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Bürokratisch ermordet

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Über den Tatort war schon längst Gras gewachsen. 14 französische Widerstandskämpfer hat die Wehrmacht im Jahr 1944 in einem Wald bei Karlsruhe erschossen, in eine Grube geworfen und verscharrt. Das Ehepaar Brändle hat sich auf Spurensuche begeben. (Teil IV und Schluss)

Der einstige SS-Sturmbannführer Helmut Schlierbach starb 2005, der Sparkassen- und Giro-Verband Hessen-Thüringen ehrte ihn mit einer eindrucksvollen Todesanzeige in der dafür prädestinierten "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Die Anzeige bescheinigt ihm "außergewöhnlich großes persönliches Engagement", dankt ihm für sein "Verantwortungs- und Pflichtgefühl" und lässt seine "menschliche Haltung" nicht unerwähnt.

In Ludwigsburg, Heilbronn und Karlsruhe wurden die Lebenden durch die bürokratische Variante zu Tode gebracht: Verfahren, Urkunden, Unterschriften, Stempel. Ein Priester war anwesend, ein Arzt stellte den Tod fest. Der Nationalsozialismus war, wie der 1938 emigrierte Politikwissenschaftler und Jurist Ernst Fraenkel das schon 1941 schriftlich festgehalten hatte, ein Maßnahmen- und Normenstaat, der diejenigen, die er zu seinen Gegnern erklärte, mal mithilfe von Gerichtsverfahren ermordete, mal ohne. Hauptsache tot.

Mit den ordentlichen Verfahren wurde die bürgerliche Klientel des Nationalsozialismus beruhigt, die vor allem vor dem Chaos Angst hatte und die Angst vor den Nazis hatte. Die bürgerliche Klientel nahm die Nazis als Medizin gegen die Angst ein, die sie vor ihnen hatte. Das wilde Morden, das einigen Nazis eine willkommene Gelegenheit bot, Wut und Hass nicht gegen sich selbst zu richten, hielt die Angst des Bürgertums wach.

In Karlsruhe weigerten sich die 14 zum Tod Verurteilten, Augenbinden zu tragen. Eine Einrichtung, die den Tätern mehr hilft als denen, auf die sie schießen. Der Priester, der sie begleitete, starb vor der Befreiung Karlsruhes und konnte nicht mehr zu den näheren Umständen befragt werden. Superior Monsignore Alphons Sauter, der den Exekutierten von Heilbronn die Beichte abgenommen und die Kommunion mit ihnen gefeiert hatte, schrieb 1961 in einem Brief an einen im Ruhestand befindlichen Verwaltungsdirektor, wie es in Heilbronn zugegangen war. 

In Heilbronn schallte das "Salve Regina" der Widerstandskämpfer "ergreifend", so Sauter, durchs Erdgeschoss der Schlieffen-Kaserne auf der Fleiner Höhe und war im ganzen Gebäude zu hören. Ein unter den Widerstandskämpfern befindlicher Major fragte Sauter, ob es möglich sei, zusammen für die katholische Kirche in Deutschland, die geistigen Beistand von Widerstandskämpfern bitter nötig hatte, ein Vaterunser zu beten. "Ich erlaubte es gerne und betete mit ihnen", schreibt Hochwürden Sauter, der 1961 im Kloster Untermarchtal lebte. 

In Heilbronn riefen die Widerstandskämpfer vor jeder Salve "Vive la France", und nicht jeder der Schützen hatte "die Nerven", so Sauter, für das, was er da tun zu müssen glaubte.

Wir wissen, dass in Karlsruhe die Männer in Zweiergruppen über den Haufen geschossen wurden, immer im Abstand von drei Minuten. Mit einer Ausnahme, da wurde eine längere Pause eingelegt. Wahrscheinlich Zigaretten oder Vesper für die Schützen.

