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Theater aus dem Schaudepot

Performance-Perlen archiviert

Theater aus dem Schaudepot: Performance-Perlen archiviert
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Das Schaudepot für die Darstellenden Künste ist ein einzigartiger Ort, an dem das Publikum Theater auf ganz besondere Weise erkunden kann. Bernhard Herbordt und Melanie Mohren haben dort ihre Stücke archiviert. Und sind für eine Führung oder ein Programm jederzeit ansprechbar.

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"Guten Tag. Herzlich willkommen!", liest Bernhard Herbordt aus dem Drehbuch des eigenen Stücks "Das Theater". "Sie wollen bei uns eintreten?" Eigentlich stammt der Text von Franz Kafka. "Kommen Sie ruhig näher. Es ist das größte Theater der Welt!" Innen rücken die Besucher in den kleinen Räumlichkeiten zusammen, es ist kuschelig.

Das Schaudepot befindet sich im Souterrain eines Mehrfamilienhauses im Stuttgarter Süden. Früher war es die Werkstatt eines Fliesenlegers. Von einem Empfangsraum mit schwarzem Tresen geht es geradeaus in das "Büro", weiter durch den Kellerflur ins "Kino", das zugleich der Technikraum ist. Geräte wie Beamer, Kameras und Werkzeuge sind hier gelagert, die man auch ausleihen kann, das Schaudepot arbeitet hier mit dem Verein Teilbar zusammen. Das eigentliche Depot, gleich rechts vom Eingang, ist ein länglicher Raum, gerade mal 14 Quadratmeter groß.

Schaudepots gibt es sonst nur in Kunstsammlungen: Wenn der Platz an den Wänden eines Museums nicht ausreicht, bleibt ein Teil der Werke im Depot, kann dort aber aus dem Regal gezogen und angesehen werden. Mit Theaterstücken geht das nicht so einfach. Während an den großen Bühnen Repertoirestücke manchmal lange im Programm bleiben, erklärt Herbordt, seien die Aufführungen der freien Szene meist nach kurzer Zeit wieder Geschichte. Nichts erinnert mehr an sie, außer dem, was das Publikum von ihnen im Gedächtnis behält. Die beiden Theatermacher:innen Melanie Mohren und Bernhard Herbordt haben sich also gefragt: Wie wäre es, wenn wir unsere eigenen Stücke irgendwo archivieren? Um sie wieder hervorholen und vorzeigen zu können?

Eine neue Theater-Dimension

Im Juli 2021 eröffnet, ist das Schaudepot auch ein Kind von Corona. Viele Kulturschaffende haben ihre Aufführungen gestreamt oder neue Stücke entwickelt. Herbordt und Mohren dagegen entwickelten eine neue Form, eine andere Dimension von Theater.

Normalerweise findet Theater zu festen Terminen statt. Das Publikum ist idealerweise so groß, dass der Saal gefüllt ist. Beim Schaudepot ist das anders. Nicht nur fehlt für eine größere Anzahl von Zuschauern der Platz, sie können auch grundsätzlich jederzeit kommen. E-Mail oder Anruf genügt. In der Mittagspause, nach der Arbeit, am Abend oder am Wochenende. Mittwochs zwischen 12 und 14 Uhr ist regulär geöffnet. Das Schaudepot lässt sich auch per Zoom-Konferenz erkunden. Aus einem Katalog von derzeit ungefähr zehn Programmen können sich Besucher:innen aussuchen, was sie sehen wollen, oder eine Führung buchen.

Wir haben eine Führung gebucht und uns anschließend für das Stück "Die Gesellschaft" angemeldet. Komische Titel: "Die Gesellschaft", "Das Theater". Ein Theaterstück, das "Das Theater" heißt? Es ist kein Theaterstück im üblichen Sinn. Eher eine Reflexion darüber, was Theater eigentlich heißt. Ein ganzes Dorf, Michelbach an der Lücke zwischen Crailsheim und Rothenburg ob der Tauber, wurde dafür 2015 zur Bühne. Die Akteure waren 90 der 500 Bewohner.

Es gibt auch den umgekehrten Fall: Herbordt und Mohrens Stück "Das Dorf" wurde 2019 auf der Bühne des Badischen Staatstheaters Karlsruhe uraufgeführt. Die dort Angestellten, die im täglichen Leben kaum Zeit haben sich auszutauschen, feiern ein Fest und verwandeln das Theater in eine Art Dorf. Das Theater hat mit denselben Problemen zu tun wie kleinere Landgemeinden, Bevölkerungsschwund etwa oder Überalterung, und bedarf neuer Herangehensweisen, um es lebendig in die Zukunft zu überführen. "Fast alle haben mitgemacht", erzählt Herbordt über die Aufführung in Karlsruhe, vom Reinigungsteam fast bis zur Leitung.

Das Publikum macht die Musik

An der Tür des Schaudepots steht "Die Institution", es sieht aus wie ein Firmenschild. Seit 2012 arbeiten Herbordt und Mohren unter diesem Namen. Das bedeutet aber gerade nicht, dass sie eine Institution wie ein Staatstheater oder ein Museum sind. "Die Institutionen funktionieren nicht mehr", meint Herbordt. Sie seien schwerfällig, hätten große Schwierigkeiten, sich zu erneuern. "Die Institution" dagegen kann sich von heute auf morgen verändern. Sie lädt das Publikum ein, selbst zu entscheiden, was passieren soll.

