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40 Jahre Theater Lindenhof

A saubere Dialektik

40 Jahre Theater Lindenhof: A saubere Dialektik
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Vor 40 Jahren zog eine Schultheatertruppe um den Lehrer und FC Bayern-Kicker Uwe Zellmer von Reutlingen nach Melchingen auf die Schwäbische Alb. Heute ist das kritische Volkstheater Lindenhof Deutschlands einzige, weit über die Region hinaus bekannte Regionalbühne. Ein Glückwunsch.

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Das Vorspiel begann 1977 mit einem Skandal im biederen Reutlingen, als der Berufsschulreferendar Uwe Zellmer mit Schülern das Stück "Klassenspiel oder Der abenteuerliche Alltag des Lehrlings Tom" inszenierte. Die Hauptrolle spielte der aus Hirrlingen bei Rottenburg stammende Bernhard Hurm, der später der wichtigste Protagonist des Theaters Lindenhof und mit Zellmer dessen Intendant wurde.

Aus dem Klassenspiel wurde ein Klassenkämpfle: Die örtliche Industrie- und Handelskammer wollte die Aufführung verhindern, anonyme Pamphlete hetzten gegen "linke Rattenfänger". Dazu muss man Folgendes wissen: Der aus Heidenheim stammende Zellmer war ein herausragender Kicker und hoffte auf eine Karriere beim FC Bayern – Fotos zeigen ihn beim Training mit Franz Beckenbauer und Gerd Müller. Nach einer schweren Verletzung verließ er München und stürmte in Tübingen in der Studentenbewegung mit. Obwohl ihm der Rhetoriker Walter Jens bescheinigte, der "sanfteste Maoist aller Zeiten" zu sein, schnüffelte die Kultusbehörde hinter Zellmer her. Er entging erst nach Intervention des CDU-Landtagsabgeordneten Erich Barthold, der den Mittelfeldmotor beim SSV Reutlingen halten wollte, einem Berufsverbot.

Die "Stuttgarter Nachrichten" entdeckten in Zellmers Theaterkollektiv eine "riesige Produktivkraft, eine Naturkraft fürwahr". Nicht weniger Aufsehen erregte "Viva Argentina", ein Stück zur Fußball-WM 1978. In dem südamerikanischen Land herrschte die Folterdiktatur Jorge Videlas, Nationalverteidiger Berti Vogts indes verkündete blindlings: "Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen."

Elf und mehr Freunde wollten sie sein: 1981 probte die Schauspieltruppe den Ausbruch aus den Stadtmauern, den Aufbruch auf die Alb. Leitmotiv war Hölderlins Gedicht "Der Gang aufs Land": "Komm! ins Offene, Freund!" Wo andere in dem Landstrich nur "Schwäbisch Sibirien" sahen, entdeckten die Mimen (von Anfang mit dabei auch Dietlinde Ellsässer, Ida Ott, Gerald Ettwein, Stefan Hallmayer) den Vorschein eines südlichen Arkadiens: "Der Sommer mit hohem Licht, der Winter mit klarer Kälte, glanzvoll eventuell der Herbst (. . .) Wind wie vom Meer."

Die Großkritik schwärmt vom Wunder von der Alb

Eine gewagte Vision, ein Theater hineingesehen in eine Landschaft hinter den sieben Bergen: In Melchingen auf der Zollernalb, einem Ort mit 900 Einwohnern, stand der Landgasthof "Linde" zum Verkauf, jahrelang war die Finanzierung ein Drahtseilakt. Aber die Artisten unter der Zirkuskuppel, anfangs misstrauisch beäugt von den Einheimischen, waren nicht ratlos. Am 16. Mai 1981 wurde der Lindenhof eröffnet, wenig später hatte Zellmers Stück "Semmer Kerle oder koine" Premiere: Der dörfliche Kontroll- und Zwangszusammenhang treibt einen Jugendlichen in den Suizid – Alb-Träume können Albträume sein.

Bald wurde die große Theaterkritik auf die kleine Bühne aufmerksam. "Der Spiegel" attestierte ihr einen "charmanten Mix aus schwäbischem Bauerntheater, linker Alternativbühne und mitunter enthemmtem Laienspiel". SZ-Star Benjamin Henrichs nannte Melchingen den "wohl seltsamsten Bühnenort Deutschlands". Sein "Südwest-Presse"-Kollege Christoph Müller schwärmte vom "Wunder von der Alb" und zog den überschwänglichen Vergleich: "die schwäbische Antwort auf Ariane Mnouchkines ‚Théâtre du Soleil‘".

