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Lokalisierung des Grauens

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Die Katastrophe nahm Gestalt an – und nun trägt sie den Namen Wilhelmsplatz. Dieser gordische Knotenpunkt für den Verkehr in Stuttgart-Bad Cannstatt ist sinnbildlich für eine Stadt, die an zu vielen Autos erstickt und Fußgänger verachtet.

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Ein guter Platz lädt zum Verweilen ein: Setzen Sie sich doch, und machen Sie sich's schön bequem. Ein guter Platz ist eine Ode an die Gemütlichkeit: Holen Sie tief Luft, lassen Sie mal wieder so richtig die Seele baumeln! Ein guter Platz … will nie so werden wie der Wilhelmsplatz in Bad Cannstatt – ein architekturgewordener Junkie-Cousin, der Omas bestes Silberbesteck für ein paar Krümel Crack verhökert und eine Schande für die ganze Familie ist.

Es handelt sich um einen Ort, der behastet wird. Hier flaniert niemand, die Leute flüchten. Kaum jemand wagt es, überhaupt durchzuatmen, denn diese Luft kann nicht signifikant besser sein als die in einer schwerindustriellen Schornstein-Fabrik vor der Erfindung von Arbeitnehmerrechten. Ganz und gar unvorstellbar scheint, dass hier jemals jemand lachen könnte – zu trostlos das Grau, zu dystopisch der Anblick, zu lebensfeindlich der Aufenthalt.

Und wer kennt sie nicht, die Fabel vom traurigen Frederik? (Wahrscheinlich kennt sie noch niemand, denn sie wurde für diesen Artikel erfunden.) Jedenfalls kam Frederik gerade erst von einem traumhaften Urlaub aus der Karibik zurück. Wie ein kleiner, gieriger Vampir hat er dort Sonne, Licht und Wärme in sich aufgesogen, bis er schon glaubte, genug Kraft geschöpft zu haben, fortan fidel durchs Leben zu spazieren, mit einem munteren Lied auf den Lippen. Eine halbe Minute am Wilhelmsplatz aber genügt, und schon ist Frederik wieder depressiv.

Wer braucht Bäume, wenn man 105 Ampeln hat?

Der Platz produziert Gezeichnete: "Wenn du lange in einen Abgrund blickst", wusste Friedrich Nietzsche, "blickt der Abgrund auch in dich hinein." In Stuttgart sind es nicht nur bodenlose Baugruben, die sich anbieten, am eigenen Leib zu erleben, was der Übermensch damit gemeint haben könnte: Wenn sich in der Landeshauptstadt Kummer, Leid und Schwermut in trüben, sorgenvollen Augen spiegeln, ist immer auch ein bisschen Wilhelmsplatz dabei.

Ein gordischer Knotenpunkt, der symptomatisch wie kein zweiter für eine Stadt steht, die an ihrem Verkehr erstickt. Es gibt am Wilhelmsplatz nur ein paar traurige Alibi-Bäume, wenn man großzügig die Umgebung mit einbezieht, vielleicht sechs oder sieben – aber dafür stolze 105 Ampeln. Und die versagen allesamt: Zigtausend Fahrzeuge, die hier jeden Tag bestenfalls im Schritttempo herumeiern, wirken ähnlich hilflos wie ein Maikäfer in Rückenlage, der verzweifelt mit seinen Beinchen strampelt.

Doch der maßvolle Kritiker, stets um Fairness bemüht, möge sich hüten, allzu einseitig nur die negativen Aspekte hervorzuheben: Als kulturelles Highlight kann der Wilhelmsplatz mit einer dadaistischen Springbrunnenparodie aufwarten. Die zielt ganz offensichtlich – und durchaus erfolgreich – darauf ab, alle herkömmlichen Schönheitsideale von Anmut und Grazie zu dekonstruieren. Grobschlächtig thront die meterhohe Konstruktion in einem Becken, das der monotonen Tristesse betonlastiger Umgebungsbebauung in schönen Sommermonaten einen modischen Grünstich verpasst. Dank intensivem Algenwuchs. Das Seegras gedeiht hier ganz prächtig. Weltexklusiv in Stuttgart: der vermutlich einzige Brunnen, der im Winter besser aussieht – wenn kein Wasser drin ist und nichts wuchern kann.

Dann lieber nicht sein

Wer in Stuttgart U-Bahn fährt, könnte leicht dem Irrglauben aufsitzen, dass es in der Stadt haufenweise Plätze gibt. Zumindest tragen viele Haltestellen Namen, die diese Annahme nahelegen. Etwa "Charlottenplatz" oder "Österreichischer Platz". Oftmals handelt es sich aber bloß um Gerüchte und statt eines echten Platzes gibt es doch nur fette Straßenkreuzungen, wo in grauen Vorzeiten womöglich mal ein Platz – oder etwas Platzähnliches – gewesen sein mag.

Demgegenüber existiert der Wilhelmsplatz zwar tatsächlich. Ob damit jedoch irgendwem geholfen ist, bleibt zweifelhaft: Diese groteske Beleidigung aller ästhetischen Prinzipien ist so fundamental verhunzt, dass selbst optimistische Gemüter kaum darauf hoffen können, dass grundlegende Verbesserungen überhaupt möglich sind.

Sein oder nicht sein? Im Fall des Wilhelmsplatzes wäre man, wenn man nur eine Wahl hätte, geneigt, die Frage zu verneinen. Da erscheint es geradezu geboten, mit Goethes Mephisto zu schließen – denn wenn etwas wert ist, zugrunde zu gehen, dann diese Ausgeburt der Hässlichkeit: So ist denn alles, was ihr Ekel, Abscheu, kurz, das Grauen nennt, des Platzes eigentliches Element.


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6 Kommentare verfügbar

  • Thomas Oesterlin
    am 09.01.2020
    Antworten
    Ich finde den Wilhelmsplatz perfekt gelungen, er zeigt in nahezu idealer Perfektion wie sich die Planungsideen die an anderen Stellen vielleicht gerade noch funktionieren in der Summe zum Chaos hochaddieren:

    - erster Fehler: Straßenbahnen die Hochbahnsteige benötigen. Niederflurbahnen geben die…
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