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"Stasi West"

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Selbst sechs Jahrzehnte Beobachtung durch den Verfassungsschutz machen den Tübinger Gerhard Bialas nicht mürbe. Er wehrt sich, immer noch. Neuerdings freut er sich über eine Auskunft der Geheimen, bei welchen Gelegenheiten er die letzten Jahre bespitzelt wurde – weil die dürren Zeilen aus dem Landesamt politischen Sprengstoff bergen.

60 Jahre und kein Ende: Gerhard Bialas wird immer noch vom Verfassungsschutz beobachtet. Foto: Joachim E. Röttgers

Aufgeben ist nicht, sagt Gerhard Bialas. Und kämpft Brief für Brief, Anruf für Anruf gegen das Ende der Überwachung durch den Verfassungsschutz. Seit über 60 Jahren wird Bialas, Tübinger DKP-Urgestein und Gärtnermeister im Ruhestand, nun schon überwacht. Immerhin weiß er jetzt zumindest auszugsweise, bei welchen Gelegenheiten. Nachdem <link _blank internal-link>der rote Uropa beim Verfassungsschutz einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt hatte, kam aus dem Landesamt die Antwort, das sei nicht möglich. Aber ein Auskunftsersuchen, das sei drin. Wenn auch die Sache eine Weile dauern könne. Dann aber kam die Antwort aus der Stuttgarter Schlapphut-Zentrale doch erstaunlich fix, berichtet Bialas. 

Nur was da drinsteht, das versteht er nicht. Ein wildes Sammelsurium sei das, willkürlich zusammengewurschtelt. "Da haben die totalen Mist gemacht", grinst der 81-Jährige. Das fange schon bei diversen Ungenauigkeiten auf Seite 1 an. So ist Bialas beim Landesamt als Gerhard Otto Gerd erfasst. "Gerd habe ich noch nie geheißen", kommentiert er süffisant, da seien die Geheimen wohl nicht so ganz im Bilde. Und Gärtner im Ruhestand sei er auch nicht. Sondern Gärtnermeister, immerhin. Da frage man sich doch, wie der Verfassungsschutz sonst mit Informationen umgehe, wenn er schon so banale Dinge nicht auf die Reihe bekomme. 

Und es wird noch besser, aus Bialas'scher Sicht, der sich über jeden Schnitzer der Verfassungsschützer diebisch freuen kann. Nach einem kleinen Exkurs in die politische Frühgeschichte ("Sie sind dem LfV seit dem Jahr 1951 bekannt") und einem Abriss der DKP-Parteikarriere folgen die Erkenntnisse der vergangenen Jahre. Mit denen, findet Bialas, hat sich der Verfassungsschutz selbst ein Bein gestellt. Oder auch zwei, je nach Betrachtungsweise. 

Trauerfeiern und DGB-Kundgebungen werden auch überwacht

So wurde Bialas auf der Beisetzung eines verstorbenen DKP-Genossen beobachtet. "Revolutionär gestaltete" Wortbeiträge führt der Verfassungsschutz hier an, DKP-Fahnen und die Internationale, die gesungen worden sei. Nichts davon verboten, nichts davon auch nur annähernd staatszersetzend. "Dass die auf einer Trauerfeier rumgeschnüffelt haben, das stößt schon sehr sauer auf", sagt Bialas. Die Überwacher, könnte man meinen, respektieren nicht mal den Tod.

Noch schwieriger in der Außenwirkung des derzeit ohnehin nicht eben hoch angesehenen Verfassungsschutzes dürfte aber ein anderer Punkt in der Auflistung sein: "Sie nahmen am 1. Mai 2010 an der Maikundgebung, bei der auch linksextremistische Organisationen, u. a. die DKP, Infostände aufgebaut hatten. Am organisatorischen Ablauf (Redebeiträge, Moderation) waren Linksextremisten beteiligt." Linksextremisten? Staatsfeinde?

Dumm nur, wenn da auch noch Gewerkschaften ins Visier geraten: Dann gibt's Saures, sagt Bialas.Foto: Joachim E. RöttgersVeranstalter war der DGB, eine Gewerkschaft also, die nun wirklich nicht im Ruch steht, den Sozialstaat und die freiheitlich-demokratische Grundordnung gleich mit abschaffen zu wollen. Unter den Rednern waren Andreas Keller, promovierter Politikwissenschaftler und Leiter des Vorstandsbereichs Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, und Michael Lucke, Tübingens Erster Bürgermeister. Gerlinde Strasdeit, die für Die Linke im Tübinger Gemeinderat sitzt, Personalrätin an der Tübinger Uniklinik ist und im DGB-Kreisvorstand sitzt, moderierte die Kundgebung. Menschen also, die sicher nicht im Schwarzen Block mitlaufen. 