Die französische Theatermacherin zeigt in ihrem Molière-Film von 1978 eine wandernde Schauspielcompagnie. Mit dem Agitprop-"Spieltrupp Südwest" zog der im nahen Hechingen und später in Stuttgart wirkende Dramatiker ("Cyankali"), Arzt und Kommunist Friedrich Wolf, Vater des DDR-Regisseurs Konrad Wolf ("Solo Sunny") und des Stasi-Generals Markus ("Mischa") Wolf, Anfang der 1930er-Jahre durch die Gegend. Der Lindenhof steht in dieser Tradition des vagierenden Volkstheaters, sein Markenzeichen aber ist die durchaus kritische Poesie des schwäbischen Dialekts.

Zum weiteren Spielort neben dem Wirtshaussaal wurde die Scheune des Lindenhofs mit ihrer grandiosen Holzdachkonstruktion. Hier gingen Klassiker wie Schillers "Räuber" in der Fassung und Regie des Heiner-Müller-Kompagnons Manfred Karge oder Kleists "Der zerbrochne Krug" über die Bühne. Mit Thäddäus Trolls "Der Entaklemmer" nach Molières "Der Geizige" schufen sich die Melchinger selber einen Klassiker. Und in "Bauern sterben" von Franz Xaver Kroetz hievten sie sogar einen Traktor auf die Bretter.

Das Publikum sitzt am Neckar und bechert

Über das Repertoire am festen Haus hinaus wirkt der Lindenhof ambulant im Land. Insbesondere für das Sommertheater eignet er sich atmosphärisch dichte Räume an, begibt sich auf Heimatsuche, die Erinnerung und Utopie zugleich ist. Im Gedächtnis bleibt der Zauber der Orte: Im Hölderlin-Epos ". . . wenn mit dem Neckar herab" saß das Publikum im Neckarinsel-Hain bei Brot und Wein an einer 200 Meter langen Tafel, und Hurm jauchzte auf einem Sitzmöbel vor dem Hölderlin-Turm: "Halleluja, mei‘ Sofa!". In Werner Fritschs und Uta Ackermanns "Die Steine selbst" stiegen die BesucherInnen mit Orpheus und Eurydike hinab in den Hades der Nebelhöhle, am windumtosten Himmelberg gingen sie auf Peter Härtlings "Melchinger Winterreise", in Siegfried Bührs "Eine Bahnfahrt . . .  und der Raum entschwindet" saßen Tausende im Dampfzug der Zeitgeschichte.

Und so wie aus Laien Profis wurden, stabilisierte sich die finanziell wackelige Konstruktion. mithilfe des Landes, unterstützt von der "Sitzgemeinde" Burladingen, drei Landkreisen und 21 Partnerstädten entstand Deutschlands einziges Regionaltheater. Mit einer eindrucksvollen Bilanz (vor Corona): bis heute rund 170 Produktionen, jährlich 350 Veranstaltungen mit 45.000 Zuschauern, davon die Hälfte im Stammhaus. Der Etat liegt bei rund zwei Millionen Euro, davon spielt der Lindenhof über 50 Prozent selber ein, ein Ergebnis, von dem andere Theater nur träumen können. Dazu tragen bisweilen ziemlich volkstümliche Dauerbrenner wie "Kenner trinken Württemberger" (weit über tausend Aufführungen) oder die (inzwischen selbständigen) "Drei vom Dohlengässle" bei.

Der Lindenhof erntete Lorbeeren: Ludwig-Uhland-Preis, Hölderlin-Preis, Hölderlin Ring, Volkstheaterpreis des Landes. Er wurde zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen oder in die Hamburger Kammerspiele eingeladen, er trat am BE auf, Brechts einst ruhmreiches Berliner Ensemble. Auch Kritik blieb nicht aus, der Tübinger Dramaturg Thomas Milz sah die Melchinger auf dem "Weg in die neue Gemütlichkeit".

