KONTEXT:Wochenzeitung
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Von Boulevards Gnaden

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Mit nur 31,5 Prozent der Stimmen bei der Nationalratswahl im Oktober ist Sebastian Kurz zum österreichischen Bundeskanzler geworden. Weil er keine Hemmung hat, sich von weichgespülten Rechtsnationalisten den Steigbügel halten zu lassen. Tatkräftige Unterstützung erhielt der 31-Jährige vom Boulevard.

ÖsterreicherInnen halten sich im Normalfall für manierlich und bewandert, für gut erzogen und belesen. Über Jahrzehnte pflegte das Land den Ruf einer "Insel der Seligen", mit schönen Bergen, reinen Seen, der Welt besten SkifahrerInnen, mit hohen Renten und vergleichsweise niedrigen Mieten, einem funktionierenden Gesundheits- und einem leidlich egalitären Schulsystem. Ein Weltkind in der Mitten, dank der nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossenen "immerwährenden Neutralität" gerade außenpolitisch zwischen den Machtblöcken in Ost und West.

Mehrfach legte Österreich große Hilfsbereitschaft an den Tag, zum Beispiel als 1957 aus Ungarn in wenigen Tagen nach dem von der Sowjetunion niedergeschlagenen Aufstand Zehntausende ins Land drängten, nach dem "Prager Frühling" von 1968 und vom Balkan-Krieg bis zu den bewegenden Septembertagen 2015. HelferInnen standen an den Bahnhöfen Schlange, nicht nur mit Lebens- und anderen Hilfsmitteln, sondern – tourismusgeübt – schnell gut organisiert und ausgerüstet mit Schildern, die den Flüchtlingen die Sprachkompetenzen des fremden Gegenübers anzeigten.

Am 15. Oktober 2017 wählten exakt 1 316 442 oder fast 26 Prozent der WählerInnen dennoch FPÖ. Ein Konglomerat aus Ewiggestrigen, Fremdenfeinden, Burschen- und MädelschaftlerInnen, bekennenden Ultras, latenten Antisemiten und Leuten, die wie die Anhänger der deutschen AfD oft geradezu haarsträubende Ressentiments gegen "die Politiker" und "die Medien" pflegen. Im Europaparlament sitzt die Freiheitliche Partei Österreich in einer Fraktion mit Marine Le Pens Front National, mit Rechtsextremen aus Belgien und Holland sowie schrägen Mussolini-Verehrern von der italienischen Lega Nord. Und das soll so bleiben.

Der Rechtsruck entlockt vielen Österreichern höchstens ein Hüsteln

Durch Deutschland ginge beim Einzug einer solchen Partei in die Regierung ein Aufschrei, in Österreich ist vielerorts nicht einmal Hüsteln zu hören, nach dem Motto: "Die sollen auch mal eine Chance bekommen". Dabei macht sich die "neue Volkspartei" an der Seite der "Freiheitlichen" zum Handlanger von Manövern, die gerade alle Bekenntnisse zu Europa als vordergründig erscheinen lassen – nicht nur in der Flüchtlingspolitik oder im Umgang mit EU-Ausländern. Bestes Beispiel für den Populismus der neuen sogenannten Mitte-rechts-Regierung in Wien ist der Widerruf des generellen Rauchverbots, das ab Mai 2018 in Lokalen gelten sollte.

Gegen jede Vernunft, gegen seriöse Untersuchungen und alle Brüsseler Vorgaben wurde das von der ÖVP in der Großen Koalition mitbeschlossene Gesetz wieder gekippt. Dabei wissen der bekennende Nichtraucher Kurz und der bekennende Raucher, Vizekanzler und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, dass über dieses Thema auf europäischer Ebene entschieden werden wird. Die EU mit ihren gesundheitspolitischen Zuständigkeiten und ihren Vorgaben für den Arbeitnehmerschutz könnte das in so vielen anderen Mitgliedsländern längst geltende totale Rauchverbot fordern. Aber: Die FPÖ wartet nur darauf, sich bei der Europawahl im nächsten Jahr als Bollwerk der Freiheit gegen übergriffige Bürokraten und Bevormunder aus Brüssel anpreisen zu können, natürlich mit Unterstützung der mächtigen österreichischen Boulevardzeitungen.