Bialas erkannte gleich, dass dieser Passus politischen Sprengstoff birgt. "Hm, da gibt's Saures", grinst er und ballt die Faust, kampfbereit immer noch, mit 81 Jahren. Seine Waffe ist und war die Öffentlichkeit, kaum ein vom Verfassungsschutz Beobachteter dürfte sich über Jahrzehnte so offen und medienwirksam zur Wehr gesetzt haben wie Bialas. "Ich hab das sofort verbreitet." An die Medien, an diverse Genossen und Betroffene. Das Schreiben aus der Stuttgarter Schlapphut-Zentrale landete auch im Internet, einem computeraffinen Bekannten sei Dank. Einen Computer besitzt Bialas nicht, per Mail verkehrt er nicht ("Der Emil kommt mir nicht ins Haus"), und einen Anrufbeantworter will er sich partout auch nicht anschaffen.

Die im Geheimen sieht man nicht

Egal, die Verbreitung funktionierte bestens. Moderatorin Gerlinde Strasdeit fragte sich prompt und öffentlich im "Schwäbischen Tagblatt", warum bitte schön sie beim Landesamt für Verfassungsschutz "als sogenannte Linksextremistin aktenkundig" sei. Innenminister Gall möge "diese im Innenministerium gehüteten 'Geheiminformationen'" doch löschen. Die Dauerbeobachtung ihrer Partei, ihrer Gemeinderatsfraktion, ihres gewerkschaftlichen Engagements und ihrer Privatsphäre empfände sie als "Beeinträchtigung meiner kommunalpolitischen und gewerkschaftlichen Arbeit". 

"Hoppla, das bin ja ich", sei ihr durch den Kopf geschossen, als sie den Bialas'schen Brief öffnete, erzählt Gerlinde Strasdeit am Telefon. Schnell seien bei ihr Erinnerungen hochgekommen. Daran, dass vor Jahren ein Backstein in ihrem Fenster landete und "Rote Sau verrecke" an ihre Hauswand gesprüht wurde. Von Neonazis, sagt sie, und dass doch am Klingelschild gar kein Name gestanden habe. "Mir ist ganz anders geworden, nachdem ich das Schreiben gelesen habe", erzählt Strasdeit. Und dass sie weiter dranbleiben will am Thema Verfassungsschutz, jetzt erst recht. "Ich hoffe, dass die grün-rote Landesregierung jetzt mal reagiert und die Schlapphüte auf DGB-Kundgebungen einstellt." Und den Verfassungsschutz als solchen am Besten gleich mit. "Ein kleines Pulverfass" sei die Sache ja schon, findet Strasdeit. "Das hätte in Tübingen sicher keiner gedacht." 

In dieselbe Kerbe schlägt der DGB-Kreisverband Tübingen. Angesichts der Verstrickung des Verfassungsschutzes mit der Neonaziszene und der täglich neuen damit einhergehenden Skandale erscheine die Überwachung der Tübinger Maifeier als eine Verletzung der Grundrechte und "gezielte Verunglimpfung und Einschüchterung von gewerkschaftspolitischem Engagement. Schwer kontrollierbare Inlandsgeheimdienste mit außergesetzlichen Kompetenzen zur Überprüfung der politischen Gesinnung sind und bleiben ein Fremdkörper in der Demokratie. Das Geld für den sogenannten Verfassungsschutz wäre in der Bildung viel besser aufgehoben." Tobias Kaphyegi, Sprecher der Tübinger Kreisverbands und politischer Multiaktivist, geht noch einen Schritt weiter und würde seitens des DGB-Kreisverbands gerne "einen Impuls setzen, dass man über eine Abschaffung oder eine radikale Veränderung des Verfassungsschutzes nachdenkt". Zumal man ja in Sachen NSU einerseits und Überwachung von Gewerkschaftsveranstaltungen andererseits sehe, dass der Verfassungsschutz "ein politisches Instrument" sei, mit dem der politische Gegner mundtot gemacht würden.

Der Unsinn mit der Überwachung

"Völlig abstrus" findet Tübingens Erster Bürgermeister Michael Lucke (SPD) die Tatsache, dass eine Maikundgebung des DGB vom Verfassungsschutz observiert wurde. "Was erwarten die denn da für verfassungsfeindliche Umtriebe? Vielleicht wollten die ja auch nur Überstunden mit Feiertagszuschlag schinden, Erkenntnisse konnten die da ja nicht erwarten" – zumal die Gewerkschaft ja eine "ausgewiesene Verfassungsfreundin" sei. 