Aber es gehört zu den Stärken des Theaters, sich immer wieder neu zu erfinden, Talente zu fördern. Hier reiften Mehrfachbegabungen wie Franz Xaver Ott: Autor ("Hoimetaberau"), Regisseur, Dramaturg, Schauspieler; Dietlinde Ellsässer: Schauspielerin, Kabarettistin, Regisseurin, Autorin ("Ledig in Schwaben"); Susanne Hinkelbein: Theatermusikerin und Autorin ("Arche Konrad"). Hier wirkten nicht nur erfahrene Regisseure wie Siegfried Bühr oder Christoph Biermeier, hier sammelten ebenso Antú Romero Nunes oder Philipp Becker erste Meriten.

Keine Angst vor Oettinger, Teufel und Kretschmann

Seit zehn Jahren ist der Lindenhof eine Stiftung, sie hilft ihm durch aktuell stürmische Zeiten und stemmte den 2,6 Millionen Euro teuren Umbau des Theaters – eine Investition in die Zukunft. Zur Konsolidierung hat der große Kommunikator Zellmer beigetragen mit dem, was er "a saubere schwäbische Dialektik" nennt: keine Berührungsängste vor CDU-Granden. Günther Oettinger flog mit dem Hubschrauber ein und dirigierte, Bierflasche in der Hand, den Musikverein. Der Spät-Philosoph Erwin Teufel psalmodierte zum 20-jährigen Jubiläum und ward mit Ehefrau Edeltraud in Vorstellungen gesichtet. Inzwischen hat sich der Wind etwas gedreht im Ländle – kein Problem für die Lindenhöfler: Der grüne Bürgerkönig Winfried Kretschmann und Gattin Gerlinde feierten das mit EinwohnerInnen von Stetten am Kalten Markt realisierte Stück "Dem Himmel so nah" als "grandiose Leistung".

Die "Firmenübergabe" auf die nächste Generation  verlief nicht ganz reibungslos, es war, maoistisch gesprochen, auch der Kampf zweier Linien: hier kritisches Volkstheater im Geiste Brechts, dort "Heimattheater für die Welt" oder "Welttheater für die Heimat". Zellmer zog sich auf das nach Bayern-Vorbild geschaffene Präsidenten-Amt zurück. Im Gegensatz zu Uli Hoeneß hält er sich, mehr aus der Tiefe des Erfahrungsraums kommend, weise aus dem Tagesgeschäft heraus. Hurm gab Ende vergangenen Jahres die Intendanz ab, bleibt aber als Schauspieler aktiv.

Der Lindenhof ist weiter in Bewegung und mit dem Thespiskarren unterwegs. So hat er sich mit der Bogenhalle der Mössinger Pausa einen imposanten Spielort erobert und dazu beigetragen, die ehemalige Textilfabrik in ihrer Bauhaus-Vergangenheit sichtbar zu machen und zugleich an die Enteignung und Vertreibung der jüdischen Inhaberfamilie Löwenstein zu erinnern. "Wir haben damit Verantwortung für das kulturelle Erbe in der Region übernommen", sagt Intendant Stefan Hallmayer. In der Pausa spielte der Lindenhof "Die Schutzsuchenden" nach Aischylos als Parabel auf heutige Fluchtbewegungen. Mit dem Stück "Ein Dorf im Widerstand" brachte er den Mössinger Generalstreik gegen Hitler 1933 wieder ins Bewusstsein des Ortes und löste heftige Diskussion über die Motive der kommunistischen Widerständler aus.

Ein Theater in der Provinz, aber kein Provinztheater: "Wir bekennen uns zur Provinz, ohne in ihr stecken zu bleiben" sagt Hurm, inzwischen Grünen-Stadtrat in Burladingen. Noch immer ist der Lindenhof ein kreatives Kraftwerk zwischen Melchinger Himmelberg und Salmendinger Kornbühl – zwischen den Windrädern als Symbol der Gegenwart und der Kapelle als Ikone der Vergangenheit. Dialektik eben.

40 Jahre Lindenhof – da darf die Metapher vom "Schwabenalter" nicht fehlen. Freilich hatte schon der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai in seiner "Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781" erkannt, dass die Schwaben eigentlich erst mit 50 "g'scheit" würden: "Damit ist nämlich nicht eine spätere Entwicklung der Verstandeskräfte gemeint, sondern deren späte Anwendung im täglichen Leben." Der Lindenhof kann also noch weiter reifen.


Zum Weiterlesen:

Gesa Ingendahl (Hg.): Was für ein Theater! 12 Einblicke in das Theater Lindenhof. 320 Seiten, Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2021, 19.90 Euro.


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