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Als schwäbischer Kurde zurück im Irak

Als schwäbischer Kurde zurück im Irak
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Salam Kadir war ein Vorzeigeflüchtling. Heute lebt der "kurdische Schwab" wieder im Nordirak, wohin derzeit viele Zehntausend Menschen vor dem selbst ernannten "Islamischen Staat" fliehen. Begonnen hat das Drama vor 100 Jahren, als die Engländer einmarschierten. Ein verdrängter Teil der Geschichte des Ersten Weltkriegs.

Salam Kadir ist nur schwer zu erreichen. Über Facebook ist zumindest ein beschränkter Kontakt zustande gekommen. Es geht ihm gut, doch er macht sich Sorgen, dass es wieder zu Massakern kommt wie in den 80er-Jahren, als er nach Baden-Württemberg geflüchtet war. In der Zeit steht der Irak unter Diktator Saddam Hussein bei westlichen Politikern und Wirtschaftsführern hoch im Kurs. Da passt es nicht ins Bild, dass der gelernte Agraringenieur immer wieder von Massakern im Nordirak berichtet, der mehrheitlich von Kurden bewohnt wird. Das schlimmste ist der Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha im März 1988. "Innerhalb weniger Minuten starben etwa 5000 Menschen", berichtet Kadir. "Doch damals gab es nur wenige couragierte Menschen, die sich mit dem kurdischen Volk solidarisierten. Die Völkergemeinschaft schweigt."

Kadir ist eine Kenner der kurdischen und arabischen Geschichte. Und der Giftgasanschlag von Halabdscha hat ihn schon deshalb nicht ruhen lassen, weil die Stadt im Gouvernement Sulaimaniyya liegt, der Heimat der Familie Kadir. Viele Jahre später, als die Kurden im Nordirak wieder das Sagen haben, besucht Kadir die Stadt in der iranischen Grenzregion, fotografiert das monumentale Denkmal und den "Friedhof der Märtyrer", stellt die Bilder ins Netz oder zeigt sie bei Vorträgen in Deutschland.

Ob beim Arbeitskreis Asyl in Stuttgart, bei Veranstaltungen oder unter Nachbarn, Salam Kadir, der "kurdische Schwab", wie er sich selbst bezeichnet, hat immer wieder über die Geschichte der Flucht, des Terrors und der Kriege im Zweistromland berichtet. Nicht aufdringlich, aber er hat Position bezogen. Und diese Geschichte begann vor genau hundert Jahren im ersten Jahre des Ersten Weltkriegs.

1914: Briten marschieren in Basra ein

Damals, Anfang November 1914, landen britische Truppen bei Faw. Die Stadt liegt im heutigen Irak direkt am Wasserweg Schatt al-Arab, der die Grenze zum Iran bildet. Faw (auch Fau oder Fao geschrieben) war die wichtigste osmanische Festung am Persischen Golf. Ende November nehmen die britischen Truppen die Provinzhauptstadt Basra ein. Ziel ist die Besetzung Bagdads und des gesamten osmanischen Teils des Persischen Golfes – vor allem um die Sicherheit der Ölanlagen und den Weg nach Indien zu garantieren.

Doch zunächst halten türkische Truppen die Engländer vom Vormarsch nach Bagdad ab – unterstützt von deutschen Einheiten. Weil die Briten den Arabern die Befreiung von der osmanischen Vorherrschaft und ein arabisches Königreich versprechen, kämpfen sie gemeinsam gegen das von Istanbul aus regierte Großreich. Mit dabei ist ein britischer Agent, T. E. Lawrence, der später "Lawrence von Arabien" genannt wird. 

1917 gelingt es britischen Truppen mithilfe von Soldaten aus der indischen Kolonie, Bagdad einzunehmen. Und mit der Eroberung von Damaskus, an der sich auch arabische Einheiten beteiligen, sind die osmanischen Truppen ein Jahr später endgültig aus Arabien vertrieben. Doch dann erfahren Araber und Kurden, dass London und Paris Arabien in einem Geheimabkommen längst aufgeteilt hatten.

42 000 britische Soldaten sind 1918 im Zweistromland, in Bagdad residiert ein britischer Hochkommissar, "politische Offiziere" kontrollieren die Provinzen. Ende 1918 kommt es zu ersten Unruhen. 1919 werden englische Einheiten aus ihren Garnisonen im kurdischen Norden vertrieben. Schiitische Geistliche versorgen ihre Anhänger mit Fatwas, religiösen Rechtsgutachten, wonach der Dienst unter Briten einen Verstoß gegen die Religion darstelle. Als Folge der Aufstände entgleiten London – mit Ausnahme der Großstädte Basra, Mosul und Bagdads – weite Teile des Landes.

