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Endstation Sant'Anna

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"KURZ CARLA ANNI 30" – hinter dieser Inschrift auf einer Granitstele neben dem Beinhaus von Sant’Anna di Stazzema verbirgt sich eine Geschichte, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Stuttgart beginnt und vor 69 Jahren bei einem SS-Massaker in dem toskanischen Bergdorf endet.

Der 12. August 1944 war ein schöner Sommertag. Weil die alliierte Front näher rückte, war Carla Kurz mit ihrer Familie aus dem Seebad Forte dei Marmi nach Valdicastello am Fuße der Apuanischen Alpen evakuiert worden. Von dort machte sie sich am Morgen nach Mulina di Stazzema auf, um bei den Großeltern ihres Mannes Nahrungsmittel zu organisieren. Der Weg führte über Sant'Anna di Stazzema, wo sie im Ortsteil Vaccareccia in ein Inferno geriet: Angehörige der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" trieben etwa 100 Menschen, darunter die knapp 31-jährige Mutter von drei Kindern, in drei Ställen und auf den Höfen der Ansiedlung zusammen, warfen Handgranaten auf die Eingeschlossenen und erschossen alle noch Lebenden.

Anschließend wurden die Leichen in den Ställen angezündet. Insgesamt wurden bei dem SS-Massaker von Sant'Anna di Stazzema in wenigen Stunden bis zu 560 Menschen – überwiegend Frauen, Kinder und Alte – umgebracht.

Am gleichen Vormittag spielte die damals vierjährige Alessandra Czeczott auf einer Ebene oberhalb von Valdicastello. Auch sie war im Juli 1944 von Forte dei Marmi dorthin evakuiert worden, zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. "Plötzlich tauchte ein deutscher Soldat auf", erzählt die heute 73-Jährige. "Groß, blond, mit Helm und Maschinengewehr." Vermutlich war es ein SS-Mann derselben Einheit, die für das Massaker verantwortlich war. "Meine Großmutter stand auf und ging ihm ohne zu zögern entgegen; sie sprach kurz mit ihm in seiner Sprache." Dann sah das Mädchen, dass die Großmutter von dem Deutschen barsche Befehle bekam. "Sie holte ihren Ausweis, nahm mich an der Hand, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und wir folgten dem Soldaten." Nach wenigen Metern – sie habe noch immer das Bild vor Augen – habe ein anderer junger Soldat von Weitem mit seinem Arm ein deutliches Nein-Zeichen gegeben. "Nein, nein!" habe er geschrien, "weil wir uns außerhalb der Gemeindegrenze von Stazzema befanden, die wenige Meter oberhalb verlief". Sie waren frei und nur durch einen Zufall dem Massaker entkommen. Zwei Frauenschicksale, die unterschiedlicher kaum hätten sein können.

Vorfahre Hermann Kurz aus Reutlingen

Von der Gedenktafel auf der Anhöhe oberhalb von Sant'Anna di Stazzema schweift der Blick hinab auf die Küste der Versilia bei Forte dei Marmi. Dort hatte die Familie Kurz um 1900 eine neue Heimat gefunden.

Eigentlich hieß die vor hundert Jahren geborene Tochter Carmen Sylva. Von der Familie wurde sie Carla genannt. Carlas Großvater, der in Stuttgart geborene Arzt Alfred Kurz (1855–1905), war der Sohn des aus Reutlingen stammenden Schriftstellers, Redakteurs und Demokraten Hermann Kurz (1813–1873) und seiner unkonventionellen Frau Marie von Brunnow (1826–1911), einer libertären Adeligen und glühenden 48er-Revolutionärin ("rote Marie"). Bekanntestes Mitglied der mit literarischen und künstlerischen Begabungen reich gesegneten Familie ist bis heute Alfreds Schwester Isolde Kurz (1853–1944), um 1900 eine veritable Erfolgsschriftstellerin ("Florentinische Novellen").

"Mein Haus, mein Haus am Meer"

Nach dem frühen Tod von Hermann Kurz, der in Stuttgart von 1848 bis 1854 Redakteur des demokratischen Oppositionsblatts "Der Beobachter" gewesen war, zog die Familie 1877 nach Florenz und entdeckte um 1900 die Schönheit der Küste zwischen La Spezia und Viareggio.

Von der Kurz'schen Italienseh(n)sucht zeugen die Memoiren von Isolde, die 1938 unter dem Titel "Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen" erschienen. In dem Kapitel "Wir begründen ein Weltbad" beschreibt sie, wie sie in ihrem vom Bildhauer Adolf von Hildebrand entworfenen Haus am einsamen Strand von Forte dei Marmi einen "Ankerplatz der Seele" fand: "Es war kein Dichtermärchen, in Forte dei Marmi alterte man nicht. Die langen, glühenden Sommer brannten alle kranken und wehen Stellen aus und gaben eine immer heile und heitere Jugend."

