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"Chapo, ich will ein Kind von dir"

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Die Bilder gingen um den Globus: "El Chapo", der meistgesuchte Drogenboss, wird verhaftet. Aber erklärt wurde hierzulande wenig. Das übernimmt der in Mexiko lebende SWR-Mitarbeiter Goggo Gensch. Für Kontext beschreibt er, wie ein Bauernsohn in einem korrupten System zu einem der reichsten Männer der Welt werden konnte.

Das Ende war banal. Kein einziger Schuss fiel im Zimmer 401 des Hotels Miramar im Badeort Matzatlán am Pazifischen Ozean, als am 22. Februar morgens um 6.40 Uhr der am meisten gesuchte Drogenboss der Welt verhaftet wurde. Vermummte mexikanische Marines drückten seinen Nacken nach unten, als sie Joaquin Archivaldo Guzmán Loera, genannt El Chapo, in einen Hubschrauber verfrachteten. Sie wollten zeigen: Der nur ein Meter siebenundsechzig große Guzmán trägt seinen Spitznamen, "der Kleine", zu Recht. Der Mythos eines schillernden Drogenbarons sollte zerstört werden.

Die Marines sind die einzige nicht korrupte mexikanische Militärgattung und die brutalste. Unterstützt wurden sie bei der Aktion von der amerikanischen Antidrogenbehörde DEA. Nach dem Tod von Osama bin Laden war Guzmán weltweit die Nummer eins auf den Fahndungslisten. In den USA war ein Lösegeld von fünf Millionen Dollar ausgesetzt. In Chicago wurde er zum "öffentlichen Feind Nummer eins" ausgeschrieben, eine "Ehre", die zuletzt Al Capone zuteil wurde.

El Chapo – eine Legende in einer armen Gesellschaft

In Mexiko ist El Chapo eine Legende. Vier Tage nach seiner Verhaftung demonstrierten in Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaates Sinaloa, weiß gekleidete Frauen, Kinder und Jugendliche. Auf einem Transparent war zu lesen: "Wir wollen keinen weiteren Krieg. Lasst El Chapo frei." Eine Frau trug ein Schild mit der Aufschrift: "Chapo, ich will ein Kind von dir." Auf einem anderen: "Joaquin Guzmán hat uns Arbeit gegeben, im Gegensatz zu euch, ihr korrupten Politiker." In Guamúchil gingen die Menschen auf die Straße, nachdem aus Hubschraubern Flugblätter abgeworfen wurden, in denen zum Protestmarsch aufgefordert wurde. Die zumeist jungen Leute skandierten "Chapo, Chapo". Ein arbeitsloser Demonstrant zur Zeitung "La Jornada": "Die Regierung verschafft uns keine Möglichkeit zu arbeiten. Die Situation ist schwierig, und Guzmán hilft den jungen Leuten."

Solche Demonstrationen sind in Mexiko ungewöhnlich. Sie zeigen aber eines seiner größten Probleme. In einem Land, in dem mehr als 45 Prozent der Bevölkerung, 53 Millionen Menschen, als arm gelten, sind die Drogenkartelle in vielen Regionen die einzigen Arbeitgeber. In einem Land, in dem mehr als 90 Prozent der Straftaten nicht angezeigt werden, weil die Polizei untätig bleibt, sorgen Kartelle wie das von Sinaloa oft für ein Minimum an öffentlicher Sicherheit. Zudem haben die Menschen in Guzmáns Heimatregion Angst davor, dass andere Drogenkartelle jetzt das befürchtete Machtvakuum ausnutzen und die Region mit Gewalt an sich reißen.

Joaquin Archivaldo Guzmán Loera wurde am 4. April 1957 in La Tuna de Badiraguato, einem kleinen Dorf in den Bergen von Sinaloa, geboren. Der Bundesstaat liegt im Westen Mexikos, am Golf von Kalifornien. Sein Vater war Bauer, wie fast alle in La Tuna. Seinen Sohn erzog er mit Schlägen und harter Arbeit auf den Opiumfeldern. El Chapo arbeitete sich hoch, er eliminierte Bauern, die an andere Banden verkaufen wollten, ebenso wie Lkw-Fahrer, die ihre Ware nicht pünktlich ans Ziel brachten. 