Schließlich fliegt die Royal Air Force immer mehr Einsätze, um die Rebellion niederzuschlagen. Unter den Bomberpiloten ist Arthur Harris, der während des Zweiten Weltkriegs als "Bomber-Harris" bekannt werden sollte. Er befehligte Luftangriffe auf Städte wie Hamburg und Dresden. Im November 1920 bricht der Widerstand gegen die Besatzer zusammen. 10 000 Rebellen waren getötet worden. Doch die Geschichte von Aufständen, Terror und Kriegen geht weiter. Und immer wieder fliehen die Menschen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Wie Salam Kadir. Ende der 80er-Jahre hat der junge Kurde vier Jahre lang gebangt, bis er in Stuttgart als Asylant anerkannt wurde. "Erst als ich einen guten Anwalt hatte, kam ich mit dem Folgeantrag durch." Unterstützt haben ihn der Stuttgarter Pfarrer Werner Baumgarten vom Arbeitskreis Asyl und Ehrenamtliche. Sie haben ihm geholfen, Deutsch zu lernen, und bei der Suche nach einer eigenen Wohnung. Und dann hat sich Kadir selbst im AK Asyl engagiert – besonders für Flüchtlinge aus dem Nordirak. Er hat eine kurdische Musikgruppe gegründet, arbeitete für den kurdischen Kulturverein, hat eine Technikerausbildung abgeschlossen und wurde später Lagerleiter einer Versandfirma.

So wurde Salam Kadir zum "Vorzeigeflüchtling", der sogar zu einem Empfang von Bundespräsiden Richard von Weizsäcker mit nach Bonn reisen durfte. Da konnte er dem Staatsoberhaupt zwar nicht die Hand schütteln, doch am Stand der Stuttgarter Gruppe kam immerhin ein Politiker der Grünen vorbei, der damalige hessische Oppositionsführer und spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer.

Obwohl den Kurden ein unabhängiger Staat zugesichert worden sei, berichtet Salam Kadir in Deutschland, sei das Gebiet, in dem vorwiegend Kurden leben, dann nach dem Ersten Weltkrieg aufgeteilt worden. Seitdem leben die Kurden in der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien. Die Region um Sulaimaniyya, die Heimat der Familie Kadir, schlagen die Siegermächte dem Irak zu. Bagdad wird die Hauptstadt des neuen Staates. London setzt dort ein Marionettenkabinett und einen Marionettenkönig ein. Syrien wird von Frankreich verwaltet. 

Mitte der 20er-Jahre einigt man sich dann auf die Verteilung der irakischen Ölbeute: Danach bekommen die amerikanischen und französischen Konzerne jeweils knapp ein Viertel. Der Rest geht vor allem an die Briten. BP, Shell, Standard Oil oder Mobil Oil beziehen seither Erdöl aus dem Irak. Der neue türkische Staat erhält eine Beteiligung an den Einnahmen. Die Araber und Kurden gehen leer aus. 

"Den Irak gibt es praktisch nicht mehr"

Der Sturz von Saddam Hussein 2003 "war wie ein Traum", sagte Salam Kadir damals und wurde immer wieder in den Zeitungen zitiert. Doch an eine Rückkehr war noch lange nicht zu denken. Inzwischen erlebt der Nordirak unter kurdischem Regime einen Aufschwung. Auch Öl wird gefördert und verkauft. So entschied sich Salam Kadir vor wenigen Jahren, zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern in der Heimatstadt Sulaimaniyya ein neues Leben zu beginnen. Sulaimaniyya, wo heute über 800 000 Menschen wohnen, ist nach Arbil die wichtigste Stadt der autonomen irakischen Region Kurdistan. Dort arbeitet Kadir für eine international tätige Firma mit Hauptsitz in Deutschland. 

"Den Irak gibt es praktisch nicht mehr", resümiert der heute 55-jährige Kurde mit deutschem Pass per Facebook. Das Land sei dreigeteilt in einen schiitischen, einen sunnitischen und einen kurdischen Teil. "Und die Regierung schickt der Provinzregierung im Norden seit acht Monaten kein Geld mehr."

Klar, dass die Kadirs in den vergangenen Wochen täglich die Nachrichten über die Kämpfe in der syrischen Kurdenstadt Kobanê verfolgen. Klar auch, dass Kadir die Rolle der türkischen Regierung in dieser Auseinandersetzung kritisiert. Und wenn er an die jüngste aktuelle Flüchtlingswelle denkt, erinnert er sich wieder ein seine eigene Flucht vor 30 Jahren, an die Tage der Angst und der Entbehrungen: "Wir waren eine Gruppe kurdischer Iraker, die 1985 über den Iran und Syrien nach Ostberlin geflohen sind. Alle waren während des achtjährigen Krieges zwischen dem Irak und dem Iran desertiert." Sie wollten nicht für Saddam Hussein kämpfen, der damals noch vom Westen unterstützt worden war und den Rüstungskonzernen große Mengen an Waffen abgekauft hatte.


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1 Kommentar verfügbar

  • CharlotteRath
    am 03.11.2014
    Antworten
    Danke für so einen Artikel, für diese Erläuterung historischer und geostrategischer Zusammenhänge. Eben "Kontext" :-)
    Europa und der Nahe Osten ... Diese Geschichte endete nicht in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Ich hoffe auf eine Fortsetzung, um das aktuelle Geschehen - und die…
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