Diese deutsch-italienische Geschichte – Isolde Kurz begegnete dort dem Schriftsteller Gabriele D'Annunzio und der Schauspielerin Eleonora Duse – ist bisher kaum bekannt. Auch das SWR Fernsehen interessierte sich nicht dafür, als es im Februar 2013 Forte dei Marmi ein Hochglanzporträt widmete ("Urlaub auf Toskanisch"). Immerhin hatte Edmund Stoiber bereits 2004 in seinem langjährigen Urlaubsort eine "Piazza Kurz" eingeweiht. Dazu hatte der bayerische Ministerpräsident auch allen Grund: Isolde Kurz lebte nach ihrer Zeit in Italien von 1911 bis 1943 im Münchner Künstlerviertel Schwabing.

Nach Italia, nach Italia

Der Italien-Pionier der Familie war ihr älterer Bruder Edgar (1853–1904) gewesen. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken hat ihn 2008 als transnationalen Philanthropen und Europäer der ersten Stunde gewürdigt: "Auch die ganze übrige Erde ist unser Vaterland." Als Medizinstudent gehörte Edgar in Tübingen einem Kreis von Sozialisten und Sozialdemokraten an, nach dem Examen floh er 1877 vor dem Militärdienst nach Florenz. Schon als 15-Jähriger hatte er seiner revolutionären Mutter zum Geburtstag diese augenzwinkernden Verse gewidmet:

"Nach Italia, nach Italia

Möcht' ich nur ein einzig Mal ja,

Wo die rothe Freiheit blinkt ...

Wo die Fürsten nächstens todt sind,

Wo die Bürger alle roth sind,

Dahin zieht es sehr mich hin."

Edgar Kurz hatte in Florenz als Fremdenarzt Erfolg, holte die Familie vom Neckar an den Arno und führte eine gutgehende Poliambulanz, in der er Arme kostenlos behandelte.

Auch Carlas Großvater Alfred Kurz wurde Fremdenarzt. Er ging 1878 nach Venedig, wo er im kleinen, aber feinen Palazzo Falier am Canal Grande wohnte. Schräg gegenüber residierte Richard Wagner, der durch Hermann Kurz' 1844 in Stuttgart erschienene Übertragung des mittelalterlichen Epos "Tristan und Isolde" zu seiner gleichnamigen Oper inspiriert wurde. Mit Friedrich Nietzsche zählte er zu Alfreds Patienten. Der nannte – wohl auch in Erinnerung an seinen Vater – seine beiden Kinder Tristan und Isolde.

Zur Geburt seiner Tochter Carla am 1. September 1913 stiftete Tristan – vielleicht eine Reminiszenz an die zahlreichen Glockengießer unter ihren Reutlinger Vorfahren – eine Kirchenglocke. Mit 19 heiratete Carla Ferdinando Barberi. Die beiden bekamen zwischen 1933 und 1942 drei Kinder. Carlas Mann hat sie um viele Jahrzehnte überlebt. Er pflegte bis zu seinem Tod 2010 Kontakte nach Reutlingen, die von seinen Kindern und Enkelkindern fortgeführt werden. Zusammen mit Alessandra Czeczott, die – welch ein Wink der Geschichte – seit ihrer Geburt im ehemaligen Haus von Edgar Kurz am Strand von Forte dei Marmi lebt, werden sie dort im Oktober 2013 den Teilnehmern der von Kontext unterstützten Anstifter-Fahrt nach Sant'Anna di Stazzema über ihre Erlebnisse und Erinnerungen berichten. So schließt sich auch hier ein Kreis.

 

Andreas Vogt (43) ist Mitarbeiter des Kulturamts der Stadt Reutlingen, wo er die Jubiläumsveranstaltungen zum 200. Geburtstag von Hermann Kurz organisiert (www.hermann-kurz-reutlingen.de). Noch bis 30. August ist im Foyer der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart die von ihm konzipierte Wanderausstellung "Das blaue Genie" über das Leben und Werk von Kurz zu sehen. 2012 hat er in Forte dei Marmi das ehemalige Haus von Edgar Kurz "wiederentdeckt" und ist dort Alessandra Czeczott begegnet.


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1 Kommentar verfügbar

  • Sigrid Klausmann
    am 07.08.2013
    Antworten
    Ich möchte mich bedanken für diesen Artikel!
    Eigentlich müssten alle Stuttgarter einmal Sant'Anna di Stazzema besuchen, als Zeichen der Solidarität und gegen das empörende Verhalten des Stuttgarter Ex-Oberstaatsanwalts Bernhard Häussler, der das Verfahren "mangels Beweisen", nach 10 Jahren…
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