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Welches Schweinderl hätten S' gern?

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Mehr als eine Milliarde Tonnen Lebensmittel werden jährlich weltweit verschwendet und jeder neunte Mensch hungert. Ein Viertel der Weltbevölkerung ist übergewichtig. Was ist zu tun? Im Kontext-Interview erläutert Wilfrid Legg, der den Ernährungsausschuss der Vereinten Nationen berät, Ziele, Strategien und Probleme.

Herr Legg, die erste Welt lebt im Überfluss, die dritte hungert. Wo gibt es den größten Handlungsbedarf?

Eines ist definitiv klar: Ein weiter wie bisher ist keine Option. Und es ist zwingend notwendig, jetzt zu handeln. Um langfristig ausreichend Nahrung für die Weltbevölkerung bereitstellen zu können, brauchen wir einen Wandel hin zu nachhaltigeren Strukturen - sowohl bei der Produktion als auch beim Konsum. Ansonsten ist es schwierig, allgemeine Antworten zu geben, denn die Probleme und Herausforderungen sind je nach den Gegebenheiten vor Ort sehr verschieden.

Ist es dann überhaupt möglich, sich gemeinsam auf eine konkrete Marschroute zu einigen?

Unsere Empfehlungen setzen nur einen Rahmen, die konkrete Umsetzung liegt letztlich in der Verantwortung von Regierungen und Gesellschaften. Aktuell leiden etwa 792 Millionen Menschen an chronischem Hunger und Unterernährung, die meisten von ihnen leben in Entwicklungsländern. In den reicheren Ländern sind dagegen 1,9 Milliarden Menschen übergewichtig und 600 Millionen adipös. Die Aufgabe ist jetzt, die Ziele zur Nachhaltigen Entwicklung, die sich die Vereinten Nationen 2015 gesetzt haben, bis 2030 zu verwirklichen. Das beinhaltet "zero hunger". Damit das gelingen kann, muss es an der gesamten Lebensmittelkette Veränderungen geben, von der Fertigung der Lebensmittel bis zum individuellen Konsum. Einen Königsweg für die gesamte Welt, der auf alle Länder und Lagen gleichzeitig anwendbar wäre, gibt es dabei nicht. Zusätzlich dazu braucht es das Engagement von Zivilgesellschaft und Interessenträgern, um die Entscheidungsträger in Regierungen und am Markt zum Handeln zu bringen.

Bei internationalen Absprachen ist der Fortschritt eine Schnecke, etwa zu sehen bei den Klimakonferenzen der Vereinten Nationen. Wie realistisch ist es da, dass die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis 2030 erreicht und der Welthunger beseitigt werden?

Dass es eine riesige Herausforderung ist, ist klar und unstrittig. Aber es ist schlichtweg dringend notwendig - und deswegen auch den Aufwand wert - Strapazen auf sich zu nehmen, um so viel Druck wie möglich aufzubauen. Nur so kann ein signifikanter Fortschritt erreicht werden. Und ich bin vorsichtig optimistisch, dass es möglich ist. Immerhin kann man Tendenzen des Wandels beobachten: Heute messen breite Bevölkerungsschichten globaler Nachhaltigkeit deutlich mehr Bedeutung zu als in früheren Jahrzehnten. Außerdem konnte die Zahl der Hungernden seit den 90er-Jahren um 200 Millionen Menschen reduziert werden. Also bewegen wir uns grundsätzlich in die richtige Richtung.

Hunger ist immer eine Frage von Macht und Markt.

Schon seit 1948 ist in der Erklärung der Menschenrechte verankert: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände." Ziemlich viele dieser Ansprüche sind bis heute leider die Privilegien einiger weniger, wobei sie weltweite Standards sein müssten.

Umso schwieriger wird es sein, sie durchzusetzen.

Fortschritt und Verbreitung von Technologie können einen wichtigen Teil dazu beitragen, wie auch die praktische Erfahrung von Bauern auf dem ganzen Globus. Aber Regierungen müssen ebenfalls dazu beitragen, indem sie eine Politik umsetzen, die die wirtschaftlichen, umweltlichen und sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit verbessert. Diese Nachhaltigkeit ist bedroht, wenn Bauern um ihren Lebensunterhalt und ihre Existenz fürchten müssen. Die Verbreitung und Förderung von Wissen und Entwicklungshilfe ist entscheidend und auch die Medien spielen eine wichtige Rolle dabei, das Bewusstsein für die Probleme zu verbreiten. Dabei geht es auch um Fragen sozialer Gerechtigkeit: Gerade in Entwicklungsländern leisten Frauen und die einheimische Bevölkerung oft entscheidende Beiträge zur Landwirtschaft. Häufig leiden sie aber darunter, dass sie nur schwache oder überhaupt keine Rechte haben, keinen Zugang zu ausreichend Ressourcen bekommen und bei der Arbeit ausgebeutet werden. Im Endeffekt würden gesündere, nachhaltigere Landwirtschaft und gesünderer, nachhaltigerer Konsum aber einen Zugewinn für alle Beteiligten darstellen.

