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Das Echo eines türkischen Friedensaufrufs

Das Echo eines türkischen Friedensaufrufs
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Die Entlassung türkischer AkademikerInnen hat nicht nur Auswirkungen auf die Wissenschaft. Es ist ein Zeichen, dass in Erdoğans Türkei kein Platz ist für kritisches Denken und freie Meinungsäußerung. Dagegen wendet sich der Aufruf der FriedensakademikerInnen, der Auswirkungen bis nach Tübingen hat.

Wer in den vergangenen Wochen mittags über den Tübinger Holzmarkt ging, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine junge Frau mit Schild gestoßen. Täglich hält Betül Havva Yılmaz Mahnwache auf dem belebten Platz bei der Stiftskirche. "Ich wollte nicht länger schweigen zu Gewalt und Repression, ich will unsere Geschichte mitteilen", sagt die 31-Jährige. Einst war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Osmangazi Universität in Eshisehir.

Yılmaz ist "Friedensakademikerin" aus der Türkei. Den informellen Zusammenschluss der <link https: www.kontextwochenzeitung.de http: barisicinakademisyenler.net english external-link-new-window>"AkademikerInnen für den Frieden" (Barış için Akademisyenler auf Türkisch, abgekürzt BAK) gibt es schon seit 2012. Aber erst im Jahre 2016 wurden sie national und international wahrgenommen. Am 11. Januar 2016 veröffentlichten sie einen Aufruf mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein". 1128 AkademikerInnen unterzeichneten ihn. Später sollten es über 2000 UnterzeichnerInnen werden. Anlass war der von der türkischen Regierung im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei entfesselte Krieg. Ganze Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, hunderte von Verletzten wurden in Häusern und Kellern, in die sie sich zurückzogen, massakriert. Der Aufruf der FriedensakademikerInnen richtete sich gegen diese brutale staatliche Willkür und rief zu einer Rückkehr zum Frieden auf. Niemand konnte damals ahnen, welches Echo ein simpler Aufruf für den Frieden hervorbringen sollte.

Am Tag darauf, am 12. Januar, sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf dem Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul in die Luft und riss elf weitere Menschen mit in den Tod. Präsident Recep Tayyip Erdoğans Zorn aber galt den FriedensakademikerInnen: In einer Rede am selben Tag sprach er ganze 44 Sekunden von dem Anschlag, dafür aber 10 Minuten und 27 Sekunden lang über die Dreistigkeit der AkademikerInnen. Er polterte: "Hey, ihr Pseudo-Intellektuellen: Ihr seid nicht aufgeklärt, ihr seid dunkel! [...] Wir sind einem Verrat seitens dieser Pseudo-Intellektuellen ausgesetzt." Allen Unterzeichnenden wurde "Terrorismus-Unterstützung" vorgeworfen. Der mit Erdoğan verbündete Mafia-Boss Sedat Peker drohte öffentlich: "Wir werden ihr Blut in Strömen fließen lassen und darin duschen."

Es folgte eine Repressionswelle gegen die FriedensakademikerInnen, die immer noch anhält. Mittlerweile sind über 400 FriedensakademikerInnen aus dem Staatsdienst entlassen, gegen weitere 500 wurden Disziplinarverfahren aufgenommen. Viele dieser Disziplinarverfahren laufen noch, viele Betroffene sind also de facto von ihren Funktionen suspendiert.

FriedensakadamikerInnen droht der "soziale Tod"

Die Hexenjagd mündete für viele FriedensakademikerInnen in dem, was sie selbst "sozialer Tod" nennen. Ihnen ist jeder Staatsdienst verwehrt. Doch auch zivilgesellschaftliche und private Organisationen stellen sie nicht mehr an. Einige, weil sie die FriedensakademikerInnen nach der vorherrschenden politischen Meinungsmache ebenfalls für TerroristInnen halten. Andere, vor allem linke Organisationen, haben Angst davor, dass auch sie in die Schusslinie geraten. Die stigmatisierten AkademikerInnen müssen also aus eigener Initiative Wege finden, wie sie ihr Überleben sichern.

Einige von ihnen haben es ins Ausland geschafft. In Deutschland, so vermutet der Zusammenschluss selbst, befinden sich zwischenzeitlich knapp 100 UnterzeichnerInnen des Aufrufs, in Tübingen drei von ihnen.

Während Betül Yılmaz eine langjährige Aktivistin im Bereich universitärer Gewerkschaftsarbeit und Ökologie ist, kommt Taylan aus einer trotzkistischen Organisation und war lange Zeit der kurdischen Bewegung gegenüber skeptisch eingestellt. Er meint, viele der Unterzeichnenden seien Republikaner, "so wie ich mal einer war, auch wenn ich mich jetzt als Marxist bezeichne." Tebessüm Yılmaz hingegen ist Mitglied der HDP, der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (auf Türkisch: Halkların Demokratik Partisi). Die 31-Jährige beschreibt die damalige Zeit als eine, in der sie kaum mehr atmen konnte. Betül Yılmaz ging jede Nacht weinend ins Bett, und Taylan konnte nicht glauben, dass überall Schweigen herrschte: "Als in Sur-Diyarbakır die Massaker stattfanden, war es still. Nicht einmal in den Neunzigern war es so still."