Einer von denen, die in Karlsruhe ermordet wurden, war Robert Lynen, 23, Filmschauspieler. Als Zwölfjähriger Star des Films "Poil de Carotte", Karottenkopf, nach dem 1894 veröffentlichten Roman von Jules Renard, 1946 unter dem Titel "Rotfuchs" erstmals auf Deutsch erschienen. Ältere Franzosen, sagt Brigitte Brändle, "bekommen bei diesem Titel glänzende Augen". Bis zum Überfall der Wehrmacht auf Frankreich spielte Lynen in zwölf weiteren Filmen mit, meistens die Hauptrolle.

Lynen, Deckname "junger Adler", war ideal für eine Mitarbeit bei der Alliance geeignet. Er hatte mit seinem Schwager die Transportfirma Azur-Transports gegründet, die mit Lastwagen Waffen für die Résistance sammelte und durchs Land kutschierte, auch Maschinengewehre und Granaten. Die Firma war eine Anlaufstelle für Widerstandsgruppen aus Marseille, es wurden illegale Schriften wie "Les petites ailes" gegen die Besatzung verbreitet, durch Überwachung des Hafens von Marseille gewonnene Informationen wurden an den britischen Geheimdienst weitergeleitet. Im Jahr 1941 nutzte Lynen eine landesweite Theatertournee, um Widerstandsgruppen zu vernetzen, so kam er 1942 in Kontakt mit Réseau Alliance.

In seinem Garderobenkoffer transportierte der junge Mann einen Radiosender für den Funkkontakt mit London, er sorgte für den Austausch von Informationen zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen und beteiligte sich an der Rettung bedrohter britischer Agenten, die über die Grenze nach Spanien gebracht wurden. Lynen arbeitete mit Jean Danis-Burel zusammen, 23, Filmvorführer, der Ende 1942 zur Alliance kam. Deckname "Poney". Die Mitglieder der Alliance gaben sich gerne Tiernamen.

Danis-Burel fotografiert mit seiner Leica Skizzen, Pläne und Dokumente, um diese an Funker weiterzugeben. Er war Kurier und transportierte Radiosender zur Übermittlung von Nachrichten an den britischen Geheimdienst. Danis-Burel wurde am 1. Februar 1943, Lynen eine Woche später in Cassis bei Marseille festgenommen. Im Dezember 1943 wurde Danis-Burel nach Freiburg verschleppt, am 16. Dezember zum Tod verurteilt, am 1. April um 7.07 Uhr zusammen mit dem Bauunternehmer Jean Voituret, 49, im Hardtwald in Karlsruhe erschossen.

Voituret war vor dem Krieg Bürgermeister in einer Gemeinde in Nordfrankreich, lebte dann in Montauban. Er sammelte Informationen über Bewegungen deutscher Truppen, Lagerung und Transport von Kriegsgerät und Treibstoff der Wehrmacht. Wichtig für Sabotageakte und Angriffe der Alliierten. Voiturets Frau, Marguerite-Maria, arbeitete unter dem Decknamen "Ida" im Widerstand. Sie begleitete und schleuste Flüchtlinge von Montauban aus Richtung spanische Grenze.

Lynen war, als er mit 23 erschossen wird, nicht der Jüngste. Die Belgier Marcel Derome, 22, Elektriker, und Marcel Felicé, 19, Schmied, waren jünger. Über das Alter der Soldaten der Division 465, ein Exekutionskommando mit 80 Mann, stationiert in Ludwigsburg, die auf die Franzosen und Belgier anlegten, wissen wir nichts. Sie haben auch in Heilbronn und Ludwigsburg geschossen. "Sie mussten auf die roten Stofffetzen, die über dem Herzen auf der Kleidung der Delinquenten angebracht worden war, zielen", sagt Brigitte Brändle. Das – war nicht schwer.

