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Ulm baut selbst

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Im Vergleich zu München und Stuttgart sind die Mieten in Ulm noch bezahlbar. Das liegt nicht zuletzt an einer vorausschauenden Liegenschaftspolitik. Statt zu verkaufen, um Geld in die Stadtkasse zu spülen, erwirbt Ulm Grundstücke, um selbst zu bauen.

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Rund 40 Prozent ihres Nettoeinkommens geben die Mieter in fast allen baden-württembergischen Großstädten durchschnittlich für ihre Kaltmiete aus. Dies ergibt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte <link https: www.boeckler.de external-link-new-window>Studie über die Wohnverhältnisse in allen 77 deutschen Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern. Nur in zwei südwestdeutschen Großstädten ist die Belastung deutlich geringer: in Heidelberg und in Ulm. Heidelberg ist ein Spezialfall, viele Wohnungen sind klein, das Durchschnittseinkommen hoch, es gibt sehr viele Altbauten und viele Neubauten. In Ulm liegt auch ohne besondere Umstände die Mietbelastung im Schnitt nur bei 30,6 Prozent.

"Die Mietbelastung", so die Autoren, "gilt in den sozial- und wohnungspolitischen Debatten als zentraler Indikator für die soziale Zielgenauigkeit der Wohnungsversorgung. Insbesondere für Haushalte mit geringen Einkommen gelten Mietbelastungsquoten über 30 Prozent des Einkommens als problematisch, weil dann (zu) wenig Einkommen zur sonstigen Lebensführung übrigbleibt."

Die 40 Prozent sind ja nur ein Durchschnittswert. Gerade Haushalte mit geringerem Einkommen geben wesentlich mehr von ihren mageren Einnahmen fürs Wohnen aus. Bei steigenden Mieten bedeutet dies in Städten wie Stuttgart nicht selten, dass sich Rentner, die ihr ganzes Leben in einem Stadtteil verbracht haben, den letzten Bissen vom Mund absparen, um dort bleiben zu können – oder aber in anonyme Hochhauswohnungen am Stadtrand verdrängt werden. Wie es anders geht, zeigt Ulm.

Mitten in der Kernstadt, am Keplerbogen, fünf Minuten vom Münster entfernt, hat die Ulmer Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft (UWS) kürzlich einen L-förmigen Komplex mit 40 Mietwohnungen erstellt. Neben Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen gibt es dort die erste Ulmer Senioren-WG, bestehend aus fünf kleinen Wohneinheiten mit gemeinsamer Küche und Wohnzimmer. "Mitten in der Innenstadt in bezahlbaren Wohnungen leben?", <link https: www.akbw.de fileadmin download dokumenten_datenbank akbw_broschueren konzept konzept_ausgabe1.pdf external-link-new-window>fragt die Architektenkammer im ersten ihrer Arbeitshefte für zeitgemäßes Wohnen. "Während diese Vorstellung für viele Städte und Kommunen nahezu unwahrscheinlich klingt, beweist Ulm, dass es durchaus möglich ist."

Zehn der 40 Wohnungen sind gefördert, aber auch die anderen bleiben im Rahmen des Ulmer Mietspiegels, der in der letzten Erhebung bei einer durchschnittlichen Kaltmiete von 7,23 Euro pro Quadratmeter angelangt war. Zum Vergleich: In Stuttgart sind es längst 9 Euro pro Quadratmeter. Bei der UWS lag die Durchschnittsmiete aller, also nicht nur der bezuschussten Wohnungen im August 2016 bei nur 5,43 Euro. Der Geschäftsführer Frank Pinsler: "Um eine bezahlbare Miete garantieren zu können, verzichten wir auf hohe Rendite."

Das unterscheidet die UWS von der städtischen Wohnungsgesellschaft SWSG in Stuttgart, die versucht, möglichst hohe Einnahmen zu erzielen, um ihre Bestände auszubauen, und zu diesem Zweck, etwa im Hallschlag oder in Zuffenhausen, auch kostengünstige Altbauten abreißt. Die Neubauwohnungen sind dann, bis auf einen kleineren Anteil an Sozialwohnungen, sehr viel teurer: Laut einer <link https: difu.de publikationen difu-berichte-12017 kommunaler-umgang-mit-gentrifizierung.html external-link-new-window>Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik eine der wichtigsten Ursachen für Mietpreisexplosion und Gentrifizierung.