Ein roter Vorhang vor dem Depot kündigt an, dass es hier etwas zu sehen gibt. Der Raum dahinter ist gestaltet von den Bühnenbildner:innen Leonie Mohr und Hannes Hartmann. Regale stehen an den Wänden, drei Flachbildschirme hängen da, eine Leinwand, auf die ein Beamer gerichtet ist. Ein Tisch lässt sich in der Mitte quer ausklappen. Er teilt den Raum in Vortragende und Publikum und erlaubt etwas auszulegen.

Schon beim Eintreten ertönt leise Musik. Herbordt zieht eine große Alukiste aus dem Regal, in der "Das Festival" archiviert ist. Innen ist die Kiste leuchtend gelb, auf den Reitern einer Kartei stehen alphabetisch geordnet Begriffe von "Anfangen" bis "Vorstellen". Die Performance wurde auf den Donaueschinger Musiktagen 2019 aufgeführt als eigenes Festival im Festival, auf dem Stücke vorgestellt wurden, die noch nicht fertig waren, schon wieder verschwunden sind oder nie realisiert wurden. Herbordt holt zwei Klangschalen aus der Kiste. Elf Komponist:innen haben für "Das Festival" kleine Miniaturen geschrieben. In der "Institution" macht das Publikum die Musik.

Der Raum ist mit fünf Kameras und Mikrophonen ausgestattet. Was im Schaudepot passiert, kann auch nach außen übertragen werden. Es gibt aber auch Programme für den Außenraum, wie etwa "Kleine Wunder der Prärie" vom Stuttgarter Bureau Baubotanik – Architekten, die mit lebenden Pflanzen arbeiten. "Kennt ihr den Begriff Trittpflanzengesellschaft?", fragt Herbordt. "Trittpflanzengesellschaften", so informiert eine Biologie-Seite, "sind meist durch den Menschen bedingte Pflanzengesellschaften, die durch eine hohe mechanische Belastung durch Tritt gekennzeichnet sind." Gräser, Wegerich und anderes mehr, das zwischen Gehwegplatten und Asphalt hervorwächst und sich wieder aufrichtet, wenn Leute darauf herumtrampeln. Im baubotanischen Rundgang der beiden Architekten lernen Besucher:innen, diese Pflanzen in ein besonderes Licht zu setzen.

Stabiler Weltfriede – eine spinnerte Idee?

Nach der Führung ist Umbaupause. Hagen Betzwieser, der für die Kameratechnik zuständig ist, kontrolliert, ob alles funktioniert. Es beginnt: "Die Gesellschaft", ein Stück aus zwei Teilen. Es gibt eine Kindergesellschaft mit der Kunstpädagogin Tina Pantisano und ein Programm für Erwachsene, das jetzt Melanie Mohren übernimmt. Die "Gesellschaft", 2021 im Stuttgarter Theater Rampe umgesetzt, meint eine Forschungsgesellschaft, ausgehend vom sogenannten "Spinnerarchiv" der Max-Planck-Gesellschaft. Dort werden seit 1.900 Vorschläge und Ideen gesammelt, die für nicht realisierbar gehalten werden.

Im Schaudepot werden die Besucher:innen aufgefordert, Vorschläge zu machen, welche Gesellschaften noch gegründet werden könnten. Auf dem Tisch vor ihnen liegt eine Liste der bereits als "spinnert" archivierten: die Gesellschaft zur Erforschung einer Formel für einen stabilen Weltfrieden etwa. Warum nimmt diesen Vorschlag eigentlich niemand ernst?

"Die Gesellschaft" hat immer einen Gast. Diesmal ist es Lilian Gonzalez aus Venezuela, die seit einigen Jahren versucht, die Ballroom-Kultur in Stuttgart zu verankern: eine in den 1970er-Jahren in New York in der Latino- und schwarzen LGBTQ+-Gemeinschaft entstandene kompetitive Tanzrichtung. Sie gibt Voguing-Kurse – so nennt sich die Art zu tanzen – und hat es inzwischen geschafft, eine kleine eingeschworene Gruppe von Teilnehmer:innen aufzubauen. Was nicht ganz einfach ist, da die Ballroom-Szene ein wenig unter sich bleibt, um zu verhindern, dass sich andere ihre Moves aneignen. Lehrer kann nur werden, wer lange genug dabei ist und sein oder ihr Engagement unter Beweis gestellt hat. Aber an wen richten sich die Tanz-Performances? Soll überhaupt ein größeres Publikum angesprochen werden? Solche Fragen sind nicht nur erlaubt, sondern gerade erwünscht. Schließlich steht die Ballroom-Szene hier für eine Form von Gesellschaft, die nicht nur existieren könnte, sondern bereits existiert. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

Gleich anschließend wird noch eine Online-Performance stattfinden. Von Jorge Alencar und Neto Machado, live aus dem brasilianischen Salvador de Bahia auf die Leinwand des Schaudepots übertragen. So gesehen ist das Stuttgarter Schaudepot wirklich das größte Theater der Welt.


Info:

Das Schaudepot befindet sich in der Altenbergstraße 10 im Stuttgarter Süden und arbeitet mit dem Theater Rampe zusammen. Führungen oder Stücke aus einem Katalog von Performances kann man buchen via Mail an info--nospam@die-institution.org und unter Telefon 0711 88892770.


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