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Stadt der schrägen Töne

Stadt der schrägen Töne
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Mit seiner Elektro-Orgel und der Krautrock-Band "Faust" ist Hans Joachim Irmler in den Siebzigern weltweit bekannt geworden. Seinen Heimatort Scheer an der Donau hat er später mit einem Avantgarde-Festival auf die Landkarte der internationalen Musikszene gesetzt. Jetzt macht er gemeinsame Sache mit der örtlichen Stadtkapelle.

Der Himmel über der ehemaligen Papierfabrik gehört den Mauerseglern, die rabaukenmäßig ihre Künste demonstrieren. Zwischen den Asphaltplatten kommt mehr und mehr Grün und treibt Blüten. Ganz hinten im Innenhof geht es die Treppe hoch, durch zwei Stahltüren hindurch und schon steht man mitten im Faust Studio: Hans Joachim Irmler werkelt in der Küche und schneidet Zwiebeln für seine Kässpätzle. Ein Blick aus dem Fenster. Das Wasser unten im Seitenarm der Donau springt über drei flache Stufen, wird immer schneller, sammelt sich und kreiselt zurück bevor es weiterfließt und die Turbine zum Summen bringt.

Irmler, Jahrgang 1950, ist in Mengen aufgewachsen und hat sich ein breites Schwäbisch bewahrt, viele schwarze Haare und ein offenes, ansteckendes Lachen. Beim Kochen versinkt er genauso in sich und seine große Gelassenheit wie beim Tüfteln an synthetischen Sounds. Er hat ein halbes Leben in und um Hamburg gewohnt und seine selbstentworfene Elektro-Orgel in Stellung gebracht gegen alles, was man als eingängige, leicht konsumierbare Musik versteht. Mit der Band "Faust" lieferte der Technik-Frickler ein schräges, schrilles und improvisiertes Kontrastprogramm und zelebrierte Messen der unangepassten Töne auf höchstem Niveau – überall dort auf der Welt, wo Krautrock als Offenbarung verstanden wurde.

Ende der 90er Jahre war das Herumtingeln ausgereizt für Irmler. Er zog zurück nach Oberschwaben, nach Scheer, nicht weit von Sigmaringen. Im Industrial-Ambiente einer leerstehenden Papierfabrik fand er den idealen Raum für ein eigenes Studio. Zur Renovierung reisten Fans und Freunde aus Uganda, Schottland und anderswo an, klopften den alten Putz von den hohen Wänden, dass es nur so staubte und sprangen nachmittags zum Baden in die Donau. Das Dankeschön: Eine große Party im Sommer 2004. Und weil die weite Anreise so richtig belohnt werden sollte, warteten Irmler und seine Frau Cornelia Paul gleich mit einem feinen, dreitägigen Programm zwischen den Zwetschgenbäumen auf dem verwilderten Areal auf: Dem ersten "Klangbad-Festival".

Die "Ausgeflippten" servieren ganz ordentlichen Kuchen

Irmler lacht, wenn er sich erinnert: "Im ersten Jahr haben die Scheerer gleich die Mädle weggesperrt, weil das Gerücht umging: 'Da kommen Rocker! Ond wie's da zugeht, das kann man ja im Internet sehen!'", siehe Wacken. Tatsächlich kamen dann zwar wild gekleidete, aber durchweg friedliche Faust-Anhänger auf Irmlers Insel der Musikseligkeit. Die lieferten dem Stammtisch der Gartenwirtschaft "In der Au" zwar reichlich Gesprächsstoff, aber keinen wirklich Grund, um Anstoß zu nehmen.

"Üben die noch oder spielen die schon?", erinnert sich Bürgermeister Lothar Fischer an die ersten Mutmaßungen der Scheerer, denen die Namen der auftretenden Bands allesamt so gar nichts sagten. Von Irmler selbst wusste man immerhin, dass er ein historisches Haus mitten im Ort einwandfrei hergerichtet hat. Und, so wurde nach dem Spektakel im Ort erzählt: Da standen Blümle auf den Tischen und ein ganz ordentlicher Kuchen war das, der da von 'Ausgeflippten' kredenzt worden war.

Der Kuchen und die Blümchen blieben fester Bestandteil bei diesem sponsorenfreien Wagnis, das bald schon als Geheimtipp in der Provinz galt, um den sich längst Legenden ranken. Hier war Raum für Klanginstallationen, in denen Fahrradspeichen und Wasserschläuche ebenso gehört werden wie das Soundgewitter für die tanzwütigen Mädels.

