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OB-Wahlabend

Knarz, knarz

OB-Wahlabend: Knarz, knarz
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 Fotos: Joachim E. Röttgers und Jens Volle 

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So könnte es nach dem Einschlag einer Neutronenbombe aussehen: Häuser gibt's noch, Menschen nicht mehr. Stuttgart ist am vergangenen OB-Wahlsonntag vor allem eins: menschenleer. Nix ist los. Gar nix. Die totale Stille – fast.

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"Coronabedingt ruhig" könnte man es auch nennen, als hielte die Stadt den virösen Atem an und das auch noch unter einer dicken Wolldecke. Ab und zu fährt Lieferando vorbei, drei Leute stehen vor der Fritten-Bude in der Eberhardtstraße, ein leerer Kartenständer liegt wie ohnmächtig auf dem Gehweg. Dunkel ist es, kalt auch. Trostlos. Vollkommen trostlos. Es gibt nicht mal einen Hund, der irgendwo hin pinkelt.

Plötzlich kommt Bewegung in die Szenerie vor den Eberhardhöfen, da macht "Stuggi-TV" grade Interviews mit Siegern und Verlierern. Gleich ist Frank Nopper dran, Stuttgarts eben gewählter neuer Oberbürgermeister. Der kommt zu spät. Ein "Stuggi-TV"-Redakteur wartet draußen, schaut auf die Uhr, telefoniert, schaut auf die Uhr. Plötzlich ein Geräusch. Von Ferne.

Knarz, knarz, knarz. Es wird lauter, dann kommt Familie Nopper hinter einem Bauzaun hervor – strahlend, zumindest in den oberen Gesichtshälften, und mit ihr das audiovisuelle Highlight des Abends: Frau Weichselgartner-Nopper mit Pailletten-besticktem Mund-Nasen-Schutz, Glitzerkleid und Lack-Overknees, Schuhe mit Sound sozusagen, knarz, knarz, Gott sei dank, endlich mal was los hier. Die vier Noppers samt Redakteur verschwinden im Wahlstudio. Es folgt: wattige Stille. An der Hauswand klemmt ein Zettel: Einzimmerwohnung, kalt 888 Euro plus 120 Euro Nebenkosten. Meine Güte, da lebt man gerne draußen auf dem Land.

Ein Taxi-Fahrer am Straßenrand lässt das Fenster herunter. Was denn da los sei, fragt er, wegen des Fotografen. Na, OB-Wahl. Oh, sagt der Mann und scrollt die Facebook-Timeline auf seinem Handy runter, davon hätte er ja gar nichts mitgekriegt. Hinter dem Taxi fragt ein dekoriertes Schaufenster: "Und wo kackst du so?" Die Initiative, ehrenwert, denn laut Auslage haben nur vier von zehn Menschen auf der Welt eine sichere Toilette. Es gibt Fotomontagen von Angela Merkel, Barack Obama und dem Dalai Lama mit runtergelassenen Hosen. In der Mitte des Arrangements steht ein schwarz lackiertes Klo, ein goldener Scheißhaufen mit schimmernder Spitze ist drauf gemalt. Passt irgendwie gut zu diesem Abend.

Es knarzt wieder. Die Noppers sind fertig, untergehakt federn Vater, Mutter und zwei Söhne durch die menschenleere Fußgängerzone. Rund ums Rathaus sind Bauzäune aufgestellt, die für eine Abrissfirma werben. An den Laternen hängt noch Marian Schreier in pink.

Auf dem Rathausplatz, wo sonst zu OB-Wahlen der Bär steppt, steht Hannes Rockenbauch, auch OB-Kandidat, rund 18 Prozent. "Ach, Sie beide werden super harmonieren", hört man Frau Weichselgartner-Nopper sagen. Und falls es Streit gebe, müsste man "es halt auch mal krachen lassen, haha". Der SWR hat eine Kamera aufgestellt und bissle Licht, sein Jugendtraum sei in Erfüllung gegangen, sagt Frank Nopper, er sei überglücklich. Der Vollmond scheint auf die Szenerie.

Es folgt: Auftritt Nopper auf der Rathaus-Treppe im Hinterhof, Hintereingang, die maximal unspektakulärste Art, ein Rathaus zu erobern. Noch einmal blitzen die schwarzen Overknees im Licht. Dann sind alle weg. Stille. Irgendwo weit weg schiebt jemand ratternd einen Einkaufswagen übers Pflaster.


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1 Kommentar verfügbar

  • Helga Stöhr-Strauch
    am 04.12.2020
    Antworten
    Wunderbar, betörend, einzigartig und sehr gelungen die eingefangene und völlig abgefahrene Stuttgarter Szenerie!
    Wer hätte gedacht, dass man angesichts der Stuttgarter Misere noch mal lachen kann? Danke, liebe Anna Hunger!
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