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Prügelorgien und Nervengas

Prügelorgien und Nervengas
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Vor 25 Jahren wurde ein Baustopp für die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf verfügt. Gegen das Jahrhundertprojekt in der Oberpfalz hatte die Bevölkerung jahrelang protestiert. Drei Menschen kamen dabei ums Leben. Bei der Rückschau drängen sich Parallelen zur Auseinandersetzung um den Tiefbahnhof Stuttgart 21 auf.

WAA – drei Buchstaben beherrschten im Mai 1986 die Nachrichten. Bürgerinitiativen hatten über die Pfingstfeiertage zu einem Protestcamp gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackerdorf im bayerischen Landkreis Schwandorf aufgerufen. Jung und Alt, Einheimische und Fremde, Studenten und Bauern wollten gegen das Prestigeprojekt der damaligen bayerischen CSU-Staatsregierung unter Franz Josef Strauß demonstrieren. Vor Ort im Taxöldener Forst, wo im Dezember 1985 die "Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen" (DWK), ein Unternehmen der Kernkraftwerksbetreiber, bereits gegen allen Widerstand über 100 Hektar Wald für die milliardenteure Atomanlage hatte roden lassen. Einheimische, die in zwei Hüttendörfern Widerstand geleistet hatten, konnten die Holzfäller nicht aufhalten. Tausende Polizisten räumten die Dörfer, nahmen Hunderte Bewohner fest. Auch eine Großdemo an Ostern 1986 hielt Strauß nicht davon ab, das Projekt durchzuziehen. Zu Pfingsten schützten den riesigen Bauplatz stacheldrahtbewehrte Stahlzäune – sowie Hundertschaften von Polizisten mit einer Armada reizgasversprühender Wasserwerfer im Rücken.

Doch der Pfingstprotest stand unter anderen Vorzeichen. Wenige Tage zuvor, am 26. April 1986, war Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert. Der atomare Super-GAU in der (damals noch sowjetischen) Ukraine mobilisierte hierzulande mehr Menschen als erwartet, sich in die Oberpfalz aufzumachen, darunter auch viele kampferprobte Autonome. Die Stimmung gegen die Atomindustrie und ihre Fürsprecher auf politischer Ebene war im gesamten Land aufgeheizt. Vor Ort am WAA-Bauplatz eskalierte die Gewalt – auf beiden Seiten. Vermummte beschossen Polizisten, die Bauzaun und Baugelände sicherten, mit Steinen und Stahlkugeln. Polizeifahrzeuge wurde in Brand gesetzt, Züge auf der nahen Bahnstrecke blockiert. Nicht selten goutierten Einheimische die Attacken. Die Polizisten antworteten mit Wasserwerfern, Knüppeln und Reizgas. 

Am Pfingstmontag schlug die bedrängte Polizei in bislang unbekannter Härte zurück. Während einer Großdemo wurden Demonstranten, darunter Familien mit Kindern und ältere Menschen, aus einem Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes heraus mit Reizgasgranaten angegriffen. Später wurde bekannt, dass die Ordnungsmacht in Wackersdorf zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands das Nervengas CN einsetzte. Chloracetophenon verursacht neben Augenreizungen auch Gleichgewichts- und Orientierungsstörungen, was bei den Opfern zur Panik führt. Als Kampfstoff für Kriegseinsätze ist CN-Gas durch die Genfer Konvention international geächtet. Nach Medienberichten setzte die Polizei auch Waffen ein, die bislang in Deutschland nicht zugelassen waren.

Die "Pfingstschlacht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen", wie Medien die dreitägigen Gewaltausbrüche beschrieben, forderte offiziell Hunderte, nach unbestätigten Berichten der örtlichen Bürgerinitiative sogar mehrere Tausend Verletzte. Es grenzte an ein Wunder, dass es dabei keine Todesopfer gab.

Zwei Menschen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Leben bei den Protesten gegen den "WAAhnsinn" verloren. Die 61-jährige Erna Sielka starb am 2. März am Bauzaun an einem Herzinfarkt. Die Wackersdorferin hatte offenbar kurz zuvor ein Gerangel zwischen Polizei und Atomkraftgegnern miterlebt. Demonstranten und Polizeisanitäter versuchten vergeblich, sie zu reanimieren. Oberpfälzer Bürgerinitiativen erhoben den Vorwurf, dass die Polizei einen Rettungshubschrauber nicht habe landen lassen.

