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Alfred Herrhausen und Helga Müller

Eine halbe Milliarde für Atlantis

Alfred Herrhausen und Helga Müller: Eine halbe Milliarde für Atlantis
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Atlantis nannten Helga und Hans-Jürgen Müller ihr großes Projekt. Alfred Herrhausen wollte es finanzieren. Doch der Vorstandssprecher der Deutschen Bank wurde ermordet. Aus Atlantis wurde die Zukunftswerkstatt Mariposa auf Teneriffa. Heute sorgt sich Helga Müller um die Zukunft ihres Lebenswerks.

Ihr Traum war es, mit Atlantis einen Ort zu schaffen, an dem sich Entscheidungsträger:innen, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen treffen, um gemeinsam an Ideen zu spinnen, wie die Welt schöner und besser werden könnte. Mit wem sollten sie ihre große Idee besprechen? "Der einzige, der mir dazu einfällt, ist Herrhausen", antwortete Helga Müller 1985 ihrem Mann. Hans-Jürgen Müller, führender Stuttgarter Galerist und Mitbegründer der heutigen Art Cologne, hatte mit Kunst viel Geld verdient, war aber genau deshalb ins Zweifeln geraten: Kunst, so seine Diagnose, war zum Spekulationsobjekt geworden. 1972, nach der Documenta, hatte er sich nach Teneriffa zurückgezogen.

Vier Jahre später hatten sich die beiden in Stuttgart kennengelernt. Sie war Assistentin des Porsche-Vorstandvorsitzenden Ernst Fuhrmann. Er schrieb ein Buch: "Kunst kommt nicht von Können". Kunst zu verkaufen und auszustellen, reichte ihm nicht mehr aus. Gemeinsam dachten sie darüber nach, was in der Welt schieflief. Eine Zukunftswerkstatt wollten sie gründen, wo sich Politik und Wirtschaft von der Schönheit und Kreativität der Kunst inspirieren lassen. Doch wer könnte sich dafür interessieren?

"Da hab' ich ihn angerufen", erzählt Helga Müller. Das war 1985, Alfred Herrhausen war seit Kurzem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, damals noch zusammen mit Friedrich Wilhelm Christians. Sein Büro befand sich an der Königsallee in Düsseldorf. "Kommen Sie doch vorbei", forderte er sie auf. "Und bringen Sie Ihren Mann mit!"

Diese Frau hat viel erlebt und viel zu erzählen. Und alles hängt mit allem zusammen: ihr Lebensweg, Herrhausen, Atlantis. "Mein Vater ist 1884 geboren", holt Helga Müller aus. Als er 1943 starb, war sie noch ein kleines Kind, über 80 Jahre alt ist sie heute. Doch obwohl sie gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe ist, nimmt sie sich viel Zeit. Das Rauchen hat sie eingestellt, anstelle von Kaffee steht Kräutertee auf dem Tisch. "Aber bitte", erwidert sie auf die Frage, ob es ihr nicht zu viel werde, "es kommt nicht so oft vor, dass ich mein ganzes Leben erzähle."

Ihr Lebensweg verlief nicht geradlinig

Herrhausen war Helga Müller zuerst auf privaten Gartenfesten ihres Chefs begegnet. Edzard Reuter war ebenfalls da – als er 1987 Vorstandsvorsitzender von Daimler-Benz wurde, hatte Herrhausen als Aufsichtsratsvorsitzender seine Hand im Spiel. "Ich fand ihn sympathisch", so beschreibt Helga Müller ihren Eindruck von dem Bankier. "Wir haben aber keine Gespräche geführt. Es gab eine gewisse Distanz."

Das änderte sich 1981, als ihre Stellung bei Porsche ins Wanken geriet. Sie hatte eines Tages einen Anruf von einem Journalisten bekommen: Er müsse Fuhrmann sprechen. "Der ist in einer Aufsichtsratssitzung", entgegnete sie. "Worum geht es denn?" Schließlich rückte der Journalist mit der Sprache heraus: Ferdinand Piëch wollte Fuhrmann abservieren. Das war keine Nachricht, nach der sie einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, um ihrem Chef wenigstens einen würdigen Abschied zu verschaffen.

