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Ein Vorbild für Linke

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Die britische Labour Partei von Jeremy Corbyn schaffte, was niemand für möglich hielt: Die konservativen Tories verloren bei den britischen Unterhauswahlen ihre Mehrheit. Ein Beispiel für Linke anderswo, sagt unser Autor und zeichnet die ungewöhnliche Karriere des britischen Ausnahme-Politikers nach.

Die Durham Miners' Gala im Nordosten Englands ist das mit Abstand wichtigste Fest der britischen Arbeiterbewegung. Jedes Jahr strömen Anfang Juli 20 000 bis 30 000 GewerkschafterInnen in die frühere Zechenregion von Durham, um den gewerkschaftlichen Kampf zu zelebrieren, die Solidarität zu feiern und klassenkämpferische Reden zu hören. Dieses Jahr, am 8. Juli, sprechen neben Corbyn der Filmregisseur Ken Loach, dessen <link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur zorn-auf-das-system-4015.html _blank external-link>wunderbar sozialkritischer Film "Ich, Daniel Blake" 2016 die Goldene Palme von Cannes gewann. Und Len McCluskey, der gerade wiedergewählte linke Generalsekretär von Unite, die mit 1,4 Millionen Mitgliedern stärkste Gewerkschaft im Land.

Corbyn habe das "beste Labourprogramm seit Generationen vorgelegt", begründete der Gewerkschafter Alan Cummings die Einladung. In der Tat: Seit Clement Attlee, Premierminister von 1945 bis 1951, Ende der 1940er Jahre das Nationale Gesundheitswesen NHS einführte und die Eisenbahnen, die Kohleindustrie, die Stromwerke sowie die Bank of England verstaatlichte, stand noch nie ein Labourchef den Gewerkschaften so nahe. Beim großen Bergarbeiterstreik 1984-85 gegen Margaret Thatchers Zechenstilllegungs- und Privatisierungspläne war Corbyn unter den Streikposten zu finden. Er unterstützte die Liverpooler Docker bei deren langem Kampf (1995-1997) gegen die Rückkehr des Tagelohns in den Häfen. Kein anderer Politiker nahm in den letzten Jahrzehnten so oft an Friedensdemonstrationen teil, an Kundgebungen gegen den Sozialabbau oder an Solidaritätsveranstaltungen für Flüchtlinge.

Nicht der Brexit und die nationale Frage stand im Vordergrund seiner Wahlkampf-Reden, sondern die soziale Lage im Land, dessen Lohnabhängige heute weniger verdienen als vor Beginn der Finanzmarktkrise 2008, dessen Arme und sozial Bedürftige eine Kürzungsrunde nach der anderen hinnehmen mussten, aus ihren Wohnungen vertrieben wurden und in Zero-Hour-Arbeitsverträge gezwungen wurden. Rund zwei Millionen dieser Verträge gibt es mittlerweile, die den Beschäftigten Arbeit auf Abruf (also die ständige Verfügbarkeit) auferlegen, ihnen aber keine Mindestarbeitszeit (und damit ein Auskommen) garantieren.

Corbyns Programm ist solide durchgerechnet

So ein Programm hat seit Attlee niemand mehr vorgelegt; der Aufruhr war enorm. Völlig unbezahlbar, heulte der Mainstream. Doch es war solide durchgerechnet, wie über hundert WirtschaftsprofessorInnen in einem offenen Brief erklärten: Denn parallel zu den Sozialmaßnahmen wollen Corbyn und sein Schattenschatzkanzler John McDonnell den historisch niedrigen Unternehmenssteuersatz (derzeit 19 Prozent) und den Spitzensteuersatz für Reiche anheben. Auch die Bevölkerung in den deindustrialisierten Regionen Britanniens, die angesichts von New Labour ihr Vertrauen in die Bewegung verloren hatten, gewann wieder Zuversicht.

