KONTEXT:Wochenzeitung
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Gipfelgespräch

Gipfelgespräch

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"Sich einzulassen auf das Fremde, führt zu mehr Toleranz", sagt die Direktorin von "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe in Stuttgart. Die baden-württembergische Landeshauptstadt sei weltoffen, mitunter aber auch borniert. Ein Gipfelgespräch mit Cornelia Füllkrug-Weitzel über globale Zusammenhänge, Sehnsucht und Geld.

Frau Füllkrug-Weitzel, hier oben auf dem Stuttgarter Fernsehturm lernen die Gedanken fliegen. Wohin fliegen Ihre?

Hier war ich ja noch nie, obwohl dies das Wahrzeichen von Stuttgart ist. Man sieht hier sehr schön, dass Stuttgart eine ländliche Stadt ist. Die Einbettung in die Weinberge. Man sieht, dass diese Stadt ein Eindruck in die Natur ist. Das fällt mir hier oben stärker auf.

Was ist Ihnen hier oben zuerst ins Auge gefallen? Die Nähe oder die Ferne? Die Stadt oder die Schwäbische Alb?

Mich reizt immer der Horizont. Immer die Weite, das Hinausschauen. Ich reise in viele Länder, und der Anflug ist für mich immer besonders schön. Da bekomme ich einen Gesamteindruck von einem Land. Man kann Rückschlüsse ziehen über die Lebensverhältnisse, die Fruchtbarkeit eines Landes, darüber, wie stark die Menschen mit und von der Natur leben. Wie das menschlich-gesellschaftliche Leben und die Natur miteinander harmonieren. Deshalb ist es mir hier oben gleich aufgefallen, dass Stuttgart in diese Landschaft eingebettet ist. Man sieht die Weinberge, man sieht, dass diese Stadt auch ein bisschen mediterran ist.

Über diese Charakterisierung werden sich die Stuttgarter freuen. Ihr Blick ist stark von Ihrer Arbeit geprägt?

Ja, wenn man über den Kesselrand hinausschaut, dann gewinnt man einen Eindruck von den größeren Zusammenhängen und sieht, dass auch eine Stadt wie Stuttgart in einem größeren Kontext steht. Und eine Geschichte hat, etwa die des Weinbaus.

Sie kommen geradezu ins Schwärmen. Ist dies hier oben für Sie auch ein Ort der Sehnsucht?

Die Möglichkeit, in die Weite zu blicken, liebe ich nachgerade.

Wonach sehnen sich die Deutschen?

Gerade, das erlebe ich derzeit häufig, gibt es eine große Sehnsucht nach Werten, nach Wahrhaftigkeit und Sinn. Aus dem Management und der Finanzwelt kommen Unzufriedene zu mir, die bei "Brot für die Welt" oder in der Katastrophenhilfe arbeiten wollen. Ich sage dann: Haben Sie mal auf die unterschiedlichen Gehälter geschaut? Und die Antwort ist meist: Geld habe ich genug, aber was ich bisher getan habe, war so sinnlos. Ich verstehe dies als Sehnsucht nach wahren Werten, weil heute alles instrumentalisiert und entleert wird.

Ein Phantomschmerz sozusagen?

Ja, weil einiges fehlt oder seiner Bedeutung beraubt ist. Hier oben wird symbolisch klar, dass wir Teil sind eines größeren Umfelds. Wir können es uns nicht mehr leisten, uns auf unsere Straße und unser Dorf zu konzentrieren und nur wahrzunehmen, was in unserem unmittelbaren Umfeld stattfindet. Durch unsere Handelsbeziehungen sind wir schon in einen globalen Kontext eingewoben, Waren und Dienstleistungen werden in großer Geschwindigkeit um die Welt verschoben. Wir können nicht so tun, als wären wir nicht aktiv am Geschehen auch in anderen Teilen der Erde beteiligt.