Der Familie von Colonel Flamant wurden Blechbecher, Gabel und Löffel zugeschickt. Logistisch in diesen Tagen keine leichte Aufgabe, ein Päckchen von Karlsruhe nach Paris zu schicken. Diebe waren die Angehörigen der Wehrmacht nicht. "Es gibt auch präzise ausgefüllte Sterbeurkunden, auf denen als Todesursache 'plötzlicher Herztod' angeben ist", sagt Gerhard Brändle. Die Kugeln, die den plötzlichen Herztod verursachten, tauchen in den Urkunden nicht auf. 

Einige der Widerstandskämpfer hatten Gnadengesuche eingereicht. Die Familie von Marcel Felicé ist bis heute nicht sicher, ob man ihrem Jungen die Waffe, die da unter seinem Bett gefunden wurde, nicht untergeschoben hatte. Der junge Mann hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er notierte: "6 Uhr morgens Karlsruhe." Außerdem bittet er seine Eltern: "Seid nicht traurig, wenn ihr diesen Brief bekommt. Es ist das letzte Mal, dass ich euch schreibe." Der junge Belgier ist davon überzeugt: "Ich habe mein Bestes für mein Land getan und mitgeholfen, es zu befreien."

Seine Schwester war fünf Jahr alt, als Marcel, in Pantoffeln und Pyjama, an einem Sonntagmorgen im Haus der Eltern von zwei Gestapo-Männern festgenommen wurde. Vor dem Haus, auch an der Gartenpforte, Soldaten der Wehrmacht. Mutter und Bruder waren bei der Frühmesse, der Vater, frisch am Magen operiert, lag im Bett. "Am 1. April 1944", schreibt Marguerite Felicé in einem an die Brändles gerichteten Brief, "hatte ich zusammen mit meiner Schulklasse meine Erstkommunion. Gefeiert wurde nicht, aber Mutter hatte Milchreis gemacht. Zwei Wochen später kam der Bürgermeister um uns mitzuteilen, dass unser Marcel gerade an diesem Tag erschossen wurde. Es sind schon 69 Jahre her, aber jeden 1. April denke ich noch daran (...)."

Der oberste Kriegsrichter der deutschen Wehrmacht, Admiral Max Bastian, war die Instanz, die über Gnadengesuche zu entscheiden hatte. Bastian, am 28. August 1883 in Berlin-Spandau geboren, Sohn eines Fabrikbesitzers, Seekadett der kaiserlichen Marine, Offizier im Ersten Weltkrieg, 1928 zum Kapitän zur See ernannt, vom 1. Oktober 1935 bis 3. April 1938 Chef des Allgemeinen Marineamts, amtierte ab 12. September 1939 als Präsident des Reichskriegsgerichts. Am 12. Oktober 1944 bekam der schon reich dekorierte Bastian das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern.

"Gnade kannte er nicht", sagt Gerhard Brändle. Bastian hat alle Gnadengesuche abschlägig beschieden. Vom 12. Mai 1947 an saß Bastian im Zuchthaus Wittlich und anschließend bis zum 17. April 1948 in der Bastion XII ein. Zu einer Gerichtsverhandlung kam es nicht. Weder bei den Alliierten, schon gar nicht vor einem deutschen Gericht. Er ist, wie alle übrigen Reichskriegsrichter, von keinem deutschen Gericht verurteilt worden. Dafür bekamen die Herren Pensionen, wenn sie nicht weiter juristisch tätig bleiben durften, von denen man in der Bundesrepublik gut zehren konnte. 

Die Brändles recherchieren weiter. Immer wenn sie in Frankreich sind, stoßen sie, wie kürzlich in Dijon, auf Hinweistafeln über in Deutschland ermordete Widerstandskämpfer, denen sie nachgehen. Damit es dann auch dort, wo die Verbrechen stattfanden, eine Hinweistafel gibt.


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4 Kommentare verfügbar

  • Kontext:Redaktion
    am 30.06.2014
    Antworten
    Hallo Libuznik, rechts oben unter "Ähnliche Artikel".
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