"Herrhausen hat mich angerufen, als Fuhrmann gegangen worden ist", erzählt sie, "weil er richtig vermutet hat, dass dessen alte Mitarbeiterin über die Klinge springen muss." Damals ging Herrhausens Sekretärin gerade in den Ruhestand. Helga Müller hätte ihr nachfolgen können, doch daraus wurde nichts. Aber von nun an blieb sie mit dem Bankier in Kontakt.

Ihr Lebensweg ist alles andere als geradlinig verlaufen. Helga Müller stammt aus einer Unternehmerfamilie aus Saarbrücken. Ihr leiblicher Vater war Kaffeeimporteur. Als er starb, führte ihre Mutter das Geschäft weiter. Deren zweiter Mann hatte sich vom Zirkus Sarrasani zum Besitzer dreier Kinos hochgearbeitet. Helga Müller war hochbegabt. Weil ihre Klavierlehrerin ihr nichts mehr beibringen konnte, hatte sie eine Zeit lang Klavierunterricht bei Walter Gieseking. Doch ihr Stiefvater erlaubte ihr nicht, Musik zu studieren, und meldete sie von der Schule ab.

Sie machte Fachabitur, ging auf eine Hotelfachschule, bekam eine Tochter und heiratete. Doch fürs Hausfrauendasein war sie nicht geschaffen. Nur weil ihre Mutter das Kind hütete, konnte sie sich beruflich weiterentwickeln. Sie lernte Simultandolmetscherin, wurde Assistentin des Vorstands einer Unternehmensberatung und danach beim Vorstandsvorsitzenden des Energieversorgers Steag in Essen. Der kommandierte gern seine Untergebenen herum. Das ließ sie sich nicht gefallen. Doch sie organisierte sein Büro. Das war wichtiger.

Zukunftswerkstatt in einer postmodernen Akropolis

Dass sie ihren eigenen Kopf benutzte statt sich wegzuducken, gefiel auch Fuhrmann. Und Herrhausen, der selbst unkonventionell an die Dinge heranging. Als Helga und Hans-Jürgen Müller ihm ihre Pläne für Teneriffa darlegten, nahm er sich mehr als zwei Stunden Zeit. "Er konnte unglaublich gut zuhören und wollte genau wissen, was wir uns da vorstellen", erzählt Helga Müller. Zum Abschluss führte er sie durch die Kunstsammlung der Deutschen Bank und forderte sie auf: "Halten Sie mich auf dem Laufenden!"

Das tat sie: als sie den Architekten Leon Krier mit einem Entwurf beauftragten. Eine postmoderne Akropolis! Helga Müller war entsetzt. Sie hatte sich ihre Zukunftswerkstatt moderner vorgestellt. Doch ihr Mann packte Kriers Modell in ein Wohnmobil und ging damit auf Reisen, um die Idee zu bewerben. Helga Müller blickt, während sie erzählt, vor sich auf den Tisch, ganz darauf konzentriert, die Ereignisse, die inzwischen bald vierzig Jahre zurückliegen, vor dem inneren Auge wiedererstehen zu lassen.

Später war das Modell an verschiedenen Orten ausgestellt. Zuerst im Dezember 1987 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Helga Müller schrieb an Herrhausen: "Können Sie mir die Ehre geben, dabei zu sein?" Herrhausen konnte nicht. Seit er Vorstandssprecher war, gab es in seinem Terminkalender kaum noch einen freien Platz. Er befand sich an einem kritischen Punkt seiner Karriere.

Im September erst hatte er etwas sehr Ungewöhnliches getan, was sich bis heute eng mit seinem Namen verbindet: In New York hatte er sich – vor den versammelten Reihen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds – für einen Schuldenschnitt für die Dritte-Welt-Länder ausgesprochen. Die Finanzwelt jaulte auf. Auch im eigenen Haus, der Deutschen Bank. Dennoch wurde er im Dezember zum alleinigen Vorstandssprecher gewählt. Es gab keinen, der mit ihm mithalten konnte.