Eine Lanze für Bialas bricht Lucke gleich auch noch. "Und wer dann glaubt, dass so ein langjähriger aufrechter Gemeinderat wie Gerhard Bialas den Staat umstürzen will, der muss schon sehr einfältig sein. Vielleicht ist es für die Herrschaften einfach nur zu anstrengend, die wahren Verfassungsfeinde ausfindig zu machen, was man ja am Umgang mit den Morden der NSU erkennen konnte." Ihm selbst immerhin sei die Überwachung seiner Person an jenem Tag ziemlich egal. Obwohl – vielleicht könne er dann aus den Beständen der Schlapphüte "mal eine Abschrift meiner Rede für mein eigenes Archiv besorgen". 

Der Bericht der Verfassungsschützer? Eine glatte sechs, sagt Bialas. Foto: Joachim E. RöttgersLucke hofft, dass "der Unsinn mit der Überwachung von Gerhard Bialas bald eingestellt wird, denn unser Staat wird dadurch in keinster Weise sicherer, dass man das Aufstellen von DKP-Schirmen überwacht und dokumentiert".

Gerhard Bialas sitzt in seiner Wohnung hoch über Tübingen auf dem Sofa und bewertet das Schreiben der Verfassungsschützer mit einer glatten Sechs. Da sei ja die Version aus dem Jahr 1996 noch besser gewesen. Damals bekam er immerhin seinen beinahe vollständigen politischen Werdegang als Auskunft. Nun aber nur noch eine scheinbar willkürliche Auflistung von Einzelereignissen. Warum nur ausgerechnet diese, fragt er sich und hat die Antwort gleich parat: "Ich schätze, dass das mit einer Dussligkeit zu tun hat, dass die einfach nicht so richtig blicken, was los ist auf der Welt."

Auskunft gibt es nicht ohne Weiteres

Seitens der Verfassungsschützer wiederum kommt die Erklärung, dass man gar keine Personenakten führe. Sondern vielmehr "Personenzusammenschlüsse" beobachte. Zu sehr könne man bei der Erklärung aber nicht ins Detail gehen, weil "da gewisse Punkte berührt werden". Ein Akteneinsichtsrecht gebe es auch nicht. Und für eine Auskunftserteilung müsse ein besonderes Interesse nachgewiesen werden. Sagt der Sprecher, der namentlich nicht genannt werden will. Was das denn ist, ein besonders Interesse? "Das ist eine gute Frage. Die Juristen waren's, ich war's nicht." Wenig später kommt die Erklärung per Mail: "Bei der Demonstration einer extremistischen Vereinigung werden die Personalien eines Teilnehmers durch die Polizei festgestellt; der Teilnehmer vermutet, dass die erhobenen Daten zwischen den Sicherheitsbehörden weitergegeben werden." Oder aber: "Ein Bürger wird von Mitarbeitern des LfV angesprochen und vermutet danach, dass er beobachtet wurde." Viel Spielraum bleibt da nicht. 

Jaja, ein Fass habe er da schon aufgemacht mit der ganzen Geschichte und seinem neuerlichen Gang an die Öffentlichkeit, sagt Gerhard Bialas. Zumal nun auch Gerlinde Strasdeit ein Auskunftsersuchen an die Schlapphüte stellen will. Wenn das jeder mache, der vermutet, beobachtet zu werden, käme eine Lawine ins Rollen, meint Bialas. "Ich glaube aber, dass die meisten sich damit abgefunden haben, mit dem Überwachungsstaat und dem realen Kapitalismus."

Die Landesregierung müsse endlich mal aktiv werden in Sachen "Stasi West", fordert Bialas. Seitens der Grünen habe er nun verschiedentlich signalisiert bekommen, dass da was im Gange sei, eine Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes zumindest nicht mehr ausgeschlossen ist. Nur die SPD schweige sich aus: "Die haben alle einen Maulkorb vom Innenministerium bekommen."

Eines jedenfalls wolle er nicht, schrieb Bialas in einem Leserbrief. "Dass eines Jahres im Verfassungsschutz-Bericht als letzte 'Erkenntnis' über mich steht: Gerhard Bialas hat an seiner eigenen Trauerfeier teilgenommen und dabei die Internationale gesungen."

 


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