die Oberschicht ansässig war. Die hohen Räume der Adelspaläste im Stadtteil Castelvecchio, ursprünglich eine Festung, sind geschmückt mit Fresken aus dem 17. Jahrhunderts.

Matera sei "sehr reich und dicht bevölkert", berichtet der Historiker Leandro Alberti 1556 in seiner "Beschreibung ganz Italiens". Und schon im 13. Jahrhundert ist in einer Urkunde von palastartigen Häusern in der Nähe der Kathedrale die Rede, die damals gerade erst fertiggestellt war. Offenbar ist die Stadt sehr alt. Sie wurde bereits im 9. Jahrhundert erwähnt, als Kaiser Ludwig II., ein Enkel Karls des Großen, Matera "mit Feuer und Schwert" vernichtete. Damals war Matera ein Außenposten des kurzlebigen Emirats von Bari.

Mit der Evakuierung der Altstadt wuchs das Interesse an ihrer Geschichte. Der heutige Bürgermeister Raffaello De Ruggieri war 1959 Mitbegründer des Kulturvereins Circolo La Scaletta, der 1966 ein Buch zu den Höhlenkirchen herausgab: In den unscheinbaren, damals zum Teil als Viehstall genutzten Felsenkirchen finden sich Wandbilder seit dem 9. Jahrhundert. Rudolf Kubesch, ein Kunsterzieher aus Fulda, der versucht hatte einige davon zu "retten", war von den Zollbehörden erwischt und wegen Kunstraubs verurteilt worden.

Besonders ist nicht die Kathedrale

Bis heute ist Matera hin- und hergerissen zwischen dem Bewusstsein seiner Einzigartigkeit und den alten Minderwertigkeitskomplexen. Dies führt dazu, dass Superlative bemüht werden, die einer näheren Prüfung dann doch nicht ganz standhalten: Matera sei die älteste Stadt Europas, lautet eine dieser Behauptungen. Zwar gibt es Funde aus der Steinzeit in der Stadt und in der Umgebung, was bei der herausgehobenen Position in der Nähe eines sommers wie winters gleichmäßig fließenden Flüsschens nicht wirklich wundert. Aber befand sich hier auch in der Steinzeit schon eine Stadt?

Seit dem Weltkulturerbetitel wird Matera gern auch mit Venedig verglichen. Freilich: mit den Palästen der Serenissima, der einstmals reichsten Stadt Europas, können die Materaner Bauten dann doch nicht mithalten. Es gibt keinen Tizian und keinen Tintoretto. Selbst die Kathedrale gehört, gegenüber den bedeutendsten Kirchenbauten in Bari, Tarent oder Trani, nicht in die allererste Reihe.

Die Besonderheiten sind anderswo zu suchen. Da ist zum einen die Topografie. Der atemberaubende Blick über die Schlucht ist schon seit langer Zeit der erste Anziehungspunkt für Tagestouristen, die in ganzen Busladungen auf der anderen Seite der Gravina Halt machen und am nächsten Tag wieder verschwinden.

Außergewöhnlich sind auch die kleinen, eher alltäglichen Geschichtszeugnisse, die nicht sofort ins Auge fallen: mittelalterliche Gräber, direkt in den Tuffstein gegraben, auf dem Dach der Benediktinerinnenkirche S. Lucia alle Malve und ihrer näheren Umgebung. Oder, ebenfalls dort, runde, vielleicht drei Meter tiefe Zisternen für das Regenwasser. Denn oft bleibt es viele Monate lang trocken. Als es noch keine Wasserleitungen gab, war man auf jeden Tropfen angewiesen. Solche Schätze sind durch die hektischen Arbeiten, die seit der Erhebung zum Weltkulturdenkmal eingesetzt haben, eher gefährdet. Einige wurden bereits mit Beton ausgefüllt.

Auf eigene Faust ist es schwer, alle Perlen zu entdecken

Wer sich Zeit lässt, kann in Matera Vieles entdecken. Das nach dem Archäologen Domenico Ridola benannte Museum kann sich zwar nicht mit denen von Neapel oder Tarent messen. Doch es besitzt neben vielen älteren Funden unter anderem große, rotfigurige griechische Vasen: Die Provinz war Teil der Magna Graecia, Pythagoras lebte in Metaponto, keine 50 Kilometer weit weg. Gleich nebenan im Palazzo Lanfranchi sind neben älterer Kunst auch die Gemälde von Carlo Levi aus seiner Verbannung in Grassano zu sehen. Und es gibt seit 2006 das Museo della Scultura Contemporanea (MUSMA), wo die Werke zeitgenössischer Bildhauer ausgestellt sind, die über die Jahrzehnte hinweg in Matera gearbeitet haben.

Angeboten werden verschiedene Führungen durch die Murgia, das natürliche Tuffsteinhügelland auf der anderen Seite des Tals: wahlweise zu steinzeitlichen Siedlungen, zu Flora und Fauna, Bird Watching, oder zu den mittelalterlichen Höhlenkirchen. Das Villaggio Saraceno etwa, eine bereits im Mittelalter wieder aufgegebene Höhlensiedlung mit rund 70 Behausungen, wäre auf eigene Faust schwer zu entdecken.

Dabei orientieren sich die Betreiber der Hotels und Unterkünfte an Venedig vor allem im Preisniveau: ein Problem für alle, die gern länger blieben, aber nicht so viel Geld haben. Nach wie vor ist Matera, wenn man nicht den weiten Weg mit dem eigenen Auto zurücklegt, nur über eine vorsintflutliche Kleinbahn zu erreichen, die zwar zum Kulturhauptstadtjahr ein schickes Bahnhofsdach des Architekten Stefano Boeri spendiert bekommen hat, aber den Weg von Bari in sehr gemütlichem Tempo zurücklegt. Das Kulturhauptstadtjahr hat Licht- und Schattenseiten. Während sich einige mit großem Engagement für ihre Stadt einsetzen, nutzen andere nur die Gelegenheit, von den reichlich fließenden Fördergeldern zu profitieren.


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