"Scharfe Rededuelle in der aktuellen Stunde des Landtags" vermeldete am 23. Juni 1972 der "Süddeutsche Rundfunk" (SDR 1) und fragte: "Wer hat Schuld an der Krise der Universität Konstanz?" O-Ton Hinrich Enderlein, 31-jähriger FDP-Abgeordneter im Südwest-Parlament: "Universität Konstanz hat zum Unruhestifter Nummer eins im Lande promoviert. Die Dissertation dazu wurde im Kultusministerium in Stuttgart geschrieben. Titel: Wie mache ich eine Universität kaputt." Enderlein erntete Applaus und Zwischenrufe.
Was war geschehen? Die Uni Konstanz, die 1966 als Reformuniversität gegründet worden war, hatte die Studentenbewegung links überholt. "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren", skandierten damals die 68er und forderten Mitbestimmung. In der Stadt am Bodensee schien das schon umgesetzt: Die Uni wollte von sich aus Assistent:innen und Studierende an den Entscheidungen beteiligen. In einem Entwurf ihrer Grundordnung von 1969 waren im Großen Senat für jeden Fachbereich ein Professor, ein Assistent und ein Student vorgesehen.
Der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn (CDU) genehmigte zunächst diesen Entwurf, erließ dann aber nach einer Klage eine eigene "vorläufige Grundordnung". Der Gründungsrektor Gerhard Hess trat zurück. "Durch den Oktroi einer vom Kultusministerium nach seinen eigenen Vorstellungen ausgearbeiteten vorläufigen Grundordnung", so Hess in einem im darauffolgenden Jahr veröffentlichten Rechenschaftsbericht, "hat die Regierung von Baden-Württemberg in wesentlichen Stücken die Reformkonzeption der Universität gegen ihren Willen aufgehoben oder beschränkt."
Verpönt, sich mit Titel anzureden
50 Jahre später: Der heutige Konstanzer Prorektor Malte Drescher empfängt seine Besucher:innen im Senatssaal. Er befindet sich in einem der zentralen Gebäude ganz oben, mit Blick über den Campus. Der Senat sei das Zentrum der demokratischen Selbstverwaltung der Uni, sagt Drescher, der im Bereich physikalische Chemie über die Strukturen von Eiweiß in den Zellen forscht. An der Uni Konstanz sei es verpönt, sich mit Titel anzureden. Es gibt hier keine Rektorengalerie wie etwa an der Universität Tübingen. Höchstens eine Parodie darauf von Burkhart Beyerle, einem Mitarbeiter des Universitätsbauamts: Blaue Rahmen, ohne etwas darin, greifen von der Wand auf die Tür und mit einem Knick auf die Decke des Senatssaals über.
Kein Personenkult also. Mit einer kleinen Ausnahme: Vor dem Senatssaal steht auf einem Sockel ein ganz kleiner Bronzekopf. Es handelt sich um Ralf Dahrendorf, Mitglied im Gründungsausschuss der Uni und Architekt der Reformpolitik der sozialliberalen Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), der er als Parlamentarischer Staatssekretär kurzzeitig angehörte. Dass die CDU gegen Brandts Bildungsreform opponierte und Hahn der Uni-Grundordnung eine Absage erteilte, scheint auf den ersten Blick zusammenzupassen.
Doch ein solches Lagerdenken kann die Situation nur unzureichend beschreiben. Denn die Universität Konstanz gäbe es nicht ohne Kurt Georg Kiesinger, von 1958 bis 1966 Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Von ihrer Gründung sagte der CDU-Politiker später einmal, dies sei der "härteste Kampf" gewesen, "den ich je in meinem Leben zu bestehen hatte". Kiesinger war wie sein Nachfolger Hans Filbinger, der später aufgrund seiner Tätigkeit als NS-Marinerichter zurücktreten musste, einmal NSDAP-Mitglied gewesen. Die Gründung der Reformuniversität war ihm dennoch ein Anliegen.
Neu: Keine Institute, nur Fachbereiche
Was verstand man unter Reform? Nach dem Krieg waren die Universitäten geblieben, was sie seit Wilhelm von Humboldt gewesen waren: eine Einheit von Forschung und Lehre, aber nur für eine kleine Elite. Nun nahm aber die Zahl der Studierenden ständig zu, allein schon wegen der Lehrerausbildung. Trotzdem regierten die Professoren ihre Institute weiterhin wie "kleine Königreiche", wie Drescher sich ausdrückt. An der Uni Konstanz sollte alles anders sein. Es gab und gibt keine Institute, nur Fachbereiche. Das Stichwort Interdisziplinarität wird hier praktiziert wie kaum irgendwo sonst.
Insbesondere in einem Bereich herrschte in den 1960er-Jahren der "Muff von tausend Jahren": in den Geisteswissenschaften, "die wir doch überwinden wollten", wie Dahrendorf in einer persönlichen Notiz bemerkte. Jürgen Mittelstraß, 1970 bis 2005 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie, griff den Satz 1977 in einer Publikation auf, unter dem Titel "Gebremste Reform".
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!