Das Ergebnis dieses furiosen Wahlkampfs ist bekannt. Seit Attlees überraschendem Wahlsieg 1945 hat Labour nie so viele Stimmen hinzugewonnen. Die Bedeutung dieses Ergebnisses kann kaum überschätzt werden (zumal es im Schatten von zwei islamistischen Anschlägen in Manchester und London zustande kam). Erstens beendete es die von New Labours BlairistInnen stets wiederholte Mär, dass in Britannien nur eine an der rechten Mitte orientierte Politik an der Wahlurne bestehen kann. Zweitens zeigte es aller Welt, dass eine klar formulierte, kohärente Alternative zum neoliberalen Mainstream möglich ist und Menschen anspricht, die sich scheinbar von der Politik abgewandt hatten. Drittens zeigte sich, dass eine optimistische Vision ("die Hoffnung steht links", hatte Corbyns Mentor Tony Benn stets gesagt) junge Bevölkerungsgruppen begeistern kann. Und viertens schafften Corbyn und McDonnell, was undenkbar schien: Sie überzeugten rund zwanzig Prozent jener von den Eliten frustrierten 3,8 Millionen WählerInnen zurück, die 2015 für die fremden- und europafeindliche UKIP-Partei gestimmt hatten.

Und so stellt sich die Frage, ob Corbyns Strategie der notleidenden europäischen Sozialdemokratie und den mit ihr verbundenen Gewerkschaften als Beispiel dienen könnte. Antwort: Im Prinzip ja. Aber nur, wenn sie nicht bloß da und dort ein paar Reförmchen verlangen oder in Aussicht stellen, ein wenig an Hartz IV herumschrauben – und gleichzeitig die Agenda 2010 für grundsätzlich richtig halten und weitere Privatisierungen vorantreiben.

Corbyn und Sanders machen vor, wie's geht

Und wenn sie über jemanden verfügen, der die Geradlinigkeit, Bescheidenheit und Offenheit eines Jeremy Corbyn hat. Der saß 30 Jahre im Unterhaus auf einer harten Hinterbank, hat in dieser Zeit rund 500 Mal gegen die eigene Fraktions- und Parteiführung gestimmt (beispielsweise 2003 bei der britischen Beteiligung am Irakkrieg) und blieb stets seinen Prinzipien treu. Ähnlich wie dem linkssozialdemokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders haben auch Corbyn vor allem die Jungen abgenommen, dass er nicht einfach nur linke Töne klopft und von "mehr sozialer Gerechtigkeit" spricht, um Karriere zu machen.

Das war auch deswegen glaubhaft, weil sich Corbyn (wie Sanders) nicht allein auf das Thema soziale Gerechtigkeit beschränkte. Er sprach vieles an: die beständigen Kürzungen im kulturellen Bereich, den grassierenden Rassismus, die katastrophalen Aufrüstungsbemühungen, die fatale Außenpolitik, die Not der Flüchtlinge, das grassierende Unrecht, die massive Umweltzerstörung – und setzte all dem die Utopie einer offenen, sozialistischen, menschenwürdigen, abgerüsteten, ökologischen Gesellschaft gegenüber.

Da bei Rücktritten oder einem Ableben von Abgeordneten in deren Wahlkreisen Nachwahlen stattfinden, die das knappe Mehrheitsverhältnis im Unterhaus ändern können, ist nicht ausgeschlossen, dass Corbyn doch noch als Premierminister auf einer Durham Miners' Gala auftreten kann. Wenn nicht in diesem Jahr, dann vielleicht im nächsten. Er wäre dann endgültig angekommen. Seine Laufbahn hat der oft belächelte und vielfach geschmähte Politiker übrigens schon im Alter von 22 Jahren begonnen: als Sekretär einer TextilarbeiterInnengewerkschaft.


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5 Kommentare verfügbar

  • Anne Eberle
    am 07.07.2017
    Antworten
    Seit wann ist Truman ein Linker, soll das ne Satire sein. Kennt der Verfasser des Artikels nicht die Truman-Doktrin von 1947. Er hat Kommunisten verfolgt (Containment-Politik) und den Kalten Krieg eingeleitet. Präsident Truman ordnete Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki an. Nach dem…
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