Die globalisierte Welt verlangt demnach, dass wir den Bezug vom Konkreten zum Allgemeinen herstellen? Dass wir Idee und Alltag in einen Kontext stellen?

Ja, in einen Zusammenhang und in eine Balance. Denn ohne Verwurzelung ist die Identität bedroht. Deshalb muss man den regionalen Bezug ernst nehmen, denn dies hilft den Menschen, an ihrem Wohnort eine Identität auch in Gestalt von Gemeinschaft zu schaffen. Die globale Welt ist doch längst bei allen hier angekommen.

Das zeigt auch die Atom- und Naturkatastrophe in Japan. Auch Sie haben zu Spenden aufgerufen.

Wir haben unter zwei Stichworten für Spenden geworben. Zum einen konkret für Japan, da flossen 1,8 Millionen Euro. Und zum anderen für den allgemeinen Katastrophenfond, weil heute noch nicht absehbar ist, wie viel Japan aus eigener Kraft stemmen kann. Dieses Geld in Höhe von 500 000 Euro können wir für Katastrophengebiete verwenden, auf die das Licht der Öffentlichkeit nicht so sehr fällt.

Etwa auf die Konflikte in der arabischen Welt?

Ja, unser Spendenkonto mit dem Stichwort "Krise Nordafrika" wird nicht so wahrgenommen. Wir unterstützen etwa ein Flüchtlingslager in Salloum an der ägyptisch-libyschen Grenze und beginnen in Tunesien gerade mit der Flüchtlingshilfe. Der Konflikt ist ja noch lange nicht beendet, und dieses Geld können wir dann aus dem Topf für die allgemeine Katastrophenhilfe nehmen.

Sie sind seit elf Jahren Chefin von "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe. Wie gut schaffen es die Stuttgarter, über ihren Kesselrand zu schauen?

Hier haben viele globale Unternehmen ihren Sitz, die darüber nachdenken, wie sie auf dem globalen Markt agieren können. Darin sind die württembergischen Unternehmen durchaus erfolgreich. Insofern ist Stuttgart eine Stadt, die über den Tellerrand hinausschaut. Das andere ist das Alltagsbewusstsein und das Interesse für die Kultur und Befindlichkeit über das eigene Umfeld hinaus. Also wahrzunehmen, dass es Menschen auch einmal nicht so gut gehen kann wie hier in Stuttgart. Da gibt es häufig eine große Borniertheit in der Wahrnehmung anderer Lebensrealitäten.

Ist die Spendenbereitschaft ein Parameter für Weltoffenheit?

Die Stuttgarter und überhaupt die Menschen in Baden-Württemberg sind ganz tolle Spender. Jede vierte Spende, die uns über die Landesverbände erreicht, kommt von hier. Aber es gibt hier natürlich auch, und das hat nichts mit Weltoffenheit zu tun, eine starke karitative Prägung. Unsere Spender haben ein klares Bewusstsein. Wir von "Brot für die Welt" begreifen es als Auftrag, Bewusstsein hier im Norden zu schaffen. Wir haben Bildungsmaterial entwickelt, um beizutragen, dass Menschen sich mehr für Gerechtigkeit einsetzen. Dass sie als Konsumenten, als mündige Bürger ihren Politikern sagen, was sie erwarten und was nicht.

Reisen allein genügt nicht, um den Blick zu weiten?

Man kann viel reisen und nichts lernen. Man kann sich auch an Stränden rösten, deutsche Lieder singen und deutsche Würstchen essen, und das war‘s. Reisen bedeutet noch kein Interesse an der Ferne oder Horizonterweiterung. Es kommt auf die Haltung an.

Wenn es ein originäres Interesse am Fremden gibt, hilft das, die Empathie zu fördern und die Fähigkeit, über den Kesselrand hinauszublicken?

