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Brecht im Irak

Brecht im Irak
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Christoph Nix wundert sich. Der Chef des Konstanzer Theaters erlebt im Nordirak eine bessere Kulturpolitik als unter Grün-Rot in Baden-Württemberg.

Die grün-rote Koalitionsvereinbarung in Baden-Württemberg widmet der Kulturpolitik wenige Zeilen. Was man darin liest, könnte ein Grundschüler irgendwo abgeschrieben haben, ohne den Sinn zu verstehen: Kultur ist notwendig, besonders, wenn sie sozial ist. Das ist der Tenor, und Theodor W. Adorno würde hinzufügen: das ist der Jargon der Eigentlichkeit.

Im Norden des Irak ist das anders. Die jungen kurdischen Provinzregierungen setzen auf Kultur- und Theaterpolitik. Im Juli rief mich Ihsan Othmann, ein kurdischer Regisseur an. Er schlug vor, die gerade erst in Konstanz inszenierte "Mutter Courage" in Erbil zu zeigen, der, wenn so will,Mit diesem Plakat wurde das Theaterfestival in Erbil angekündigt. Foto: Stadt Konstanz Hauptstadt von Kurdistan. Da fragt einer aus dem Orient nach dem alten Brecht, und ich antworte ihm: Kennt ihr den? Und er sagt, wenn einer etwas zu Nachkriegsgesellschaften zu sagen hat, dann doch Brecht. Manchmal wissen die anderen mehr über unsere eigene Kultur, als die real existierenden Politiker. Woher kommt das?

Nachts sitzen unsere Bühnentechniker und Schauspieler mit den Soldaten vor dem Theater von Erbil, sie schwatzen mit Händen und Füßen, trinken Tee, und unsere Beschützer zeigen der "stummen Kathrin", wie man das Magazin eines Schnellfeuergewehrs wechselt. Wenn Alissa oder Kristin sich weigern, solch ein Gewehr zu berühren, dann lachen die Männer, so wie solche Männer lachen, verständnisvoll und überlegen zugleich.

Es ist eine liebevolle Stimmung, im September 2011 nach dem Krieg, wir haben zwei Stunden gespielt, aber das Publikum hat das gesprochene Wort nicht verstanden, obwohl Heimkehrer aus Deutschland im Auditorium sitzen, auch Deutsche wie der missmutige Generalkonsul und Vertreter der bundesrepublikanischen Wirtschaft, um sich Brecht zumuten zu lassen. Es gibt eben Leute, die bleiben unerreichbar. Was haben sie nur gelernt auf ihren diplomatischen Akademien: dass Kultur im Feuilleton steht.

Der Beifall ist kurz und heftig

Im Programmheft des Internationalen Theaterfestivals von Erbil steht etwas anderes: "Here is civilization, humanity and art, creative art, new systematic renovation and talent."

Als die Mutter Courage, gespielt von der Isländerin Solveig Arnardottir, ihre Tochter Kathrin (gespielt von Kristin Muthwil) tot im Arm hält, springen die über 700 Zuschauer auf und klatschen, kurz und heftig, einmal, aber sehr heftig, wie es ihrer Tradition entspricht.

Wir sind glücklich, die Schauspieler und der Regisseur, die Kollegin von Ton und Licht, die Anspannung gelöst, und wissen doch nicht wirklich, ob die Szenen von Vergewaltigung und Sexualisierung zu viel waren für ein islamisches Land, zu viel auslösten an Schmerz, zu viel rührten am Tabu, das uns fremd bleiben wird. Der Norden des Irak ist liberal, wird von den Kurden offengehalten, und doch sind wir in einem Land, in dem die Frauen wenig vorkommen auf der Straße und in der großen Literatur.

Das Konstanzer Bühnenbild ist heil in der Media Hall in Erbil angekommen. Foto: Stadt Konstanz

Ein Theaterfestival hat gerade stattgefunden, mit Gruppen aus der Schweiz (Sensitive Chaos), Schweden (Fröken Julie), Griechenland (Meta – The end of the world), Italien (Mato de Guera), Frankreich, Polen und dem südlichen Irak. Theaterleute aus gesicherten Verhältnissen treffen auf Kollegen, die sich ihres Lebens nicht sicher sein können. Viele kleine Freundschaften sind entstanden mit den Iranern, mit japanischen Tänzern, mit den Busfahrern, den Platzanweisern und erst recht mit den Teilnehmern der Workshops.

Kein Sieger, nur Gewinner beim Theaterwettbewerb

Johannes hat an der deutsch-irakischen Schule einen Theaterworkshop geleitet für Viertklässler, die sich nichts mehr wünschten, als nach Hause, nach Deutschland zurückzukehren. Die zwölfjährigen Mädchen spielen Geschichten von Pferden, die krank werden und sterben. Die Jungen erzählen vom Krieg, wie alle Jungen mit Bum-Bum und großen Helden.

Der Berliner Regisseur Sascha Bunge spricht über die Szene bei Brecht. Eberhard Wagner, ehemals geschäftsführender Direktor am Gorki-Theater und Jurymitglied, ist der Liebling der kurdischen Schauspieler. Die beiden Männer aus Berlin sind ein wunderbares Team, und wenn sie später die Preise vergeben, so wird es keine bestprämierten Stücke geben, sondern bemerkenswerte Stücke, niemand steht vor dem anderen – und das ist doch Diplomatie, davon könnte Politik lernen. Ich habe mit Professoren und Studenten der "Fakultät Theater" Szenenunterricht nach Augusto Boal gegeben, den Narren im Norden des Irak gesucht und Brüder gefunden.