Umstrittener Krier

Léon Krier hatte 1985, als er die postmoderne Akropolis Atlantis entwarf und ihm das Museum of Modern Art in New York eine Einzelausstellung widmete, ein handfestes Problem: Im selben Jahr nämlich hatte er, in englischer und französischer Sprache, ein Buch über Hitlers Architekten Albert Speer veröffentlicht, mit dem er in dessen letzten Lebensjahren in Kontakt gestanden war. "Kriers Entwurf", so der Architektutheoretiker Stephan Trüby zu Atlantis in der Ausgabe 248 der Zeitschrift arch+ von Juni 2022, "fällt in eine Zeit, in der der Architekt an einer Depression litt, die nach eigenen Angaben durch die äußerst negativen Reaktionen auf das 1985 von Krier publizierte Verherrlichungsbuch Albert Speer – Architecture 1932–1942 hervorgerufen worden war."

Léon Krier, 1946 in Luxemburg geboren, begann 1968 in Stuttgart Architektur zu studieren,  brach jedoch das Studium nach einem Jahr ab, um im Büro von James Stirling, dem späteren Erbauer der Neuen Staatsgalerie in Stuttgart, zu arbeiten. Nach vier Jahren wechselte er zu Josef Paul Kleihues, der später die Museen von Kornwestheim und Sindelfingen gestaltete, ging dann aber zu Stirling zurück und lehrte insgesamt zwanzig Jahre an britischen Hochschulen, ab 1982 auch in den USA. Zur Zeit des Atlantis-Entwurfs hatte er noch nichts gebaut – er wird gern zitiert, oft verkürzt, mit dem Statement von 1987: "Ich baue nicht, weil ich ein Architekt bin. Ich kann wahre Architektur machen, weil ich nicht baue." Ab 1988 entwarf er dann aber in Dorchester für den heutigen König Charles III. die traditionalistische Vorstadt Poundbury, die 2025 fertig sein soll. Sein Bruder Rob Krier veröffentlichte 1975 ein viel beachtetes Buch, "Stadtraum", das den Verlust jenes Stadtraums beklagte und "an Beispielen der Innenstadt Stuttgarts" eine Rekonstruktion der alten Blockrand-Strukturen propagierte.  (dh)

Herrhausen war während der Tagung nach Mexiko geflogen und hatte sich vom Präsidenten des Landes die Lage schildern lassen. Ein Schuldenschnitt war unvermeidlich. Ein Tabu, aber anders ließ sich das Problem nicht lösen. Herrhausen kannte keine Tabus. Er glaubte an rationale Lösungen. Ebenfalls hochbegabt, hatte er bis zum 15. Lebensjahr eine NS-Eliteschule am Starnberger See besucht. Später machte er sich Gedanken zu "Risiken und Chancen der Demokratie", so der Titel eines Vortrags von 1971. "Wir sollten einsehen, dass wir die Quellen, aus denen wir leben, nicht ständig überfordern dürfen", heißt es da. "Wir sollten stattdessen mit allem Ernst die Bildungschancen verbessern."

Daran arbeitete Herrhausen, als er Anfang der 1980er-Jahre die Gründung der Universität Witten/ Herdecke, der ersten deutschen Privatuniversität, maßgeblich mit vorantrieb. Seine zweite Frau war Ärztin, die Initiative ging aus von Ärzten des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. Weitere Akzente hat Herrhausen gesetzt: ein einführendes, obligatorisches "Studium fundamentale"; in den Wirtschaftswissenschaften die Betonung von Verantwortung und selbständigem Denken. Philosophie war einmal sein Wunschfach gewesen.

