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Im Land der Säuberungen

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Sie verstehen sich als laizistisch, europäisch und demokratisch: Kurz nach dem Putsch haben zwei Türkinnen und zwei Türken in der Kontext-Redaktion über ihr Heimatland gesprochen, das zum Willkürland geworden sei. Heute, sagt einer von ihnen, herrschten dort Bürgerkriegszustände.

Das Gefühl, etwas verloren zu haben, hat sich seit August verstärkt. Die Heimat, die Freiheit, wählen zu können, ob sie in Deutschland oder in der Türkei leben wollen. Vier Monate und viele Verhaftungen und Anschläge später hat sich in der Türkei nichts zum Besseren gewendet. Das Land ist gefangen in der Spirale der Gewalt, von Anschlägen und willkürlichen Entlassungen. Erdogans Säuberungen gehen weiter. "Ich bekomme immer mehr deprimierende Nachrichten von meinen Freunden und Verwandten aus der Türkei", sagt der Mann, der sich Erdal nennt und seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Immer weniger trauten sich auf die Straße, hätten den Mut, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. 

Einer von Erdals Freunden war an diesem verhängnisvollen Samstag im Stadion von Besiktas. An der Stelle, wo kurz danach am 10. Dezember eine von zwei Bomben explodierte, die knapp 40 Menschen in den Tod riss. Viele von Erdals Freunden spielen mit dem Gedanken, nach Deutschland auszuwandern. Doch so einfach ist das nicht. Weder politisch, noch privat – viele haben Kinder in der Schule, die man nicht so einfach aus ihrem Leben reißen kann. Und auch ein Erwachsenenleben lässt sich nicht so einfach verpflanzen.

Bürgerkriegszustände seien das inzwischen in der Türkei, sagt Erdal. Den Friedensprozess mit den Kurden hat Erdogan aufgekündigt, die Antwort waren immer weitere grausame Bombenanschläge, zu denen sich militante Kurden bekannten. Und wer Frieden will, gilt schon als subversiv. Zehntausende Wissenschaftler, Lehrer, Soldaten und Richter wurden Opfer von Erdogans Säuberungen. Mehr als 35 000 Verdächtige sind in Untersuchungshaft. 121 Journalistinnen und Journalisten im Gefängnis, 168 Zeitungen, Zeitschriften und andere Medien zwangsweise geschlossen, über 2500 Journalistinnen und Journalisten entlassen, berichtet die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in Baden-Württemberg, die am 14. Dezember zur Demo gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei aufgerufen hat.

"Es wird fast wöchentlich schlimmer", sagt Erdal. Auch die gegenseitige Bespitzelung von Nachbarn. So verstünden viele den Aufruf Erdogans, dass nun jeder Bürger seine Pflicht zu erfüllen habe. 

Die Menschen würden in diesem Spannungsfeld ein bisschen verrückt, brauchten ein Ventil für diese Anspannung, glaubt Erdal, "sie verlieren ihre Tassen, sagt man so." Auf der vielbefahrenen Brücke über den Bosporus, so Erdal, hat sich eine lebensgefährliche Marotte entwickelt: Menschen halten mitten auf der Straße für ein Selfie. Erst kürzlich ist bei diesem lebensgefährlichen Sport ein Poser von einem LKW erfasst und getötet worden. Wo sich der Staat nicht mehr an Gesetze hält, scheinen auch Verkehrsregeln nicht mehr zu gelten.



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2 Kommentare verfügbar

  • andromeda
    am 30.12.2016
    Antworten
    Weitere Empfehlung : Ungangssprachlich Krieg

    Schönes Buch zu Afghanistan mit verschiedenen Autoren :
    Die USA haben dort schon ein halbes Jahr vor dem Einmarsch Rußlands aus Waisenkindern Taleban ausgebildet.

    Ähnlich schöne Zitate amerikanischer und deutscher Politiker zu Sinn und Zweck des…
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