Wer in La Badiraguato über Joaquin Guzmán recherchieren will, wie Malcolm Beith, Autor des Buches "El Chapo", stößt auf eine Mauer des Schweigens. Die Menschen verklären nostalgisch die Zeit, in der lediglich El Chapo das Sagen hatte und nicht die immer zahlreicher werdenden neuen Kartelle, die keine Loyalitäten kennen, den Ruf der modernen Robin Hood nicht mehr pflegen. Beith sprach auch mit dem Bürgermeister von La Badiraguato, Meza Ortiz, einem Mann, der ein Jahreseinkommen von 46 000 Dollar hat, eine zweigeschossige Villa und einen BMW. Die Straßen im Ort sind, ungewöhnlich für solch eine Gebirgsgegend, asphaltiert und gut beleuchtet. Der Bürgermeister meinte: "Badiraguato ist nicht so schlecht, wie alle sagen. Hier leben viele Menschen, die voller Hoffnung jeden Tag ihrer Arbeit nachgehen. Wer sich dem Drogenhandel verschreibt, tut dies aus schierer Notwendigkeit. Man sollte niemand dafür verurteilen, wo er geboren wurde." 97 Prozent der Bevölkerung in dieser Gegend arbeiten auf die eine oder andere Art im Drogengeschäft.

Wer sich nicht bestechen lässt, wird hingerichtet

Die Drogen schleuste El Chapo mit allen möglichen Verkehrsmitteln in die USA. Flugzeuge, U-Boote, Lkw, Eisenbahnwagen, Tanklastzüge, Pkw. Seine Spezialität waren Tunnel unter der Grenze zu den USA, darunter einer, der in zwanzig Meter Tiefe etwa fünfhundert Meter weit auf kalifornisches Gebiet führte. Zum Bau solcher Anlagen heuerte Guzmán Landarbeiterkolonnen an, die unter der Erde oder in Lagerhäusern bei den Zugängen lebten. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren, ließ er sie umbringen. So gab es keine Zeugen, und so schuf er das größte Drogenimperium der Welt.

Zum Mythos wurde El Chapo, als ihm am Abend des 19. Januar 2001 die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande gelang. Kurz nach dem Besuch hochrangiger mexikanischer Beamter entkam El Chapo, versteckt in einem Wäschewagen. 2,5 Millionen Dollar sollen die Schmiergelder betragen haben. "Plata o Plomo", "Geld oder Kugel", das ist eine von Guzmáns Geschäftsgrundlagen. Wer sich nicht bestechen lässt, der wird hingerichtet. Der Fall wurde in Mexiko zu einem Politikum, angeblich soll Guzmán von namhaften Regierungsvertretern unterstützt worden sein.

Die Flucht besang Narco-Corrido-Sänger El Komander mit seinem <link https: www.youtube.com _blank>Lied "La Fuga del Chapo": "Wo ist nun der Chapo Guzmán? Den könnt ihr lange suchen! Adios, Gefängnis Puente Grande, für mich war es nicht gerade ein Knast. Ich habe mich gefühlt wie zu Hause, besser hätte ich es nicht haben können. Adios, mein Kumpel Güero Palma, ich warte draußen auf dich."

Der Drogenbaron wurde zum Phantom. Mal sah man ihn in Los Angeles, wo seine Frau Zwillinge gebar, mal in Argentinien, dann wieder in Guatemala. Verbürgt ist, dass Guzmán mit seiner Leibgarde gerne in der Provinzhauptstadt Culiacán ein Restaurant besuchte. Den anderen Gästen wurden die Handys abgenommen und "wegen der Unannehmlichkeiten" die Rechnungen bezahlt. Die Telefone gab es zurück, wenn der Don das Lokal wieder verließ. Einen Coup landete er, als am Dreikönigstag 2007 seine spätere vierte Frau Emma in der Kleinstadt Canelas zur Schönheitskönigin gewählt wurde. Eine Armada von 200 bewaffneten Männern auf Motorrädern blockierte die Zufahrten zur Stadt, auf dem kleinen Flughafen landete zuerst die Band Los Canelos de Durango, später El Chapo mit bewaffneten Söldnern und jeder Menge Whiskey. Während der Party kreisten zwei Helikopter über Canelos, um den Luftraum zu überwachen. Am nächsten Morgen war alles wieder wie zuvor.

Guzman wird zu einem der reichsten Männer der Welt

Die meiste Zeit hielt sich Guzmán vermutlich in den Bergen rund um seinen Geburtsort versteckt und führte sein Geschäft in aller Ruhe weiter. Sein Einfluss war vermutlich noch größer als der des 1993 erschossenen Kolumbianers Pablo Escobar. Mit einem geschätzten Vermögen von mehr als einer Milliarde Dollar wird Joaquin Guzmán zu einem der reichsten Männer der Welt. Das Wirtschaftsmagazin "Forbes" führte ihn lange Zeit auf Platz 701. Für Guzmán sind Drogen lediglich ein Mittel, um gute Geschäfte zu machen. Er steigt auch ins äußerst lukrative Geschäft mit Metamphetamin ein. Ein investierter Dollar bringt im Straßenverkauf das Zehnfache. Für die Herstellung braucht man ein paar chemische Substanzen und Geheimlabore. Dank seiner guten Kontakte zur Pazifikküste lässt er sich die Vorprodukte aus Asien liefern. Bald besitzt seine Firma die größten Labore Mexikos. Dort geht man davon aus, dass das Sinaloa-Kartell über ein Gebiet von 60 000 Quadratkilometern herrscht.