Sich einlassen auf das Fremde, führt sicher zu mehr Toleranz, Dialogbereitschaft und vielleicht sogar Dankbarkeit. Weil wir sehen, dass wir nicht allein auf dieser Welt leben und uns zu anderen in eine friedliche Beziehung setzen müssen. Dann führt Fremdheit zur eigenen Selbstvergewisserung. Das andere ist die Empathie. Am emphatischsten war sicherlich die Nachkriegsgeneration. Selber am eigenen Leib etwas erfahren zu haben, das fördert Mitgefühl.

Es ist wohl eine richtige Beobachtung, dass mehr gespendet wird, wenn Deutsche betroffen sind?

Das spielt eine große Rolle. Und das hängt wesentlich von der Berichterstattung ab, die nur auf das Deutsche abhebt. Die Entwicklung in den letzten zehn, zwanzig Jahren katapultiert uns wieder ins Provinzielle zurück. Inzwischen ist eine Region medial nur interessant, wenn es eine Riesenkatastrophe gab wie während des Tsunamis 2004. Oder wenn ein Deutscher vor Ort hilft. Ob deutsche Hilfe das Wesentliche ist oder das, woran die Welt genesen soll, kann man in Frage stellen.

Die Medien haben also zwei Funktionen: Sie bestimmen und fördern Empathie durch Information, andererseits reduzieren sie Empathie, weil sie den Bauchnabelblick zum Transportriemen machen?

Die Berichterstattung verkürzt sich auf Katastrophen. Natürlich sind gerade wir Spendenorganisationen darauf angewiesen, dass berichtet wird. Aber es geht durch die weiße Brille: Interessant ist nur, was Deutschen passiert. Nehmen Sie Tunesien oder Ägypten. Wichtig ist, dass Deutsche ausgeflogen wurden. Man hört ja kaum Tunesier selber über ihre Lage sprechen. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als könnten sich Menschen nicht selber helfen. Doch sie können’s, denn sie sind kein bisschen blöder oder unfähiger.

Sie halten diese Betrachtungsweise für zynisch?

Rassistisch, wenn man es ganz genau nimmt.

Nähe und Distanz: Wie ist der Blick in die Nähe, wenn er qua Institution in die Ferne gerichtet ist? Wie gehen Sie, wie gehen Spender mit Hartz IV um, mit der Not vor der eigenen Haustür?

Empathie ist unteilbar. Menschen, die das Elend am anderen Ende der Welt wahrnehmen, sehen auch die Menschen am Rande unserer Gesellschaft.

Wir haben den Eindruck, dass die Deutschen eher bereit sind, außerhalb des Landes zu helfen als den Hartz-IV-Empfängern.

Ob nun Hartz-IV-Empfänger diskriminiert werden oder ob man sagt, Entwicklungshilfe ist Weltsozialpolitik – das ist doch der gleiche Zeitgeist, dasselbe politische Muster, das da heißt: Die Wirtschaftskraft ist wichtig, und wir fördern nur Leistungsträger. Und von den anderen muss man mal was fordern, denn die hängen in der sozialen Hängematte. Das ist doch Unsinn.

Sie sind 2009 als SPD-Kandidatin im Wahlkreis Stuttgart angetreten. Dann haben Sie sich entschlossen, Ihren alten Job weiterzumachen. Kann die Kirche mehr bewirken als die Politik?

Diese Entscheidung war viel weniger grundsätzlich als pragmatisch. Wir standen vor einer Fusion und in dieser Situation ist es nicht ratsam, kopflos zu werden. Es gibt kein Mehr oder Weniger. Ich glaube, die Politiker haben eine sehr hohe Verantwortung, und es gefällt mir nicht, dass man die politische Klasse zunehmend diffamiert und ihr unterstellt, die wollten sich alle nur bereichern. Ich halte es für ein Problem, dass wir unsere eigene politische Klasse so runtermachen. Aber es braucht eine starke Bürgerschaft und starke Kräfte in der Zivilgesellschaft, um die Politik an diese Verantwortung zu erinnern.Wir brauchen Menschen, die sich engagieren, und Politiker, die sich reinhängen.