Als an unserem letzten Abend in Erbil die Theatergruppe aus Bagdad auftrat und das Stück "Democracy in the orient – A Sickness by Heiner Müller The Horatier" spielte, da war es still, selten so still, auf dem Festival in Erbil.

Großes Theater, geboren aus der Verzweiflung

Wieder ist es die Nacht, die es kühl werden lässt, wieder entdecken wir einen neuen Ort, den Campus der Kunstuniversität, und wieder fällt der Strom aus, wieder geht das Licht an, und vier große Geländewagen fahren auf das Spielfeld:

Ein Mann im Anzug springt heraus, gekleidet wie alle Männer, alle Politiker vom Orient bis zum Okzident, und dann folgen ihm andere, starke, junge arabische Spieler, in Unterwäsche gekleidet, und es eröffnet sich eine große Choreografie, zunächst und lange Zeit ohne ein einziges gesprochenes Wort, elf, oder sind es zwölf Schauspieler, kämpfen um einen Platz, sichern sich einen Stuhl, endlich ein Platz in der Mitte, ein Platz im Parlament, besser noch in der Regierung, im Mittelpunkt, an der Macht, und wir sehen zum x-ten Male das Spiel des Mannes mit dem Stuhl, sie könnten Clowns sein, aber sie wollen die Macht, Stühle fliegen, werden wieder aufgefangen, Männer springen und landen, tanzen, als sei nichts geschehen. Nein, Männer weinen nicht, besonders nicht im Orient, und dann beginnt gesprochener Text, mit ihm der Auftritt der Frau: die Protagonistin, die Anklägerin, die Wäscherin, beschämt, und kämpft, unterliegt, unterliegt doch nicht.

Der Beitrag der Theatergruppe aus dem Irak, kraftvoll und wütend. Foto: Stadt Konstanz

Theater aus Bagdad, in arabischer Sprache, die hier kaum einer versteht, großes Theater, kraftvoll und wütend, geboren aus der Verzweiflung, erst vor drei Tagen ist einer aus der Gruppe erschossen worden, zu Hause in der Küche: Democracy in the orient.

Frank-Walter Steinmeier hielt Kultur nicht nur für Beiwerk

Haytham Abdulrazaq hat diese Inszenierung zu verantworten. Wir müssen uns diesen Namen merken, auch wenn es uns schwerfällt, denn er hat etwas zu sagen, und er arbeitet unter lebensgefährlichen Bedingungen, vielleicht nicht hier in Erbil, aber in Bagdad, er kämpft mit seinen orientalischen Männern und der anmutigen Frau für ein Theater unter demokratischen Verhältnissen, mit den besten ästhetischen Mitteln der Schauspielkunst.

Wenn wir später einmal sagen, wir hätten nichts davon gewusst, lag es auch an unserer Presse in Europa, denen dieses, eines der vielen Theaterfestivals, einen weiteren Vorbericht nicht wert war, zu weit, vielleicht. Keine Sendezeit, vielleicht keine Hotels wie in Salzburg oder Avignon, ganz sicherlich.

Wir duften Brecht spielen im Orient, wir haben keinen Pfennig von der deutschen Kulturverwaltung dafür bekommen, nur der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat für uns eine Geldspende aufgetrieben, weil er sagte, Erbil sei eine große Hoffnung. Und man muss anmerken, dass Steinmeier der einzige deutsche Außenminister war, der Schriftsteller und Theaterleute in seinen Delegationen mitnahm, weil er Kultur nicht nur für Beiwerk, sondern für konstitutiv hielt. Die CDU/FDP-Bundesregierung hingegen sieht im Norden des Irak überwiegend, ja ausschließlich ökonomische Interessen.

Man vergisst nicht so schnell, was arabische Gastfreundschaft sein kann

Wir waren mit über 20 Azubis und Inspizientin, Schauspielern und Technikern da, das war ein Geschenk. Einmal, dass wir so zusammen waren, als Kleinunternehmen Theater, zum anderen, weil man so schnell nicht sinnlich vergisst, was arabische Gastfreundschaft sein kann. Aber auch der Terror von Saddam Hussein, der in den 70er-Jahren Kurdistan mit Giftgas zu zerstören versuchte, ist aus dem Bewusstsein und der Trauer der Menschen nicht heraus.

Einen haben wir zurückgelassen, den Bühneninspektor Sebastian Schnorr, der wartet noch auf den Lastwagen, der nicht kam. Denn wir haben nicht genug Geld, um unsere Licht- und Tonanlage einfach dort zu lassen. Mittlerweile ist alles wieder da, beschädigtDie Regisseure Christoph Nix und Ishan Othman. Foto: Stadt Konstanz, denn die türkische Spedition hat offenbar keinen großen Respekt vor den Kurden und durchgeknallten Deutschen, die da auch noch hinfahren müssen.

Unseren christdemokratischen Konstanzer Kulturbürgermeister haben wir wieder mitgebracht, er war der eigentliche Diplomat, zugewandt und freundlich haben die Kurden ihn begrüßt – und wir sind uns einig, der Islam ist Teil einer großen, internationalen Theaterkultur: "Das Frühjahr kommt! Wach auf, du Christ! Der Schnee schmilzt weg! Die Toten ruhen!" Heißt es am Ende bei Brecht, und den Rest des Textes lassen wir heute einmal weg, denn wir haben ein paar Tage zusammengelebt und Theater gemacht – da musste der Tod auf uns warten.

Professor Dr. jur. Christoph Nix lehrt an der Universität Bremen Strafrecht und ist Intendant des Theaters Konstanz.


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