Der Boulevard. Auch der und sein Einfluss vertragen sich nicht so recht mit der schönfärberischen Selbsteinschätzung. Das Angebot von bundesweit insgesamt nur einem guten Dutzend Tageszeitungen wird dominiert von drei Titeln: "Österreich" (Auflage: über 400 000), die Gratiszeitung "heute" (600 000) und die zur Hälfte der deutschen Funke-Medien-Gruppe gehörende "Neue Kronen Zeitung" (900 000). In der Summe werfen sie Tag für Tag mehr Exemplare als "Bild" auf den Markt, bei zehn Mal weniger EinwohnerInnen. Nicht nur deshalb stellt der Boulevard zwischen dem Neusiedler- und dem Bodensee alles in den Schatten, was die Bundesrepublik zu bieten hat.

Kurz reißt sich die Partei unter den Nagel

Sebastian Kurz, ein abgebrochener Jura-Student, der seine ganze Strebsamkeit auf die politische Karriere konzentriert hat und schon mit 24 Jahren Staatssekretär einer SPÖ-geführten Bundesregierung wurde, ist Liebling der genannten Blätter. So gut wie keine Rolle spielt, wie sich der immer etwas ungelenk und gehemmt wirkende Aufsteiger mit dem Primaner-Gesicht die gute alte bürgerliche "Österreichische Volkspartei" (ÖVP) in geradezu atemberaubender Weise unter den Nagel gerissen hat. Nach einem in den meisten europäischen Demokratien absolut unüblichen Führerprinzip hat er Gremien nach seinem Gusto umbesetzt und zur Versammlung von Ja-Sagern degradiert. Listenplätze und wichtige Ämter werden neuerdings im Alleingang vergeben. Dementsprechend sind alle umgefärbten Kabinettsmitglieder – das Wiedererkennungszeichen der Partei auf Bundesebene ist nicht mehr schwarz, sondern türkis – Neulinge ohne Regierungs- und oft sogar ohne Politikerfahrung, wie beispielsweise Finanzminister Hartwig Löger.

Der Versicherungsmanager nahm nicht einmal an den Koalitionsverhandlungen teil, segelte unter dem neuen Adelstitel "Experte" in die Regierung und ist seit langem ein Duz-Freund des Kanzlers, dessen mit großem Geschick aufgebautes Netzwerk sich bis in den hintersten Winkel zieht. Jetzt hat Löger die ehrenvolle Aufgabe, Wahlkampfversprechungen in Höhe von satten 14 Milliarden Euro zu finanzieren. Die "Krone" befragt ihn im Interview aber nicht dazu, sondern will investigativ wissen, ob er ganz persönlich mit diesem beruflichen Umstieg nicht auf ziemlich viel Geld verzichtet. Das sei kein Beweggrund gewesen, die Herausforderung nicht anzunehmen, antwortet der Neo-Politiker artig: "Es gibt mit dieser Regierung ein Momentum für Veränderung."

Da hat der Steirer ohne Parteibuch recht. Noch nie zählten Kompetenz, Erfahrung, Kreativität oder wenigstens Eloquenz so wenig wie in der jetzt angebrochenen Ära des Sebastian Kurz'. Publizistisch konsequent gegengehalten wird nur im täglichen "Standard" (Auflage 77 000), in der linken Wochenzeitung "Der Falter" (35 000), im "Spiegel"-ähnlichen Nachrichtenmagazin "profil" (65 000) und im öffentlich-rechtlichen ORF. Den haben die neuen Mächtigen aber schon lange im Visier. Eine seiner Zierden, die "Zeit im Bild 2" – vielfach international ausgezeichnet wegen Themengewichtung, Ausführlichkeit und insbesondere knochenharter Interviews – ist allerdings nicht nur für Leute wie Strache und seinen Anhang zur linken Propagandasendung verkommen. Auch Zeitungen bashen, nicht zuletzt aus eigenen wirtschaftlichen Interessen.

Inkarnation der Wende ist ein in Österreich ebenfalls weithin Unbekannter: August Wöginger, Parteisoldat und Rot-Kreuz-Angestellter, der die 62 Abgeordnete starke Fraktion der "neuen ÖVP" im Nationalrat führen darf. Auch hier sitzen deutlich mehr Neulinge als Profis. Und nach alten Maßstäben hätte Wöginger eine herausgehobene Schaltstelle inne. Aufgefallen ist er aber bisher wenn überhaupt vor allem seiner inbrünstigen Kurz-Verehrung wegen. Auf Facebook, ohnehin ein Lieblingstummelplatz vieler der neuen Würdenträger, verspricht er "Exklusive Einblicke. Spannende Storys. Einzigartige Momente". Seine Facebook-Videos "Gust-Live" dienen praktisch ausschließlich dazu, zu jubilieren ("Schön zu sehen, dass eine positive Veränderung endlich stattfinden kann"), den eigenen Laden zu beglückwünschen und die ohnehin reichlich inhaltsleeren Kanzlerphrasen à la "Sagen, was Sache ist, tun, was richtig ist" wiederzukäuen.

