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Lieblingsorte Geflüchteter

Stuttgart, meine Liebste

Lieblingsorte Geflüchteter: Stuttgart, meine Liebste
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Junge Menschen mit Fluchtgeschichte führen durchs Städtle: So bewirbt der Verein Kubus in Kooperation mit dem Theater Lokstoff und dem Stadtpalais das Projekt Stuttgart Habibi. Am Sonntag zeigten drei junge Frauen aus Afghanistan ihre Lieblingsorte in der Landeshauptstadt.

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Fateme erinnert die Stuttgarter Markthalle mit ihren vielen Verkaufsständen und dem Gedränge der Einkaufenden an die großen arabischen Basare, wo es überall nach Gewürzen riecht. Sie ist an diesem Sonntag zum ersten Mal Stadtführerin. Die Schwestern Nehal und Zohra, 24 und 33 Jahre alt, sind bereits seit zwei Jahren beim Stadtführungsprojekt. Zohra, die ältere der beiden, erzählt im Akademie-Garten, am Ort der ehemaligen Carlsakademie, dass sie in Afghanistan von heute auf morgen nicht mehr in die Schule gehen und sich nur unter Gefahren weiterbilden konnte.

"Stuttgart Habibi" heißt das Projekt, das zu historisch bedeutungsvollen Bauten, zu Plätzen und Skulpturen der Landeshauptstadt führt. Die 16 Stationen haben selbst nichts mit dem Thema Ankommen zu tun, sagt Julia Vogl vom inklusiven Verein Kubus. "Eher die Tatsache an sich, dass Menschen mit Fluchtgeschichte sich mit ihrer neuen Heimat beschäftigen und nun als Stadtführer:innen auf der Bühne stehen, Infos an Mitbürger:innen weitergeben und in den gemeinsamen Austausch treten." Im Rahmen des Projektes Ankommen im Ländle bietet Kubus Ende Oktober auch einen Sprichwörterkurs an, weil geflügelte Worte für Menschen mit einer anderen Muttersprache oft schwierig zu verstehen sind.

Ein Deutschkurs ist keine Selbstverständlichkeit

Mit ihrem Vater habe sie Lesen und Schreiben gelernt, sagt Zohra im Gespräch mit Kontext. Ihre Nachbarin sei Lehrerin gewesen, durfte unter den Taliban nicht mehr arbeiten und so habe sie heimlich bei ihr Unterricht genommen. Für sie war es "ein Traum, etwas zu lernen". Auch als Zohra mit ihrer Schwester 2014 nach Deutschland kam, waren die Türen zu Bildung für sie zunächst verschlossen. Während ihre Schwester Nehal zur Schule gehen durfte, weil sie damals unter 18 Jahre alt war, blieb der älteren Schwester dies verwehrt. Es dauerte lange, bis Zohra an einem Deutschkurs teilnehmen konnte, weil es zunächst Probleme mit dem Aufenthaltstitel gab.

In ein fremdes Land zu kommen, die Sprache nicht zu verstehen und trotzdem Probleme lösen zu müssen und sich dabei noch um die kleinere Schwester zu kümmern: All das seien schwierige Startbedingungen gewesen. Nehal, die die Schule in Deutschland besuchen durfte, lernte schnell deutsch und konnte ihrer älteren Schwester im Krankenhaus oder beim Anwalt übersetzen. Mittlerweile ist Zohra ausgebildete Kosmetikerin, im September hat sie ihre Prüfungen bestanden. Die Worte ihrer Ausbilderin bleiben ihr im Gedächtnis: "Du kannst mehr als du denkst."

Kathrin Hildebrand von "Lokstoff – Theater im öffentlichen Raum" hat Zohra zu Hause besucht und mit ihr die Behördenbriefe bearbeitet, die sie alleine nicht lesen konnte. Während der Corona-Zeit war Zohra mit ihrem Kind oft alleine und hatte wenige Kontakte. Hildebrand bot ihr schließlich an, als Stadtführerin für Stuttgart Habibi zu arbeiten. "Am Anfang habe ich Angst gehabt, dass ich etwas falsch mache oder die Worte nicht aussprechen kann", sagt Zohra. Die begeisterten Besucher:innen der Führungen jedoch zeigen ihr immer wieder, dass sie diese Arbeit gut macht.

Die Stadtführungen gibt es auch auf Dari

Arbeiten, Leute kennenlernen, dem Kind die Möglichkeit geben, in einen Kindergarten zu gehen und selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen will oder nicht – Zohra muss auch in Deutschland viel meistern, aber ist "froh und dankbar" über die Möglichkeiten, die sie hier hat. Sie vermisst ihre Familie, die in Afghanistan geblieben ist, aber hat "Stuttgart ins Herz geschlossen", sagt sie. In ihrem Wohnort Bad Cannstatt hat sie auch selbst schon an Stadtführungen teilgenommen. Und war fasziniert, davon zu hören, was hier im zweiten Weltkrieg alles zerstört und später wieder aufgebaut wurde.

Die Verbindung zu Lokstoff kam über Zohras Schwester Nehal, die bereits in ihrem ersten Jahr in Deutschland, angefangen hat, dort im Theater zu spielen. Wilhelm Schneck von Lokstoff hatte damals in ihrer Unterkunft für das Theaterprojekt geworben. Da Nehal mit ihrer Schwester zuvor zwei Jahre in Holland gewohnt hat, bis sie von dort nach Deutschland abgeschoben wurde, verständigten sie sich anfangs in einem Mix aus Holländisch und Englisch. "Leider gibt es in Afghanistan kein Theater und keine Stadtführungen", sagt Nehal. Und weil sie in Afghanistan keine Bildung erfahren durfte, weiß sie auch nicht viel über ihr Herkunftsland: "Wenn Sie mich über afghanische Geschichte etwas fragen, dann weiß ich gar nichts. Wenn Sie mich über Stuttgart was fragen, dann schon."

"Nehal ist schon so weit, dass sie diese Führung auch auf Dari machen kann", sagt Frauke Sandleben vom Stadtpalais, die das Team der Stadtführerinnen begleitet. Dari ist die in Afghanistan am meisten gesprochene Sprache und die Führungen können ebenfalls über Kubus gebucht werden. "Ich kann nur immer wieder betonen: Über persönliche Beziehung läuft eine Integration am allerbesten", sagt Sandleben. In der Zeit des gemeinsamen Projektes haben sich Freundschaften entwickelt, sagt die 58-Jährige, und die jungen Frauen "wissen, dass sie sich auf uns verlassen können."

Verkehrsachse, Skulptur, Schicksalsbrunnen – mit der Aussprache einiger Wörter haben Menschen mit einer anderen Muttersprache  zu kämpfen. Die drei Frauen aber schlagen sich wacker. Sandleben hat großen Respekt davor, dass sie sich neben ihrer Ausbildung dieser Aufgabe gestellt haben. Mit den Frauen sei in Afghanistan "ein großer Teil des Landes" weggesperrt, sagt Zohra, "das Land bleibt so immer in Dunkelheit." In Stuttgart dagegen stehen die drei Afghaninnen im Rampenlicht. Und ernten am Stauffenbergplatz, der letzten Station des Stadtspaziergangs, begeisterten Applaus.


Am 23. und 30. Oktober sowie am 13. November gibt es sonntags jeweils von 12 bis 14 und von 15 bis 17 Uhr weitere Führungen. Für eine Umsetzung des Projektes in Esslingen und Schorndorf werden noch zukünftige Guides mit Fluchtgeschichte gesucht.


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