Die Wahrnehmung ist aber oft so, dass die Politik von den Menschen so weit entfernt ist wie wir hier oben auf dem Fernsehturm vom Landtag.

Da haben die Parteien sicher Fehler gemacht, dass sie sich so von den Bürgern abgekoppelt haben, da gibt es große Kommunikationsdefizite. Andererseits sind die Beteiligungsansprüche der Bürger ganz klar gestiegen. Ich finde es positiv, dass sich die Menschen in diesem Land nicht mehr mit einem Kreuzchen zufrieden geben wollen. Dazu hat übrigens auch das Internet mit seinen neuen Beteiligungsformen beigetragen. Das macht uns noch ein Stück mündiger als Bürger.

Das klingt wie ein Kommentar zu Stuttgart 21?

Sie haben es erkannt. Ja, es geht um politische Beteiligung der Bürger und Kommunikation der Politiker.

Wie kann eine größere Nähe entstehen?

Der Bürgerdialog ist wichtiger geworden. Sei es im Internet, sei es, indem Diskussionsgelegenheiten geschaffen werden, die diesen Namen auch wirklich verdienen. Bürger sind nicht einfach Teil einer parteipolitischen Werbestrategie. Politiker müssen wirklich in Dialog treten und vor allem zuhören wollen. Ich glaube, das Zuhören ist etwas knapp ausgefallen in letzter Zeit. Das ersetzt nicht die formellen Strukturen parlamentarischer Demokratie, aber es müsste sie ergänzen.

Zuhören ist wiederum ein Moment der Empathie. Haben Leute wie Stuttgarts OB Wolfgang Schuster oder Ministerpräsident Stefan Mappus zu wenig die Emotionalität der Stuttgarter Bevölkerung erkannt?

Sicher kann man sagen, dass der Bürgerdialog zu knapp ausgefallen ist. Die Bevölkerung wird im politischen Gespräch entweder belehrt oder umworben. Aber das Gespräch im Sinne von Zuhören, Ernst- und Wahrnehmen und Einbeziehen kommt zu kurz. Man muss dem Volk nicht nach dem Munde reden, aber man muss genau hin- und zuhören, was dieser Mund spricht.

Alle vier Jahre ein Kreuz machen, damit ist es wohl nicht mehr getan, so funktioniert das Volk nicht mehr?

Wir leben jetzt im Internet-Zeitalter. Das erfordert andere Konzepte der Demokratie als in den 50er- oder 80er-Jahren. Das braucht eine andere Kommunikationskultur. Es geht nicht mehr, den Bürger nur als funktionierenden Wähler abzurufen. Da muss man sich mit den Menschen auf ein Gespräch einlassen. Politische Debatten finden nicht nur zwischen oder in Parteien statt, sondern auf Plattformen, auf denen sich Einzelne tummeln. Die Parteien haben es nicht geschafft, so offen zu erscheinen, dass die Leute massenhaft zu ihnen strömen. Und deshalb muss es andere Formen geben.

Wir stehen hier auf einem Wahrzeichen von Stuttgart. Gibt es für Sie so etwas wie ein Symbol für Menschlichkeit?

Das ist nicht die gebende Hand, sondern der Blick von Auge zu Auge. Die gegenseitige Wahrnehmung von Menschen auf Augenhöhe.

Das Gespräch führten Susanne Stiefel und Rainer Nübel

Fotos: Meinrad Heck


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2 Kommentare verfügbar

  • axelbpunkt
    am 06.04.2011
    Antworten
    Ich gehöre zu den Menschen, die darauf konditioniert sind, bei dem Vorwurf "rassistisch" zusammenzuzucken. Über den pawlowschen Reflex hinaus fällt mir bei Frau Füllkrug-Weitzel schwer zu verstehen, warum sie diesen Begriff verwendet hat. Das Interview ist eher von ruhigen Tönen geprägt, vom…
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