Mit seiner einzigen ernsthaften politischen Prognose des vergangenen Halbjahrs lag der gebürtige Passauer arg daneben: Zwei Tage vor dem Wahlgang im Oktober wusste er ganz genau, dass eine Koalition aus Sozialdemokraten und FPÖ "längst vereinbart ist". Obwohl das Wahlergebnis eine solche hergegeben hätte, war binnen Tagen Türkis-Blau so gut wie fix. Wöginger wollte aber ja auch nicht vor einer Regierungsbeteiligung der Rechten warnen, sondern allein SPÖ-Kurzzeitkanzler Christian Kern in Verruf bringen.

Boulevard macht Stimmung gegen Sozialdemokrat Christian Kern

Die so traditionsreiche österreichische Sozialdemokratie hat ohne Zweifel viel falsch gemacht im Wahlkampf unter der Führung des Quereinsteigers und früheren Bahnmanagers. Beim Boulevard – und selbst in einigen sich für seriös haltenden Tageszeitungen – besaß sie aber nie eine Chance auf Fairness. Aus einem wiederum für deutsche Verhältnisse unvorstellbaren Grund: Der smarte 42-Jährige, der Publizistik und Kommuniktionswissenschaften studiert hat mit einer Magisterarbeit ausgerechnet über "Die innenpolitische Berichterstattung der österreichischen Tages- und Wochenzeitungen", brach radikal mit einer unseligen Tradition. Anders als seine sozialdemokratischen Vorgänger kündigte er an, keine Regierungsinserate als Wahlkampfinstrument einzusetzen. In manchen Jahren sollen so viele Millionen in Verlegerkassen geflossen sein, im Falle der "Krone" übrigens in die des Anteilseigners WAZ aus Essen. Er wolle sich "gewogenen Journalismus", so Kern im vergangenen Frühjahr, "nicht kaufen".

Die Schlacht war eröffnet. In einem wüsten Wahlkampf sah er sich einer ausgeprägten, oft anlasslosen Negativberichterstattung gegenüber, bis hin zur Verhöhnung als Barbie mit Krönchen. Eine bis heute mysteriöse Affäre um einen Medienberater, um den die PR-Abteilung der SPÖ allerdings einen großen Bogen hätte machen sollen, tat ein Übriges. Gleichzeitig gab es kaum mehr eine kritische Berichterstattung über FPÖ und ÖVP. Letztere hatte zwar in den vergangenen Jahrzehnten länger in der Regierung gesessen als die SPÖ, durfte sich aber dennoch widerspruchslos von allen eigenen Beschlüssen verabschieden und öffentlich so tun, als hätten die Sozialdemokraten das in Wahrheit prosperierende Land in einen Zustand bejammerungswürdigenden Stillstands versetzt. Die schwarzen ÖVP-Minister, allen voran der heutige Kanzler selbst, hatten eben reichlich Inserate geschaltet.

Es sollte ihr Schaden nicht sein. Nach einem Kurz-Strache-Duell im von "Österreich" betriebenen Internet-TV zum Beispiel, zwei Wochen vor dem Wahlsonntag, hatte die FPÖ den ÖVP-Chef noch verklagt, was inzwischen natürlich versandet ist. "Zwei Wahlkämpfer in Hochform", urteilte das Blatt dennoch. Und nach vollbrachtem Werk, als die Koalition vor Weihnachten stand, verlangte die "Krone" unverblümt: "Lasst Kurz und sein Team arbeiten", um gleich auch noch einen Glückwunsch hinterher zu schicken. Dabei hätten gerade die neuen ÖVP-Köpfe einen Crashkurs im kleinen Ein mal eins der Politik viel nötiger.


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8 Kommentare verfügbar

  • Heinz Greiner
    am 06.01.2018
    Antworten
    Vielleicht erinnert ja der eine oder andere in seiner Selbstgewißheit , daß die Frage mal Groß- oder Kleindeutsch gestellt wurde , bevor der Adel , den die kleindeutschen Kurzzeitzwangsdemokraten im Gegensatz zu Österreich nicht mal mit den Titeln abzuschaffen vermochten , seinen Endkampf in diesem…
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