In Wackersdorf versprühte die Polizei in großem Stil auch erstmals CS-Gas. Chlorbenzylidenmalodinitril, das noch schneller und stärker als CN wirkt, führt neben Brechreiz, Husten, tränenden Augen und Nasen beim Einatmen zur Verkrampfung der Lungenmuskulatur. Die Folge ist starke Atemnot, verbunden mit einem beklemmenden Angstgefühl, was den Hauptzweck von CS erreicht: schockartige Handlungsunfähigkeit. Als erstes CS-Gas-Todesopfer in Deutschland gilt der asthmakranke Ingenieur Alois Sonnleitner aus Gräfelfing bei München, der als Teilnehmer der Wackersdorf-Demonstration am Ostermontag 1986 einen Asthmaanfall erlitt und kurz darauf starb. Nur 500 Meter entfernt, wurde später ermittelt, waren Demonstranten von der Polizei mit CS bekämpft worden.

Später hatte auch die "andere Seite" ein Todesopfer zu beklagen: Der Polizist Johann Hirschinger starb am 24. September 1986 nach einem Hubschrauberabsturz im Taxöldener Forst.

Für Bayerns Ministerpräsident Strauß und führende Unionspolitiker im Bund waren die WAA-Gegner auch nach dem Tschernobyl-GAU keine Bürger, die sich um Umwelt und Gesundheit sorgten, sondern nur Chaoten oder Terroristen. Strauß, für den die WAA nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik war, ließ nach den Gewaltexzessen an Pfingsten aufrüsten. Für mehr als 20 Millionen Mark, beschloss das Münchner Kabinett, sollen im Freistaat Hunderte von Polizisten, Richtern, Staatsanwälten und Gefängniswärtern, speziell für den Raum Wackersdorf, eingestellt sowie Hubschrauber und "Spezialfahrzeuge" angeschafft werden, ferner Reizgas- und Gummigeschosse.

Das Amtsgericht Schwandorf wurde "terroristensicher" ausgebaut. Allein für das Jahr 1986 erhöhten sich im bayerischen Staatshaushalt die Ausgaben für "überörtliche Polizeieinsätze" von geplanten 2,5 auf 50,7 Millionen Mark. Das Polizeigesetz wurde 1988 geändert, um Demonstranten bis zu 14 Tage in Gewahrsam nehmen zu können. Demonstrationsverbote, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen sowie der Einsatz großer Polizeiverbände aus dem gesamten Bundesgebiet sowie des Bundesgrenzschutzes waren über Jahre in der Oberpfalz an der Tagesordnung. Wer sich in Behörden und Politik gegen die WAA stellte, wurde kaltgestellt. Der Schwangauer SPD-Landrat Hans Schuierer weigerte sich jahrelang, der Anlage die Genehmigungen zu erteilen. Strauß und die Staatsregierung reagierten mit Disziplinarverfahren – und einem neuen Artikel im Verwaltungsverfahrensgesetz, der das Landratsamt bei der Genehmigung umging. Anders als Schuierer standen die SPD-Genossen im Wackersdorfer Gemeinderat geschlossen mit der CSU für die Wiederaufarbeitungsanlage. "Schuld an den gewaltsamen Auseinandersetzungen, davon bin ich heute noch felsenfest überzeugt, war nur das harte, manchmal brutale Vorgehen der Polizei", so der 83-jährige Schuierer in einem aktuellen Interview.

Knüppel, Reizgas, Wasserwerfer, Tote und Verletzte: Der Widerstand gegen die WAA Wackersdorf leitete einen Wendepunkt in der deutschen Atomenergiedebatte ein. Juristische Erfolge unterstützten ihn. Am 2. April 1987 hob der bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) die erste Teilerrichtungsgenehmigung auf, am 29. Januar 1988 erklärte die Instanz den ganzen Bebauungsplan für nichtig. Die Richter rügten, dass das Hauptprozessgebäude wesentlich größer als in der genehmigten Planung ausfallen sollte.

Die Betreiber bauten die WAA vorerst dennoch weiter, aufgrund von Einzelbaugenehmigungen, die gegen massive Einwendungen erteilt wurden. Für die zweite Teilerrichtungsgenehmigung fand im Sommer 1988 der Erörterungstermin in Neunburg vorm Wald statt. 881 000 Einwendungen machten Bürger dagegen, die das Verfahren zum bis dato größten seiner Art werden ließen. Nach Wochen brach die Genehmigungsbehörde die Erörterung abrupt ab, was von den WAA-Gegnern heftig kritisiert wurde.

