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Keine Hungersnöte, keine Kriege, keine Vertreibung: Mindestens 80 Prozent der Weltbevölkerung würden liebend gerne mit den Menschen in Österreich tauschen. Bei den Bundespräsidentenwahlen ließ dennoch die Hälfte die Wählerschaft ihrem Frust freien Lauf. Nur ein Kraftakt der Vernünftigen verhinderte den Einzug eines deutschnationalen Rechtspopulisten in die Wiener Hofburg.

Während in Österreich zäh und sorgfältig – und unter gezielt von der FPÖ gestreuten Fälschungsvorwürfen – die Briefwahl-Stimmen ausgezählt werden, sitzen Staats- und Regierungschefs und Hunderte Vertreter von Hilfsorganisationen auf Einladung der Vereinten Nationen beim ersten Nothilfegipfel der Geschichte in Istanbul an einem Tisch. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon nennt die Lage an den aktuellen Brennpunkten dieser Welt die "schlimmste humanitäre Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs": 125 Millionen Menschen leben in bitterster Armut, 60 Millionen sind auf der Flucht. 1800 Kilometer entfernt in Kitzbühel, wo die Millionärsdichte hoch ist und Ausländer nicht mit Schleppern, sondern in der Premium-Klasse anreisen, haben fast 54 Prozent der Wähler und Wählerinnen Norbert Hofer gewählt. In Ischgl, der Wintersporthochburg mit ihren immer neuen Nächtigungsrekordzahlen, sind es fast 65.

Leitartikler und Politikprofessoren propagieren dennoch handgestrickte Analysen zur FPÖ als der neuen Partei der kleinen Leute, als Sammelbecken von empörten Zukurzgekommenen, deren Sorgen und Ängste ernst genommen werden müssen. Es ist dasselbe Lied wie jenes über die AfD-Klientel in Deutschland. Nicht, dass da nichts dran wäre, aber mit den Abgehängten und Vergessenen kann die Hofer-Wählerschaft nicht ausreichend beschrieben sein. Es ist schlicht nicht die Hälfte der Bevölkerung abgehängt, geplagt und vergessen.

Viel war in diesen bewegten Tagen unter den aus aller Herren Länder angereisten Medienschaffenden auch die Rede von der Spaltung der Alpenrepublik mit den über acht Millionen Einwohnern. 60 Prozent der Frauen wählten den bedächtigen Universitätsprofessor Alexander Van der Bellen, aber nur 40 Prozent der Männer; in den Städten hat der frühere Grünen-Bundeschef zum Teil mit riesigem Vorsprung gewonnen, auf dem Land und erstaunlich oft ausgerechnet in renommierten Tourismusregionen der Ingenieur Hofer mit seinem (zu) freundlichen Lächeln.

Vor allem aber ist das Land gespalten in zwei noch ganz andere Lager: auf der einen Seite jene, die mit Vernunft und Realitätssinn auf die unbestreitbaren Probleme reagieren – darunter höhere Arbeitslosigkeit als gewohnt –, darüber jedoch die Errungenschaften von mehr als 60 Jahren Stabilität nicht aus den Augen verlieren. Und auf der anderen Seite die, die am liebsten das sogenannte System demolieren würden, die eine pauschale Wut auf Staat und Parteien entwickelt haben und sich in irrationale Ängste vor gar nicht vorhandenen Flüchtlingswellen hineinsteigern.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die Bildung der grün-schwarzen Koalition auch mit der Hoffnung verbunden, auf diese Weise verhindern zu können, dass sich die Alternative für Deutschland (AfD) weiter in die Mitte der Gesellschaft vorfrisst. Auf seiner Stippvisite in Wien zur Unterstützung des langjährigen Parteifreunds Van der Bellen erfuhr er, wie genau das der österreichischen Rechten längst gelungen ist. Hofer, der EU-Kritiker, der Xenophobie schürt, der 2013 im Parlament auftrat mit einer Kornblume im Knopfloch, dem Nazi-Geheimzeichen aus der Zwischenkriegszeit, brachte in der Stichwahl so viele Menschen hinter sich wie kein anderer Rechtspopulist in Europa: ein Rekord der besonderen Art, wahrscheinlich neidisch beäugt von Extremisten in Ungarn, Polen, Tschechien, Frankreich, Holland, Finnland. Und natürlich von Frauke Petry, die es sich nicht nehmen ließ, in der Hoffnung auf einen Sieg eigens zur Wahlparty in den "Wiener Wurschtlprater" anzureisen.

Natürlich warten Hofer und seine Freunde selten mit konstruktiven Vorschlägen zur Lösung von Problemen wie Verteilungsgerechtigkeit, Arbeitslosigkeit oder Staatsverschuldung auf. Aber viel zu wenige nehmen das den Rechtspopulisten übel. Die Realitätsverweigerung der Anhängerschaft geht so weit, dass unstrittig der FPÖ zuzurechnende Affären und Skandale für sie offenbar keinerlei Rolle spielen. Allen voran die Milliardenverluste der Hypo Alpe Adria, die bis heute auf den Steuerzahler durchschlagen. Maßgeblich verursacht wurden die von Jörg Haider, dem damaligen Kärntner Regierungschef und Übervater, der vor acht Jahren nachts volltrunken gegen eine Mauer raste. Ausgerechnet Norbert Hofer ist Vorsitzender eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich mit der ebenfalls milliardenschweren Abwicklung der 2007 an die BayernLB verkauften Bank befasst. Seit Jahren kommt Haider in kritischen Rückblicken zahlreicher Medien vor, aber die gelten – ganz ähnlich wie in Deutschland – zwischen Bodensee und Burgenland weithin als Lügenpresse.

