KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Du sollst nicht töten"

"Du sollst nicht töten"
|

Datum:

Die Gewalt im Nahen Osten ist so schrecklich, dass selbst Reuven Moskovitz (85) verzweifelt ist. Der Träger des Aachener Friedenspreises hat sein Leben dem friedlichen Zusammenleben von Israelis und Palästinensern gewidmet. Seinen Brief schreibe er mit seinen "letzten Atemzügen", teilt er jetzt seinen deutschen Freunden mit.

Wut und Verzweiflung: "Noch bin ich gesund und gehe auf mein 86. Lebensjahr zu. Während ich diese Zeilen schreibe, erschüttern mich die Ermordung der drei jüdischen Jugendlichen und die Entführung und die Verbrennung bei lebendigem Leibe eines 14-jährigen Palästinensers, wie auch die gescheiterte Entführung eines neunjährigen palästinensischen Kindes. Schon lange handelt man in Israel/Palästina nach dem Motto 'Auge um Auge, Zahn um Zahn'", schreibt Reuven Moskovitz am 8. Juli aus Jerusalem an seine Freunde in Deutschland.

Verzweiflung ist neu. Moskovitz, geboren in Rumänien, hat den Holocaust überlebt, ist mit 19 Jahren nach Israel geflohen, war Baggerführer, studierte in Jerusalem Geschichte und hebräische Literatur, wurde Lehrer – ein Mensch voller Lebensfreude und Tatendrang. Trotz der schlimmen Erlebnisse während der Nazizeit und des Kriegs in seiner rumänischen Heimat, trotz der schwierigen Flucht und der Rückschläge in den Friedensinitiativen, bei denen er sich von Anfang an engagierte, nach dem Sechstagekrieg als Sekretär der neu gegründeten "Bewegung für Frieden und Sicherheit".

Begeisterung für sein Land Israel schwang immer mit, wenn er in Vorträgen und vor deutschen Schulklassen vom jüdischen Leben im Schtetl erzählte, die aktuelle Nahostpolitik analysierte oder die Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern in Israel aufzeigte. Hoffnung begleitete seine demonstrative Fahrt mit dem Segelschiff am Jom-Kippur-Tag, dem Tag der Versöhnung, vor vier Jahren von Zypern aus Richtung Gaza.

Das gefährlichste Konzept, Krieg zu vermeiden, ist das israelische

Und nun klingt zum ersten Mal Verzweiflung in Moskovitz' Worten: "Ich wende mich jetzt an euch mit meinen letzten Atemzügen. Das gefährlichste Konzept, Krieg zu vermeiden, ist das israelische, das davon ausgeht, dass Terror nur mit immer weiterer Gewalt besiegt werden kann. Ich erinnere an das Gebot 'Du sollst nicht töten', das für mich auch bedeutet, selbst dann nicht zu morden, wenn andere morden. Zu morden ist aber schon immer das wichtigste Konzept sowohl der israelischen Politiker als auch eines Teils des palästinensischen Widerstands gewesen."

Selbst wenn er, wie Abraham, einhundertfünfundsiebzig Jahre alt würde, Reuven Moskovitz wäre wohl immer noch unterwegs zwischen Jerusalem und Berlin und seinem kleinen Häuschen nördlich von Haifa an der libanesischen Grenze. "Gefährlich? Ach wo. Die Raketen von beiden Seiten fliegen doch drüber weg." Seine blauen Augen lachen meist. "Jahrelang bin ich ruhelos in der Fremde herumgeirrt; jetzt bin ich gekommen, um ruhelos in der Heimat umherzuirren", zitierte er einmal den jüdischen Dichter Itzig Manger. Wie könnte er auch ruhig sein, der kleine, kompakte Mann? Kariertes Hemd und glatt zurückgekämmte graue Haare, Straßenbauer und Geschichtslehrer. Wie könnte er ruhig sein angesichts palästinensischer Flüchtlingslager, dem wachsenden Einfluss religiöser Fanatiker und Nationalisten unter Juden und Palästinensern, neuen Siedlungen und dem Unrecht, das täglich in der Westbank und in Gaza geschieht.

Wenn der junge alte Mann spricht, betont er bewusst langsam. "Ich habe zwei Befreiungen erlebt. Die erste war die Befreiung unseres Schtetl Frumuşica durch die Rote Armee, die zweite der Kniefall von Willy Brandt im Warschauer Getto. Er hat mir geholfen, mich von meinem Hass auf Deutschland zu befreien. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Befreiung das ist, wenn du überwindest den Hass, der an dir nagt und nagt und nagt."