Genützt haben alle Verfahrenstricks letztlich nicht. Am 3. Oktober 1988 starb Franz Josef Strauß. Damit kam den WAA-Betreibern der kompromissloseste politische Verfechter des Projekts abhanden. 1989 entschied sich der Energiekonzern Veba, damals noch teilweise in Bundesbesitz und Hauptakteur der WAA-Betreibergesellschaft, die Brennstäbe seiner Kernkraftwerke in Frankreich zu entsorgen. Für die DWK lohnte sich die WAA in der Oberpfalz nicht mehr. Am 31. Mai 1989 wurden die Bauarbeiten in Wackersdorf eingestellt. Rund zehn Milliarden Mark waren bis dahin verbaut worden. Am 6. Juni 1989 unterzeichneten Deutschland und Frankreich die Verträge über eine gemeinsame Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague, am 18. Januar 1990 folgten die Verträge mit England über die Wiederaufarbeitung in Sellafield.

Die WAA beschäftigte noch länger die Gerichte. Nach rund 3400 Strafverfahren gegen Atomkraftgegner wurde der letzte WAA-Fall Mitte der 90er-Jahre abgeschlossen. Aufseiten der Polizei wurde niemand für gewalttätige Übergriffe, kein Politiker für Veruntreuung von Steuergeldern zur Verantwortung gezogen. Nach dem WAA-Aus bekam die Gemeinde Wackersdorf rund 1,5 Milliarden Mark als Ausgleichszahlung. Der Bauplatz wurde zum Industriepark, in dem heute rund 2000 Menschen beschäftigt sind. BMW hat dort ein Produktionswerk, wo heute bezeichnenderweise das erste Serien-Elektroauto der Münchner vom Band rollt.

Ortswechsel und Zeitensprung

Am 30.September 2010 kommt es auch in Stuttgart zu gewaltsamen Ausschreitungen um einen Bauplatz. Am Schwarzen Donnerstag gehen im Schlossgarten Hundertschaften der Polizei gegen Tausende Demonstranten vor, die dort – und das ist der entscheidende Unterschied zu den Wackersdorf-Protesten – gewaltlos gegen Stuttgart 21 protestieren. Um das Baufeld für den umstrittenen Tiefbahnhof zu räumen, setzt die Polizei Wasserwerfer, Knüppel und Pfefferspray ein. Auch gegen Kinder und Rentner, die sich schützend vor jahrhundertealte Parkbäume stellen. Bei der Parkräumung werden offiziell 130 Menschen teils schwer verletzt, die Parkschützer sprechen von knapp 400 Verletzten. Wieder verunglimpfen führende Politiker demonstrierende Gegner des Millliardenprojekts als gewalttätige Chaoten und Hooligans. Wie bei der WAA in Wackersdorf proklamieren die Protagonisten das Streitobjekt als Fortschritt, als alternativlos, beherrschbar und unumkehrbar.

Doch anders als bei den WAA-Protesten bleiben die Übergriffe der Staatsmacht am Schwarzen Donnerstag nicht folgenlos. Die amtierende CDU-Landesregierung unter Stefan Mappus wird im März 2011 abgewählt. Was für ein Zufall: Die Macht verlieren die Christdemokraten auch, weil Mappus für verlängerte Laufzeiten der deutschen Atommeiler plädiert hatte – und kurz vor dem Wahltermin der zweite atomare Super-GAU der Weltgeschichte im japanischen Fukushima passiert. Die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangenen Grünen, in Wackersdorf Teil der Protestbewegung, stellen seither mit Winfried Kretschmann den baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Und seit dieser Woche müssen sich zwei Einsatzleiter der Polizei vor dem Landgericht wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt am Schwarzen Donnerstag verantworten. Am Streitobjekt Stuttgart 21 wird weiter gebaut. Auch an der WAA Wackersdorf hielten Politiker und Bauherren länger als vernünftig fest.

 

Der Autor war Augenzeuge der gewalttätigen Auseinandersetzungen an Pfingsten 1986 am WAA-Baugelände in Wackersdorf und am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten.

Die Bilder aus Wackerdorf, die den Pfingstprotest 1986 dokumentieren, stammen aus der Sammlung von Wolfgang Nowak. Der Schwandorfer war Mitglied der Bürgerinitiative gegen die WAA.


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7 Kommentare verfügbar

  • In einem Rechtsstaat
    am 27.06.2014
    Antworten
    muss das Handeln der Organe rechtsstaatlich sein. Das wird gerade überpüft. Nur in einer Diktatur haben alle "das Maul zu halten". Oder im Kapitalismus dann, wenn existenzielle Risiken drohen. So wünscht man sich das. Aber die Risiken treffen nun auch die ReGIERigen: Rechtsstaatliches Handeln wird…
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