Die Stadt behält ihren Grund und Boden – seit 125 Jahren

Ungefähr 7,50 Euro pro Quadratmeter kosten in Stuttgart Sozialwohnungen, anders sind sie angeblich nicht finanzierbar. Wie schafft es die UWS, wie schafft es die Stadt Ulm, so deutlich darunter zu bleiben? Das Grundstück am Keplerbogen gehört der Stadt. Die Stadt Stuttgart hätte ein solches Filetstück wohl an den meistbietenden Investor verkauft, der dann Büros, eine Shopping Mall oder Luxuswohnungen gebaut hätte. Nicht so Ulm. Die Stadt betreibt seit 125 Jahren eine konsequente Bodenvorratspolitik.

45 Quadratkilometer, das sind 37 Prozent des gesamten Stadtgebiets, gehören der Kommune selbst. Die Stadt hat es in der Hand, zu bestimmen, was wo gebaut wird und von wem. Sie kann frei entscheiden, dass am Keplerbogen die UWS, eine hundertprozentige Tochter der Stadt, zum Zug kommt und die Mieten in Grenzen hält. An dieser Politik haben bisher alle Bürgermeister festgehalten, unabhängig vom Parteibuch. Der derzeitige Amtsinhaber Günter Czisch (CDU) erklärt: "Wir sind faktisch der einzige Anbieter von Bauland in Ulm, und so können wir die Grundstückspreise kontrollieren und Einfluss auf die Baustandards nehmen."

Mindestens zwölf Millionen Euro investiert Ulm jährlich in den Erwerb neuer Grundstücke und weist neue Baugebiete erst aus, wenn die Stadt selbst Eigentümer ist. Dies gibt der Stadt einen großen Handlungsspielraum – was nicht bedeutet, dass sie sich automatisch in besonderer Weise um Wenigverdiener kümmert. Im Gebiet oberhalb des Ulmer Ostbahnhofs etwa, vom Bauherrn unter dem Namen "Wohnen am Michelsberg" vermarktet, entstanden in den vergangenen Jahren ausschließlich Eigentumswohnungen. Immerhin: der Quadratmeter kostete zwischen 2700 und 3600 Euro. In Stuttgart liegt der Preis für Neuwohnungen inzwischen bei 5740 Euro.

Auch auf dem großen Areal des ehemaligen Klinikums am Safranberg, wo auf 9,3 Hektar 485 Wohnungen entstehen sollen, war von Sozialwohnungen bisher nur wenig zu hören. Die grüne Gemeinderätin und Architektin Annette Weinreich fordert seit Jahren, verstärkt bezahlbaren Wohnraum zu fördern. Im Mai hat der Gemeinderat einen Anteil von 30 Prozent in allen Wohngebieten beschlossen.

Mit attraktiven Eigentumswohnungen werden Steuerzahler gehalten

Es geht jedoch nicht um Sozialwohnungen allein. In neuen Wohngebieten wie am Safranberg oder am Egginger Weg in der Weststadt werden geeignete Flächen für Baugemeinschaften reserviert, wie die Stadt Ulm auf ihrer Website ankündigt. Ihre Planungshoheit nutzt die Stadt auch, um Verkehrs- und Wohnungspolitik zu koordinieren: Das Baugebiet Egginger Weg liegt direkt <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne hier-geht-s-lang-4682.html internal-link-new-window>an der neuen Straßenbahnlinie 2. In fünf Minuten ins Stadtzentrum: wer holt da noch das Auto aus der Tiefgarage?

Ihr Monopol auf Grund und Boden nutzt die Stadt auch, um attraktive Eigentumswohnungen in Citynähe anbieten zu können: um den Wegzug der Steuerzahler aufs Land in Grenzen zu halten. Denn das Stadtgebiet ist begrenzt, Flächen für Einfamilienhäuser sind rar, zudem werden diese immer unerschwinglicher: Die Verkaufspreise für Eigentumswohnungen sind von 2009 bis 2016 um 70 Prozent gestiegen.

