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Hoch die Internationale Freisitz-Solidarität!

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 Fotos: Joachim E. Röttgers und Jens Volle 

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Selbst leidenschaftliche BalkongärtnerInnen müssen erkennen: Kommunikation in Krisenzeiten erfordert Opfer. Jetzt müssen Oleander & Co. Platz machen für SängerInnen, DemonstrantInnen und PartylöwInnen.

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Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong: Dieser Slogan der Alt-68er ist sowas von out. Mal abgesehen davon, dass Letzteres auch nicht die ultimative Lösung war – runter vom Balkon geht derzeit gar nicht. Heute gilt: wohl denen, die Balkone haben. Denn seit Corona wissen wir: Sie helfen gegen Lagerkoller und bei Aggressionsschüben. Sie sind zu Treffpunkten und Bühnen geworden, zum Tor zur Welt. Sie sind der trotzige Fuß in der Tür zum öffentlichen Leben, die Covid-19 zugeschlagen hat. Sogar Kundgebungen finden heute auf den Freisitzen statt. Balkone für alle, lautet die Forderung der Stunde! Hoch die Internationale Freisitz-Solidarität!

Bürger raus auf den Balkon ist in. Demos finden in luftiger Höhe statt. Am vergangenen Samstag von der Straße verlegt ins Netz. Und in Fenstern, Loggien, Balkonen hingen Transparente und Banner, mit Deckeln und Kochtöpfen wurde gehörig getrommelt für Wohnen als Menschenrecht. Und, möchten wir hinzufügen, unbedingt mit Balkonen. Die sind derzeit für Meinungsäußerungen unverzichtbar, ein Grundrecht. In Spanien etwa schepperten die Kochlöffel gegen das spanische Königshaus. Der ehemalige König Juan Carlos hat laut Medienberichten 100 Millionen US-Dollar aus Saudi-Arabien erhalten. Die soll er, so die empörten Spanier, die bereits seit zwei Wochen in ihre Wohnungen verbannt sind, gefälligst ins überforderte Gesundheitssystem stecken.

Wenn der Gefangenenchor singt

Romeo und Julia haben derzeit harte Konkurrenz, Balkonszenen gibt es in Zeiten der Pandemie weltweit. In Madrids Trabantenstadt wird auf hunderten Balkonen eine Riesenparty gegen die Isolation gefeiert. Filme werden als Openair-Kino an Hauswände geworfen und vom heimischen Balkonen wie in der Oper und alten Filmtheatern exklusiv genossen. Es sind vor allem die in ihren Wohnungen eingepferchten Stadtbewohner weltweit, die als Gefangenenchor heute ein Loblied auf diese architektonische Erfindung singen können, im wahren Wortsinn.

Denn in der Stadt gibt es den Balkon erst seit dem späteren 18. Jahrhundert, als man die Straßen nicht mehr als übel riechende Abfallkloaken benutzte. Bis dahin blieb die Straßenseite der Häuser glatt. Dann kam die Zeit der so genannten Erscheinungsbalkone, weil dort königliche und christliche Würdenträger gerne mit salbungsvollen Worten ihrem Volk erschienen. In der bäuerlichen Architektur übrigens dachte man auch in luftiger Höhe bodenständiger: Dort wurden eher Holz und andere Vorräte gestapelt. Erscheinungen blieben der Kirche vorbehalten, Erholung den Städtern. Balkonien in ländlichen Gebieten dient eher als Vorrats-, im Winter als Kühlschrank.

Wenn die Plattform durch Säulen abgestützt wird, spricht man übrigens von einem Söller oder Altan, von einer Loggia, wenn der Platz im Gebäude integriert ist. Terrasse heißt es, wenn der Freisitz im Erdgeschoss liegt und wenn er überdacht ist, von einer Veranda. Das musste jetzt auch einmal gesagt werden.

Wir fordern: Menschenrecht auf Balkone!

Und auch dies: Wohnen ist ein Menschenrecht. Das macht auch die Online- und Balkon-Demo vom Samstag gegen Mietwahnsinn deutlich. Die Forderung nach Balkonen für alle sollte dabei auf keinen Fall vernachlässigt werden. Und zwar ohne Anrechnung auf den Mietpreis. Ein Viertel der Quadratmeter anzurechnen, oder die Hälfte: Alles Unsinn. Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf und einen Balkon vor der Hütte – gerade für schlechte Zeiten, so wie jetzt.

Blumen runter vom Balkon. Platz da für Demonstranten, Musiker und Sonnenanbeter. Das ist eine Forderung, die einer Balkongärtnerin schwer fällt. Aber auch Margeriten, Hortensien und Olivenbäume müssen jetzt Opfer bringen. Dabei waren sie alle in vor-coronösen Zeiten die kleinen Glücksbringer des Alltags. Sie blühen brav, bunt und prall, und bringen den Geruch der Erde in die Stadt. Und wer einmal erlebt hat, an wen man alles denken kann, während man lustvoll Läuse zerquetscht, der wird süchtig. Auch die englische Schriftstellerin Vita Sackville-West liebte nicht nur Virginia Woolf, sondern auch ihre Pflanzen. In ihrer Gartenkolumne für den "Observer" schrieb sie einmal: "Der wahre Gärtner muss brutal sein und voller Fantasie an die Zukunft denken." Genau. Jetzt müssen Spross & Co. rein ins Wohnzimmer, so dort noch Platz ist. Sonst runter in den Keller.

Licht und Luft gibt Saft und Kraft – das gilt jetzt für quarantänegeplagte StädterInnen. Und wenn in Wien ein leidenschaftlicher Balkonsänger mit dem missmutigen Ruf "Ruhe! Schee is des neeet" niedergeschrieen wird: Schwamm drüber. Nicht alle verstehen das Gebot der Stunde. Schön weitersingen und vor allem: oben bleiben!


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Ausgabe 163 / Fünf Kilometer Todesmarsch / Maria Sigg-Huber / vor 14 Stunden 8 Minuten
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