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Bilder wie Hilferufe

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 Fotos: Leila Alaoui, Fondation Leila Alaoui 

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Datum:

Mit einem mobilen Fotostudio bereiste Leila Alaoui abgelegene Regionen Marokkos. Ihre großformatigen Porträts zeigen eine vom Verschwinden bedrohte Welt. Nun in der ifa-Galerie des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen zu sehen.

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Raumhoch sind die Fotos von Leila Alaoui auf die Wände der Stuttgarter ifa-Galerie tapeziert: überlebensgroße Portraits von Menschen aus verschiedenen Regionen Marokkos, alle verschieden, oft farbenprächtig gekleidet. Einige halten Gegenstände in ihren Händen, die auf Tätigkeiten hinweisen: Musikinstrumente etwa, oder Spielkarten. Einheitlich ist nur die Stellung: frontal, von den Knien an aufwärts, den Blick direkt in die Kamera gerichtet, auf schwarzem Grund. Alaoui hatte ihr mobiles Fotostudio dabei, als sie vor neun bis zehn Jahren das Rif-Gebirge und das Atlas-Gebirge bereiste, um die Vielfalt der Menschen ihres Landes im Bild festzuhalten. "Les Marocains" nannte sie ihre Serie: die Marokkaner.

Dieses Vorgehen ist nicht frei von Risiken, denn solche Bilder von Menschen in traditioneller Bekleidung stehen in einer gefährlichen Nachbarschaft. Man muss nur das Wort Tracht an die Stelle von Bekleidung setzen, um zu erkennen, dass die positive Hervorhebung der Menschen aus ländlichen Gebieten im Sinne von "Herkunft" verstanden und von identitären, ausgrenzenden, nationalistischen Diskursen vereinnahmt werden kann. Auch die Ethnologie ist nicht weit, die Klassifizierung nach Ethnien und Kulturen. Oder die Tourismuswerbung.

All dies hat es in Marokko zu verschiedenen Zeiten gegeben: den Hochmut der Ethnologen, die den Anderen als Objekt der Feldforschung, nicht als eigenständig handelndes Subjekt verstanden; den Versuch, im Zuge der Dekolonisierung die Formen und Farben des Landes für eine nationalistische Agenda zu verwerten; und natürlich die bunten Bilder der Ferienparadiese. Leila Alaoui, 1982 geboren, ging es um etwas ganz anderes. Nach ihrem Studium in New York hat sie einen eigenen Blick auf ihr Land entwickelt.

Wer näher hinsieht erkennt: Die schwarzen Hintergründe sind nicht nur ein einfaches, leicht transportierbares Hilfsmittel ihrer mobilen Studiofotografie. Sie sind dazu da, alles, was von den im Bild festgehaltenen Menschen ablenken könnte, was ihrer eigenen Existenz, ihrem So-Sein, etwas hinzufügt, wegzunehmen, auszuschließen, zu verneinen. Keine Gebirgslandschaften oder dörflichen Szenerien: nur die Menschen selbst, auf die es ihr ankommt. Die schwarze Folie eignet sich nicht für Tourismuswerbung.

Die bunte Vielfalt der Kleidung steht für die Vielfalt der Traditionen in den abgelegenen Regionen des Landes. Diese Vielfalt ist bedroht. Die verschiedenen Wirtschaftsweisen und Lebenszusammenhänge, die sich über die Jahrtausende herausgebildet haben, geraten durch den immer weiter fortschreitenden Zugriff der alle Unterschiede nivellierenden industriellen Produktionsweise und die damit verbundenen enormen ökonomischen Ungleichheiten immer mehr in Randlage. Mag sein, die Älteren halten noch an ihren Bräuchen fest. Die Jüngeren verschwinden: Warum sollte das in Marokko anders sein als in Kalabrien.

Und wohin gehen sie, wo suchen sie ihr Glück? In einer anderen Serie, "No Pasara", hat Alaoui die Küste aufgesucht, an der Straße von Gibraltar. "France" steht auf dem T-Shirt eines Jungen, der nach Europa hinüber blickt. Sie hat mit den jungen Leuten, überwiegend Männer, aber nicht nur, gesprochen, die dort auf ein Schiff warten, das sie hinüber bringt. Sie hat sich mit ihnen angefreundet. In einer dritten Serie zeigt sie Gesichter und Narben dunkelhäutiger Menschen, die beim Versuch, die Grenzen zu überwinden, verletzt wurden.

In einer Ausstellung über die Biennale von Marrakech hat die ifa-Galerie vor fünf Jahren schon einmal eine Videoinstallation von Alaoui gezeigt, über die Migration durch Wüste und Meer. Die damalige Kuratorin Alya Sebti leitet seither die Berliner Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen. Doch die jetzige Ausstellung kommt nicht aus Berlin. Sie ist so etwas wie ein Vermächtnis. Anfang 2016, nicht lange nach der Marrakech-Ausstellung, war Alaoui für Amnesty International in Burkina Faso unterwegs. Sie wurde Opfer eines Anschlags. Mit ihrem Auftrag, einer Reportage über Frauenrechte, hatte das nichts zu tun. Sie war einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.

Seitdem gibt es eine Stiftung, die ihr Erbe bewahrt und ihre Anliegen weiter tragen will. Alaouis Mutter ist zur Eröffnung nach Stuttgart gekommen. Unter den Porträtierten ist auch ihr Fahrer, mit dem sie in Burkina Faso unterwegs war. Auch er hat den Anschlag nicht überlebt.

Leila Alaoui wusste, dass die Migranten in Europa keine rosige Zukunft erwartet. Als vierte Arbeit zeigt die Ausstellung ein großformatiges sechsminütiges Schwarzweiß-Video. Der Titel: "L’île du diable", die Teufelsinsel. So nannten oder nennen Arbeiter die Île Seguin in Boulogne-Billancourt bei Paris, wo sich bis 1992 das Renault-Werk, eine der größten Fabriken Frankreichs befand. In langen Einstellungen zeigt Alaoui frühere Arbeiter, ausnahmslos Migranten, und die Ruinen der Industrieanlagen.

Hier hätte sie weiter machen wollen: Das Video war als erster Teil einer Arbeit gedacht, die sich damit auseinandersetzen wollte, was aus den Migranten wird, wo sie landen. Alaoui wertet nicht, sie zeigt, was sie vorfindet. Aber vielleicht zeigt ihre Bildsprache doch etwas: Die Bilder der Porträtserie "Les Marocains" sind farbig, die der Migranten in der Regel schwarzweiß. Es ist eine graue Welt, in der sie ankommen. Sie bringt keine Besserung. Ihre Porträts sind Hilferufe: helft uns, die bunte Vielfalt der Welt zu erhalten.


Info:

Die Ausstellung in der ifa-Galerie des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen läuft bis 5. April und ist dienstags bis sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.


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