1983 erwarb die Stadt das ehemalige Werk 1 des Unternehmens Magirus, zwischen der Oberen Donaubastion und den Gleisen der Südbahn gelegen und nur wenige Meter vom Donauufer entfernt. Wo seit 1885 Feuerleitern und seit 1916 Lkw hergestellt worden waren, befinden sich heute 94 Eigentumswohnungen. Für "hohe Qualität und tragbare Kosten" erhielt der Bauunternehmer Richard Vogel 1997 eine besondere Anerkennung beim Deutschen Bauherrenpreis und im Folgejahr den Bauherrenpreis der Stadt Ulm. Es sei etwas laut, berichtet eine Bewohnerin, wegen der Bahnlinie. Aber sonst sei sie sehr zufrieden.

Eigentumswohnungen befinden sich heute auch im Magirus-Werk 2. Der 235 Meter lange, fünfgeschossige Riegel am Blautal bei Söflingen war einmal der wichtigste Industriebetrieb der Stadt. Nachdem der LKW-Hersteller ausgezogen war, nutzten verschiedene Dienstleistungs- und Handelsbetriebe das Gelände. Die Insolvenz eines Eigentümers, mit der Sparkasse Ulm als wichtigstem Gläubiger, sowie der Auszug eines Autohauses und die Voranfrage eines Interessenten, der beabsichtigte, hier einen Discounter anzusiedeln, veranlassten die Stadt Ulm zu handeln.

Ein großes Einkaufszentrum, das die Kaufkraft aus den benachbarten Stadtteilen abzieht, wollte der damalige Baubürgermeister Alexander Wetzig nicht haben. Er änderte den Bebauungsplan und beauftragte die Projektentwicklungsgesellschaft Ulm (PEG), ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das diese schließlich, da kein Investor bereit war, das Risiko einzugehen, selbst umsetzte. Der Stahlbetonskelettbau, an sich alles andere als eine Schönheit, sollte als prägendes Gebäude der Ulmer Geschichte erhalten bleiben und in ein "Stadtregal" verwandelt werden, das Platz für verschiedenste Nutzungen bot.

Außer den zahlreichen, höchst unterschiedlichen kleinen und mittleren Gewerbemietern sind dort nun in den oberen Etagen 69 Wohnungen untergebracht. 30 Meter tief ist der Bau, die Decken sind vier Meter hoch: Platz genug für großzügige Lofts zwischen 50 und 300 Quadratmeter mit variablen Grundrissen dank der Stahlbeton-Skelettkonstruktion: zu vergleichsweise moderaten Preisen, auch wenn diese im Lauf der Bauzeit von 1700 auf 3000 Euro pro Quadratmeter gestiegen sind. Für die Konversion des stadtbildprägenden Fabrikgebäudes haben Bauherr und Architekt zahlreiche Preise erhalten. Und auch die PEG schloss nach anfänglichen Schwierigkeiten am Ende mit einem positiven Ergebnis ab.

Erhalten blieb auch das Postdörfle, ein Carré in der Ulmer Weststadt zwischen Wagner- und Wörth-, Blücher- und Elisabethenstraße. Die Genossenschaft für Wohnungsbau Oberland (GWO) aus Laupheim hatte die Immobilie 2005 erworben und nach Untersuchung der Bausubstanz zunächst an Abriss gedacht. Allerdings stellte das Denkmalamt den Komplex, 1907 bis 1912 für Postbeamte erbaut, unter Schutz. Mittlerweile hat die GWO die Altbauwohnungen saniert und plant nun mit der Landesbaugenossenschaft im großen Innenhof weitere 102 Wohnungen: zu Mieten von 5,70 Euro pro Quadratmeter.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue. So Jürgen Sojka
    am 29.11.2017
    Antworten
    Ulm. Ulm? Da war doch was, das bereits mehr als 15* Jahre zurück liegt – begleitet vom SWR.
    Bürgerinnen und Bürger planen selbst die Stadtgestaltung – mit AchitektenInnen und IngenieurenInnen aus der Bürgergesellschaft.
    Viele Widerstände die zu überwinden waren, bis es soweit war, dass die Ulmer…
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