Seither möchte er in der "Stadt der Liebe" leben, sieht sich in Israel aber umgeben von einer "gefährlichen Pest aus Hass, Rachegelüsten und Nationalismus, die nur in Zerstörung enden kann". Wie könnte er da ruhig sein. "Israels Entstehung ist ein Wunder, aber unsere Machthaber sind maßlos geworden. Sie wollen keinen Frieden, weil die denken, wir werden immer Erfolg haben, und irgendwann werden wir alleine sein in diesem Land, das uns verheißen wurde. Das stimmt nicht. Das Land wurde nicht uns alleine verheißen, sondern allen Kindern Abrahams, eben auch Ismael, dem noch vor Jakob Geborenen, den die Palästinenser als ihren Stammvater ansehen."

Wie könnte er ruhig sein, wo so viel Weisheit und so viel Lüge so nahe beieinander wohnen. Deshalb Moskovitz weiter: "Auf drei Säulen ruht die Welt, sagt eine jüdische Weisheit: Wahrheit, Recht und Frieden. Wie aber kann es Wahrheit, Recht und Frieden geben, wenn wir Juden auf unserem Recht und der Entschädigung für begangenes Unrecht bestehen, uns aber weigern, das Unrecht anzuerkennen, das wir den Palästinensern zugefügt haben? Israel ist ein Apartheidstaat, in dem ultraorthodoxe Klerikale den Weg zurück ins Mittelalter anstreben. Und dazu gibt es in Deutschland bei vielen Menschen eine willige Blindheit gegenüber dieser Wahrheit." Da ist einer, der glauben will, dass Wahrheit nur laut und deutlich genug ausgesprochen werden muss, um zu überzeugen. 

Anlässlich der Verleihung des Amos-Preises 2011 in der Stuttgarter Erlöserkirche hatte er gerufen: "Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, kann nicht frei sein. Der Frieden mit dem palästinensischen Volk ist der Schlüssel zum dauerhaften Frieden mit Israel." Zusammen mit der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser war ihm der Preis der evangelischen Vereinigung in Württemberg (Offene Kirche) für Zivilcourage in Kirche und Gesellschaft verliehen worden.

Moskovitz 2013: Verzweiflung können wir uns nicht leisten

Im vergangenen Jahr war Moskovitz an den Bodensee gekommen. In die Friedensräume der Villa Lindenhof bei Lindau. "Verzweiflung ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können", hatte Reuven Moskovitz noch den kleinen Konvent beschworen. Entmutigt angesichts der tagesaktuellen Nachrichten aus Israel hatten sich schon damals die Teilnehmer aus München, Berlin, Aachen und Freiburg gefragt: Was noch tun bei solch bedrohlichen Konflikten, was können Friedensräume bewirken, angesichts der massiven Gewalt? Moskovitz wollte in Neve Shalom/Wahat al-Salam, zwischen Tel Aviv und Jerusalem, ein Friedensdorf errichten, nach dem Vorbild der Lindauer Friedensräume. Mithilfe deutscher Freunde und Pax Christi.

Sowohl Palästinenser als auch Israelis sollten dort das Recht haben, ihre Version der geschichtlichen Ereignisse zu erzählen, die Darstellungen sollten gleichberechtigt nebeneinander stehen können: der "Sechstagekrieg" neben der "Juni-1967-Aggression". Was die einen "Ha'Schtachim", die "besetzten Gebiete", nennen, ist für die anderen "Palästina". "Im Augenblick werden die israelischen Narrative mit Macht durchgesetzt. Das Anhören der jeweils anderen Version wäre ein erster Schritt zum Frieden", hoffte Moskovitz. Das war 2013.

Heute wiederholt er seine vielfach geäußerte klare Forderung an die Deutschen mit besonderem Nachdruck: "Ich appelliere an die Bundesrepublik Deutschland, aus der einseitigen, proisraelischen Politik in dem Konflikt zwischen Israel und Palästina auszusteigen. Wie lange schaut die Regierung in Deutschland weiterhin nur zu, wie die Gewalt im Nahen Osten eskaliert. Wird die Bundesregierung weiter schweigen angesichts dieser schrecklichen Geschehnisse?"

Zum Antikriegstag am 1. September 2014 plant Reuven Moskovitz zusammen mit deutschen Freunden ein starkes Signal für den Frieden in Aachen. Er will nicht aufgeben.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


13 Kommentare verfügbar

  • Karl-Heinz Behr
    am 31.07.2014
    Antworten
    zu Dr. Sholem: Sie haben richtig gelesen: der Text ist ein Portrait, keine offizielle Verlautbarung irgendeiner Art. Ich finde wichtig, dass in deutschen Medien auch diese Stimme aus Israel vorkommt, die ja nicht die einzige ist, die israelische Politik kritisiert: z.B. Shovrim Shtika (Breaking…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!