Gleich im zweiten Jahr bezogen Irmler und die Seinen den Ort mit ein. Beim letzten Klangbad-Festival 2011 waren an die 100 Scheerer involviert und die Festival-Gemeinde auf rund 3000 Besucher angewachsen. Hier fanden Beat-Experimentalisten wie Jaki Liebezeit von Can und Multiinstrumentalisten wie Clive Bell mit seiner japanische Shakuhachi-Flöte, einer großen thailändischen Bambusmundorgel, zusammen, traten beizeiten die La Brass Banda und auch schon Mouse on Mars auf. Er hoffe nur, sagt Irmler und lacht, dass nicht immer noch einer der Festivalbesucher aus Israel oder Japan auf der Schwäbischen Alb herumirre. In Berlin und London trifft man jedenfalls immer noch Menschen, die ihr "Klangbad Scheer"-T-Shirt tragen. Das freut den Bürgermeister und auch wenn er selbst stattdessen ein weißes Hemd trägt, so teilt er doch ein hauptsächliches Anliegen mit dem Musiker: Dass es mit dem Ort auch kulturell inspiriert weitergeht.

Hinter dem Schreibtisch von Lothar Fischer im Rathaus hängt eine Stadtansicht mit dem Schloss in Öl, an der Wand daneben hat er seine persönliche Heldenecke eingerichtet. Da ist er als Feuerwehrmann zu seinen Zeiten bei der Stuttgarter Feuerwehr mit spektakulärem Feuerball zu sehen. Für einen Feuerwehreinsatz würde er auch heute noch alles stehen und liegen lassen. Er hat Maschinenbau studiert, war nach seiner Zeit bei der Berufs-Feuerwehr 14 Jahre lang Mitarbeiter des Kreisbaumeisters in Ravensburg und hat vor zwei Jahren für das Bürgermeisteramt kandidiert, "weil mir einfach gegraust hat, wer sich da sonst aufstellen ließ." Von Parteibüchern auf kommunaler Ebene hält er nichts: "Das kommt mir nicht in den Gemeinderat. Mir bleiben neutral!" Ihm, so sagt er, gehe es immer um die Sache. Auf dem Flipchart, der mitten im Raum steht, ist aufgelistet, was in der 2500-Einwohner-Gemeinde (wenn man Heudorf dazu zählt) ansteht – von der Brücke für den Waldlehrpfad bis zur geplanten E-Tankstelle.

Die Stadtkapelle spielt apokalyptische Gesänge

Scheer war über Jahrhunderte hinweg Sitz des Hochadels und mit dem Buch, das die Historie fasst, "kann man einem leicht eine Beule auf den Kopf klopfen", wie Lothar Fischer sagt. Er hat selbst noch in der Papierfabrik 'geferienjobbt'". Mit dem Familienunternehmen Späh hat Scheer noch immer an die 350 Arbeitsplätze in der Kunststoff- und Dichtungs-Branche und einen großen Gewerbesteuerzahler am Ort. Und wenn man bedenke, dass an die 60 Mieter mittlerweile in der ehemaligen Papierfabrik als Künstler, Autoschrauber und Kreative wirken, dann sei es um die Stadt mit dem 8,2 Millionen Haushalt nicht schlecht bestellt. Fischer sagt: Scheer ist der Geschichte verbunden, traditionell angehaucht - was aber nicht mit konservativ zu verwechseln sei. Für das Engagement der Scheerer stehen gleich mehrere Vereine, die über 100 Jahre alt sind: Die Fasnetszunft, der Liederkranz und die Stadtkapelle.

Diese Stadtkapelle ließ Irmler aufhorchen, als er eines Abends wie so oft mit seinem Hund Lenni über den Schlossberg spazierte. Die spielten zweifelsohne Klassik, keinen Rum-Ta-Ta-Marsch. Er setzte sich im Vereinsheim in die Probe, hörte genau zu – und dann ging alles ganz schnell. Ohne große Vorbehalte ließen sich die Musiker auf ein gemeinsames Vorhaben mit ihm ein, das mittlerweile kurz vor der Uraufführung steht: Die Gesänge des Maldoror. Eine surreale, kammerorchestrale Komposition von Carl Friedrich Oesterhelt aus München und Hans Joachim Irmler, die sich damit der apokalyptischen Texte eines gewissen Comte de Lautréamont angenommen haben. Im Kern geht es bei diesem Klassiker der schwarzen Romantik darum, den Menschen ihre Schlechtigkeit vor Augen zu führen und wohl auch um eine Abrechnung mit Gott.