Helga und Hans-Jürgen Müllers Idee fiel bei Herrhausen auf fruchtbaren Boden. Der Gedanke, sich von Philosophie und Kunst inspirieren zu lassen, für die Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, der Bildungsschwerpunkt: Das waren Dinge, die ihn selbst umtrieben. Im Juli 1989 rief er Helga Müller wieder an. "Ich mache Atlantis zur Vorstandssache der Deutschen Bank", eröffnete er ihr und bat sie nach Frankfurt zu kommen. Eine halbe Milliarde US-Dollar war Herrhausen bereit, für die Realisierung von Kriers Entwurf zu übernehmen.

Foto: BKA

Der unaufgeklärte Mord

"Personenschutz für einen Banker", lässt Wolfgang Schorlau in "Die schützende Hand" seinen Detektiv Georg Dengler erzählen. "Ein hohes Tier. Wir sollten ihn morgens von Bad Homburg nach Frankfurt zu seinem Arbeitsplatz bringen. Zwei BKA-Fahrzeuge." Ohne den Namen Herrhausen zu erwähnen, benennt Schorlau die Widersprüche des Mordfalls: Der erste BKA-Wagen fuhr unbeschadet durch die Sprengfalle und hielt nach der Explosion nicht an. Niemand eilte Herrhausen, der noch lebte, zu Hilfe. Das zerstörte Fahrzeug verschwand auf mysteriöse Weise. Der Mordfall Herrhausen bleibt ungeklärt.

Das regt an zur fiktiven Aufarbeitung in Literatur und Film. Andres Veiel hat den Mord in "Black Box BRD" verarbeitet. Die ARD dreht derzeit wieder eine vierteilige Serie. Allen erdenklichen Bösewichten wurde der Mord in die Schuhe geschoben: der dritten Generation der RAF, den Palästinensern, der Stasi, zuletzt Putin. Wenn man nach dem Motiv fragt, macht das alles nicht viel Sinn. Fest steht: Da waren Profis am Werk. Das gibt Anlass zu Verschwörungstheorien. Nur: Es gab eine Verschwörung. Herrhausen wurde ermordet.  (dh)

Doch daraus wurde nichts. Vier Monate später, drei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, fiel Herrhausen in seinem Wohnort Bad Homburg einem Bombenanschlag zum Opfer. Täter und Gründe bleiben bis heute im Dunkeln.

Am Tag nach dem Anschlag, und ohne davon zu wissen, besuchten Helga und Hans-Jürgen Müller in Bad Homburg eine Kunstsammlerin in Herrhausens unmittelbarer Nachbarschaft. Sie wunderten sich noch, warum die Straße gesperrt war. Erst als sie da waren, erfuhren sie, dass Herrhausen tot war. Damit war auch die Finanzierung ihres Traums gestorben.

Aus Atlantis wurde Mariposa, nach dem spanischen Wort für Schmetterling: anspielend auf die Butterfly-Wing-Theorie, nach der kleine Ursachen große Wirkungen entfalten können. Seit dem Tod ihres Mannes 2009 betreibt Helga Müller die Zukunftswerkstatt allein. Und sucht nun nach einer Lösung, um ihr Lebenswerk an die nächste Generation zu übergeben.

Schon bisher hat sie ihre ganze Energie darauf verwendet, Unterstützer zu finden, bei Laune zu halten und neue Zusammenkünfte zu ermöglichen. Die Corona-Zeit, in der keine Begegnungen möglich waren, hat das nicht leichter gemacht. Nun macht sie sich Sorgen um ihr Lebenswerk, das an Relevanz kein bisschen verloren hat. Früh schon standen sie in engem Kontakt mit dem Club of Rome. Dessen Warnungen sind so aktuell wie nie. Doch wer könnte übernehmen? Ein neuer Herrhausen ist nicht in Sicht.


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1 Kommentar verfügbar

  • Armin Fischer
    am 25.01.2023
    Antworten
    Ein spannendes Thema. Ich hatte Hans-Jürgen Müller noch zu seinen Lebzeiten im Glashaus vom Theaterhaus erlebt. Mariposa und Operndorf sind tolle Projekte. Schade daß dies oft im Blätterrauschen untergeht.
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