Das eigentliche Operationsgebiet aber ist der gesamte Erdball. Das Kartell kontrolliert große Teile des Kokainexports nach Europa. Es hat Grundbesitz in verschiedenen Staaten, die Basis für die Geldwäsche. Seine Krakenarme reichen über ganz Lateinamerika und bis nach Westafrika. Das Sinaloa-Kartell ist eine komplexe Organisation, der Zehntausende Mitglieder angehören. Sein wahrer Feind ist nicht der mexikanische Staat, es sind konkurrierende Kartelle, wie jenes, das die Grenzstadt Ciudad Juarez kontrolliert. Jahrelang wird die Stadt zum Schauplatz eines gnadenlosen Krieges. Dabei wird 2007 Guzmáns Sohn während eines Einkaufsbummels auf offener Straße erschossen. Auch El Chapos Bruder Arturo, genannt El Pollo, wird ermordet.

Die Toten des Drogenkriegs werden nicht mehr gezählt

Der mexikanische Staat steht dem weitgehend ohnmächtig gegenüber. Unter dem letzten Präsidenten, Felipe Calderon (2006–2012), hat man aufgehört, offizielle Zahlen zu den Opfern und Vermissten des Drogenkriegs zu veröffentlichen. Die Buchführung des Todes wurde zu umfangreich. In den letzten Jahren wurden 31 mexikanische Bürgermeister ermordet. Viele Bürger haben Angst zu kandidieren, sie wissen, früher oder später werden die Kartelle kommen. So vereinnahmen die Narcos langsam Stück für Stück eines Staates.

Wie lukrativ das Geschäft mit den Drogen ist, zeigt das neue Buch von Roberto Saviano ("Gomorrah"). In "Zero, Zero, Zero – Wie Kokain die Welt beherrscht" enthüllt der italienische Schriftsteller, wie alltäglich diese Droge mittlerweile geworden ist. Für etwa 13 Millionen Europäer gehört Kokain zum täglichen Leben. Im letzten Jahr wurden allein 120 Millionen Tonnen sichergestellt. Die Wertsteigerung beim Kokainhandel ist enorm. In Kolumbien kostet ein Kilogramm noch 1500 US-Dollar, in Mexiko dann schon 12 000, in den USA 27 000. In Amsterdam wird es mit 47 000 Dollar gehandelt, und bei uns müssen die Drogenhändler 40 000 Dollar bezahlen. Der Endverbraucher in Deutschland bekommt ein Gramm des weißen Pulvers für 80 bis 100 Euro, was einem Kilopreis von bis zu 100 000 Euro entspricht.

In Mexiko hat der Drogenhandel ein Volumen von 25 bis 50 Milliarden Dollar. Bei den Territorialkämpfen der Kartelle wurden ganze Dörfer liquidiert. Geschätzt forderte der Drogenkrieg allein in Mexiko zwischen 2001 und 2013 mehr als 100 000 Tote. 26 000 Menschen gelten als vermisst. Profiteure dieses tödlichen Geschäfts sind auch Europas Großbanken. Einige von ihnen hätten die Finanzkrise nicht überstanden, wenn sie nicht auf das flüssige Kapital aus den Drogengeschäften hätten zurückgreifen können. "Die große Geldwäsche findet nicht auf den Bahamas oder irgendwelchen Offshore-Inseln statt, sondern im Herzen Europas. In Deutschland oder England und das alles wird von den Regierungen einfach ignoriert", so Saviano. 

In den sozialen Medien werden bereits Wetten darauf abgeschlossen, wann und wie "El Chapo" dieses Mal die Flucht gelingt.

Weiterführende Lektüre:

"El Chapo" - "Die Jagd auf Mexikos mächtigsten Drogenbaron", Malcolm Beith, Heyne Verlag.

"Zero, Zero, Zero: Wie Kokain die Welt beherrscht", Roberto Saviano, Hanser Verlag

Weitere Links: <link http: edition.cnn.com video data world pkg-romo-hunt-for-el-chapo-mexico-drug-lord.cnn.html bilder von der>El Chapo auf CNN


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1 Kommentar verfügbar

  • FernDerHeimat
    am 12.03.2014
    Antworten
    Ohne das Nachbarland USA, den grössten Absatzmarkt für Drogen weltweit, würden diese Probleme Mexikos schlicht und ergreifend nicht existieren.

    Ganz davon zu schweigen, mit welcher völligen Skrupellosigkeit man bis heute automatische Waffen und schlimmeres Arsenal an die Drogenkartelle…
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