Irmler, Oesterhelt, der Schlagwerker Salewski und das Modern String Quartett aus München haben schon bei anderen Projekten im Bereich der Neuen Musik in Scheer zusammen gearbeitet. Hier wurden das solide Projekt "Formen" und das eher abstruse <link https: www.youtube.com _blank external-link>"Fraktus" eingespielt. Das Zusammenspiel mit der Stadtkapelle Scheer unterstützt nun auch der Gemeinderat, indem er 4000 Euro für einen Tonträger bewilligte. Weitere 9000 für die Produktion und Aufführung kommen vom Innovationsfond des Landes.

Für den Stadtkapellen-Dirigenten Viktor Schill geht es immer um mehr als nur Musik. Wie er da so vorne steht in seinem Karo-Hemd, wirkt er sehr ruhig, freundlich und sortiert. "Keine Angst vor den Tönen!", ermutigt er die Musiker. Seit einem Jahr ist der 1985 in Kirgisistan geborene Energie-Elektroniker jetzt auch in Scheer Dirigent. Er macht Musik, seit er neun Jahre alt ist und dirigiert, seit er 15 ist. Über ein Musikstudium dachte er zwar nach, entschied sich aber dagegen – weil es halt doch eine brotlose Kunst sei. Im Alter von 20 Jahren übernahm er den ersten Musikverein. Seit einem Jahr dirigiert er die Stadtkapelle Scheer, weiß, wer von den 42 aktiven Musikern unverzichtbar ist und welchen hohen Stellenwert die Kameradschaft hat zwischen den Studenten, Angestellten und Rentnern, die hier regelmäßig zusammen kommen und gerade am Wertungsspiel der Mittelstufe teilnehmen. Bei den kirchlichen Festen mit dem Pfarrer aus Afrika ist die Stadtkapelle genauso dabei wie beim Kinder-Ferienprogramm.

Mit einem lebenden Komponisten zusammen zu arbeiten, das ist für die Musiker in Scheer auf jeden Fall etwas Besonderes. Die richtigen Töne zu treffen ist für sie ein Leichtes, da ist sich Dirigent Schill sicher. Aber: Auf die Intonation kommt es an, die ist das Interessante. Bei diesem gemeinsamen Projekt mehr denn je. Da zeige sich sehr beeindruckend, was alles möglich ist. Tuba, Posaune, Saxophon, Fagott, Flöte und Klarinette haben sich also an Pfingsten ins Faust Studio auf der anderen Seite des Schlossberges aufgemacht.

Klingt gestört und soll so sein

Anstatt der Polkas und böhmisch-mährischen Stücke, die sie ansonsten hauptsächlich spielen, ging es hier bei den Aufnahmen in der mit Elektronik vollgestopften Schaltzentrale von Irmler um Variationen, die sich immer wiederholen. Tief, düster halten die Bläser die Töne als fänden die kein Ende. Das ist es, was Irmler hören will: "Ich mag es, Klischees aufzubrechen, Menschen zu etwas bringen, was sie sonst nicht machen." Da wird es spannend für ihn. Für solche Momente nimmt er auch Phasen der "scheinbaren" Stagnation hin, hält dann ganz still: "Ich bin halt a Fisch!".

Und dann kommt alles zusammen, dreht die Musik wieder auf, geht vielleicht sogar in Walzerklänge über - um dann von seiner Orgel gepiesackt und aufgeschreckt zu werden. Das klingt gestört und genau das soll es auch. Für Irmler sind diese Querläufer im Bestehenden wie Brückenschläge zwischen den Welten, die Neues entstehen lassen. Das braucht mitunter ein gut geschultes Gehör und fordert die volle Konzentration der Zuhörer, die dafür mit überraschenden Hakenschlägen und bis dato ungehörten Finten belohnt werden.

Die Frauen und Männer der Stadtkapelle spielen Ton um Ton, so skurril das für sich genommen klingen mag, zur Uraufführung wird sich alles zusammenfügen: Mächtig, wirr, fragil. Bei den Gesängen des Maldoror, erklärt Irmler in die Runde, brauche es vor allem eines: "Ein dickes Ende. Und dann öffnet sich das Portal der Freuden!"


Info:

"Die Gesänge des Maldoror" werden am Samstag, 29. Juli um 20 Uhr, im Faust Studio in Scheer, Fabrikstraße 32-40, uraufgeführt und sind am Sonntag, 30. Juli um 15 Uhr nochmal zu hören. Karten gibt es über <link mail>reservierung@fauststudio.de oder an der Abendkasse. Die Platzanzahl ist begrenzt.


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