Die FPÖ-Anhänger stören sich auch nicht daran, dass die Partei im Vorfeld des zweiten Wahlgangs glatt die Legitimation der Bundespräsidentenwahlen unterminiert. So mahnte Generalsekretär Herbert Kickl bereits in der vergangenen Woche zur Wachsamkeit: Der gewaltige Anstieg bei den Briefwählern werfe einmal mehr die Frage auf, ob bei Verfügungsberechtigung und Auszählung tatsächlich dem Wählerwillen entsprochen werde – "oder ob Helfershelfer des gegenwärtigen Politsystems hier vielleicht die Gelegenheit nutzen könnten, dem Wählerwillen zugunsten des Systemrepräsentanten Van der Bellen 'nachzuhelfen'".

Soziale Medien spielen wichtige Rolle beim Erfolg der FPÖ

Am Wahlabend selber konstruiert Parteichef Heinz-Christian Strache wider besseres Wissen einen angeblich verdächtigen Unterschied zwischen dem Ergebnis ohne die zur Briefwahl verwendeten Wahlkarten – bei dem Hofer vorne lag – und den Hochrechnungen im ORF inklusive Wahlkarten, die ein Patt mit leichten Vorteilen für den Grünen auswiesen. Auf seiner Wahlparty sagt der Kandidat selbst wenige Stunden später – mit einem vielsagenden Augenzwinkern: "Die Wahlkarten werden schon ein bissl eigenartig ausgezählt." Und nach der amtlichen Niederlage inszeniert sich die Partei rund um ihre Entscheidung, die Wahl anzufechten oder nicht. Der Zweck der ganzen Aktion aber ist längst erfüllt, im Netz toben sich die Verschwörungstheoretiker darüber aus, dass das Ergebnis der Wahl ohnehin schon seit Monaten feststehe.

Überhaupt das Netz: Die Rechtspopulisten nutzen die sozialen Medien mehr als alle anderen Parteien, Hofer feierte dieser Tage das 200 000. Like. Zum Vergleich: Winfried Kretschmann, bekanntlich beliebtester Politiker Deutschlands, kommt auf 25 000. Im Netz wird gehetzt, verdreht und unterstellt. Aber nicht nur. Ganz nach dem Vorbild der harten Rechtsaußenszene spielen inzwischen auch Videos und Musik eine wichtige Rolle – Verhetzung allein könnte sich ja totlaufen mit der Zeit.

Sogar ein Song ist komponiert, eine antieuropäische Schnulze, die zur immer und ewigen Liebe für Österreich aufruft und zum Schwur "auf euer Land". Das Lied kursiert hunderttausendfach als heimliche Hymne im Netz, auf dem dazugehörigen Video werden gefühlt Millionen Flaggen geschwenkt – natürlich ohne das als sozialistisch verschriene offizielle Wappen mit Hammer und Sichel. "Immer wieder Österreich" soll auch einen anderen Song ausstechen, Rainhard Fendrichs "I am from Austria", in dem ausdrücklich auf Faschismus und Nationalsozialismus Bezug genommen werden. Auf einschlägigen Seiten wird der Liedermacher ohnehin schon lange beschimpft als Vaterlandsverräter. Denn der Begriff Patriotismus ist längst umgedeutet, weil nach den FPÖ-PR-Sprüchen nur Patriot ist, wer "aufsteht" oder "abrechnet" mit diesem "System".

Das Flüchtlingsthema war – wie in Deutschland zu den Landtagswahlen – Brandbeschleuniger des Rechtsaußen-Ergebnises von exakt 49,65 Prozent; ausgerechnet in jenen Regionen, siehe Kitzbühel oder Ischgl, in denen extrem wenige Flüchtlinge leben. Eine Hochburg Hofers ist Wiesfleck im Südburgenland mit rund tausend Einwohnern, vielen Eigenheimbesitzern und einem Gerücht, das sich trotz vieler Dementis hartnäckig hielt: In einem leer stehenden Einfamilienhaus sollten angeblich Migranten untergebracht werden. Wurden sie zwar nicht, aber dennoch fuhr der Rechtspopulist hier satte 83 Prozent ein.

Eine bundesweite Hochburg von Alexander Van der Bellen ist hingegen der 16. Wiener Gemeindebezirk, in dem die Migrantenquote bei einem Viertel liegt. Anfang Mai hat auf dem Yppenplatz – einem früheren Problemviertel, das mit großem ehrenamtlichen, öffentlichen und finanziellen Engagement in den vergangenen Jahren umstrukturiert wurde – ein psychisch kranker Afrikaner eine Frau erschlagen. Schnell fand sich im Netz, aber auch in der realen Welt die Zivilgesellschaft zusammen: Wiener, Türken oder Kroaten mit und ohne österreichischen Pass, Muslime, Christen und Atheisten traten der Ausschlachtung der Bluttat durch die FPÖ gemeinsam entgegen. Van der Bellen kam im entsprechenden Stimmbezirk auf 83,5 Prozent, im Stadtteil Ottakring auf 68 und im 15. Wiener Bezirk, mit einer besonders hohen Zahl an Zuwanderern, auf fast 70. Exakt aus solchen großstädtischen Regionen, selbst oder gerade jenen mit hohem Ausländeranteil, stammen viele der 31 026 Stimmen, die am Sonntag den Unterschied ausmachten.


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10 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 02.07.2016
    Antworten
    Es kam wie ich es am 25.Mai vorausgeahnt habe. Widerspruch und Neuwahl. Die Österreicher haben nun die Möglichkeit nun ein Zeichen zu setzen, entweder Richtung Öxit, bzw. den Weg Ungarns und Polens zu gehen, oder zurück in die Europäische Mitte. Die vorgelebte Reue der Briten über den Drohenden…
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