In der Tat. Nirgendwo wurde der damals wütende Krieg, der in mehrheitlich kurdischen Städten der Südost-Türkei ausgetragen wurde, wirklich thematisiert. Stillschweigend wurde hingenommen, dass ein NATO-Partner die eigenen Städte, die eigene Bevölkerung bombardiert. Auch im Westen der Türkei herrschte eine eigentümliche Stille. Viele verharrten in ungläubiger Schockstarre, die kritischen Menschen fühlten sich allein und hatten den Eindruck, sie könnten nichts tun, außer dem Grauen zuzuschauen. Und dann kam der Aufruf der FriedensakademikerInnen.

Dieser wurde im Umfeld der UnterstützerInnen durchaus kontrovers diskutiert. Für Betül Yılmaz lobt er zu sehr den zuvor gelaufenen Friedensprozess, auch Taylan hält den Aufruf für zu liberal. Der Aufruf hebe den Staat in ein zu positives Licht, indem er demütig von ihm wieder eine Rückkehr zum Friedensprozess fordere. Aber er fügt hinzu: "Ich nannte mich einen Revolutionär, machte aber nichts, während reihenweise kurdische Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden." Und deshalb unterschrieb er den Aufruf und würde ihn jederzeit erneut unterzeichnen. Bei allen Differenzen eint die UnterzeichnerInnen nämlich die Wut und die Empörung über den staatlichen Vernichtungsfeldzug im Südosten und der Wunsch, nicht mehr schweigend zusehen zu wollen.

Über 100 000 Menschen stellen sich hinter den Aufruf

Der Aufruf brach einen Bann. Innerhalb weniger Wochen nach Erdoğans Hassrede auf die FriedensakademikerInnen solidarisierten sich zusätzliche Intellektuelle, auch aus dem Ausland. Es gesellten sich JournalistInnen, SchauspielerInnen und viele andere dazu. Insgesamt waren es über 100 000 Menschen, die sich öffentlich hinter den Aufruf stellten. Erdoğans Antwort darauf war umfassende Härte, um weitere UnterstützerInnen abzuschrecken. Mit dem berüchtigten Dekret Nr. 686 vom 7. Februar 2017 wurden schließlich über 2000 zumeist linke LehrerInnen und AkademikerInnen ihres Amtes enthoben. Auch Betül Yılmaz gehörte dazu. Da war sie schon seit einem Monat in Tübingen.

Denn Yılmaz wusste, dass es sie als langjährige Aktivistin sehr rasch treffen würde. "Ich habe schon zuvor zahlreiche absurde Verfahren erlebt und wusste, dass ich in Gefahr bin." Kurze Zeit später erfuhr sie von ihrer Entlassung. Taylan wollte gerade eine Stelle an einer Universität in Istanbul antreten, da kam der Militärputsch. Seitdem läuft sein Aufnahmeverfahren und ein Ende ist nicht in Sicht. Er hat sich deshalb für eine Postdoc-Stelle bei den Tübinger Soziologen entschieden. Für ihn war klar: "Wie soll ich denn Soziologie in der Türkei lehren, wenn sogar ParlamentarierInnen ins Gefängnis gesteckt werden?"

Tebessüm Yılmaz schließlich ist eine derjenigen, die de facto suspendiert wurden. Seit über einem Jahr läuft ein Disziplinarverfahren gegen sie, sie kann ihre Dissertation in der Türkei nicht fortsetzen und wird nirgends mehr angestellt. Grund ist ihr Promotionsthema. Sie schreibt über staatliche Gewalt in Kurdistan. Ihre Doktormutter warnte sie nach Erdoğans Rede: "Dein Dissertationsthema war schon immer problematisch. Jetzt ist es schlicht nicht mehr akzeptabel." Sie stellt Yılmaz vor die Wahl: "Entweder du änderst dein Thema oder du suchst dir eine andere Dissertationsstelle. Denn damit gefährdest du auch mich."

Betül Yılmaz will in Tübingen ihre Forderungen verbreiten

Am 18. März fand in Tübingen eine große Kundgebung zur Solidarität mit den AkademikerInnen und gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und für die Demokratie in der Türkei statt. Betül Yılmaz meint, damit sei ihr Ziel erreicht, ihre Geschichte hier vor Ort zu erzählen. Ab April wird sie, vermutlich gemeinsam mit Taylan, ein Mal pro Woche vor der Universitätsbibliothek Tübingen einen Stand machen, wo sie ihre Forderungen vorträgt. Sie sieht noch keine ausreichende akademische Solidarität und fordert Fernstudienprogramme und Stipendien von hiesigen Universitäten für AkademikerInnen, die in der Türkei nicht mehr arbeiten oder sie nicht mehr verlassen können.

Tebessüm Yılmaz hingegen hat Probleme damit, wie die FriedensakademikerInnen in Deutschland wahrgenommen werden. "Insbesondere die staatlichen Stellen hier wollen uns dazu drängen, dass wir Asyl beantragen. Aber das wollen wir nicht. Wir sehen uns in erster Linie als politische Subjekte, nicht als Opfer. Oft genug werden wir nicht mehr als AkademikerInnen und Forscherinnen wahrgenommen." Sie kritisiert zudem eine selektive Solidarität, die den akademischen Hintergrund des Aufrufs ins Zentrum rückt: "Man solidarisiert sich mit uns als oppositionelle Akademiker aus der Türkei, nicht als Oppositionelle im Allgemeinen." Derzeit organisieren die FriedensakademikerInnen die Nein-Kampagne zum Referendum um die derzeit laufende Präsidialverfassung.

 

Johanna Bröse ist Sozialwissenschaftlerin an der Universität Tübingen. Sie ist zudem als freie Journalistin und Redakteurin tätig.

Alp Kayserilioğlu lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Istanbul und Köln.


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