Ihr Bericht betont, dass der Konsum von Tierprodukten, sowie der Umfang der Tierhaltung in einigen Regionen der Welt erheblich reduziert werden müssen. Anderswo sei die Tierhaltung aber nicht nur nötig, sondern sollte auch noch ausgebaut werden. Warum das?

Vor allem in den ärmeren Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, wo die meisten Hungernden leben, spielen Tierhaltung und Tierprodukte eine entscheidende Rolle für das Einkommen der Haushalte, Arbeitsplätze und ganz einfach auch für die Ernährung. Tierprodukte wie Eier und Milch zum Beispiel können hier essenzielle Nährstoffe liefern, vor allem für Kinder. Selbstverständlich ist es auch möglich, rein pflanzliche Alternativen zu finden. Aber in vielen betroffenen Regionen können die dafür nötigen Pflanzen nicht sinnvoll angebaut werden. Die Tierhaltung ist hingegen effizient darin, Futter, das der menschliche Organismus nicht verwerten kann, in konsumierbare Produkte umzuwandeln. Es ist also nicht machbar, einfach über Nacht auf Tierhaltung zu verzichten. Wir müssen aber diskutieren, ob wir das weltweite Ausmaß eindämmen.

In Europa und im Westen allgemein ist Hungern die absolute Ausnahme. Was sind hier die größten Herausforderungen für Industrienationen, was die Ernährungspolitik betrifft?

Mehr als 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel werden weltweit Jahr für Jahr verschwendet - das wäre mehr als genug, um den Welthunger zu beseitigen und dazu noch den ökologischen Fußabdruck erheblich zu reduzieren. Missstände beim Tierwohl und antimikrobielle Resistenzen sind ebenfalls zunehmend größere Probleme, insbesondere bei intensiven, beengten Systemen. Insgesamt sind das starke Argumente dafür, eine ganzheitliche Essenspolitik zu entwickeln - anstatt die heute häufig konkurrierenden Felder Landwirtschaft, Gesundheit, Ernährung, Umwelt und Verbraucherschutz weiterhin als voneinander getrennte Bereiche zu verfolgen. Eine andere Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Politik hier wieder mehr junge Menschen dazu ermuntern muss, Bauern zu werden. Etwa indem die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft verbessert und dabei kleine Betriebe stärker beworben werden. Das würde sich gegen den aktuellen Trend in nahezu allen Industrienationen richten, nach dem immer mehr Menschen die Landwirtschaft verlassen und die Farmen weniger, aber größere, kommerziell ausgerichtete Konzerne werden.

Nach Schätzungen soll die Weltbevölkerung bis 2050 auf etwa 9,7 bis 10 Milliarden Menschen wachsen. Ist es da überhaupt möglich, langfristig eine nachhaltige Essensversorgung zu erreichen?

Einschlägige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass es möglich wäre. Aber es ist ein schwieriger Balanceakt: Einerseits müssen wir die Effizienz in der Produktion erhöhen, mehr Nahrung verfügbar machen und gleichzeitig deutlich nachhaltiger werden. Die Landwirtschaft der Zukunft muss außerdem adaptiver und flexibler werden. Wir haben in der Geschichte schon gesehen, wie sich Dürren, Fluten und Seuchen auf Tierhaltung und Ernten ausgewirkt haben. Hinzukommen Klimawandel und Erderwärmung, die sich mit großer Sicherheit ebenfalls negativ auf die Erträge auswirken werden - vor allem in Entwicklungsländern. Wir müssen also Maßnahmen ergreifen, um hier anpassungsfähig zu sein und die Risiken besser in den Griff zu bekommen. Es lässt sich nicht abschätzen, wie viel Geld hier insgesamt nötig sein wird und wie sich das auf die Lebensmittelpreise auswirken wird. Insgesamt ist die Geschichte der Landwirtschaft aber in weiten Teilen eine Erfolgsgeschichte.

 

Der Wirtschaftswissenschaftler Wilfrid Legg ist Berater für Agrar- und Umweltpolitik. Der Brite war zwischen 1981 und 2011 für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD tätig, von 1992 an als Chef der Abteilung Agrarpolitik und Umwelt. Das Interview wurde auf Englisch geführt. 

Alle HLPE-Berichte sind online <link http: www.fao.org cfs cfs-hlpe reports en external-link-new-window>hier zu finden.


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1 Kommentar verfügbar

  • walli
    am 24.10.2016
    Antworten
    Die menschliche Reproduktionsfähigkeit zu steigern sollte uns alle Anstrengung wert sein.
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