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King-Kraut of Filderebene

King-Kraut of Filderebene
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Was für Wien die Sachertorte und den Spreewald die Gurke, ist für die Filder der Kohl. Genauer: der Spitzkohl. Jene antikapitalistische Variante des Brassica oleracea, der als wohlschmeckender Delikatesse seit 1979 mit einem alljährlichen Besäufnis gehuldigt wird.

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Es wächst nur – man betone – nur original auf den Fildern. Auf der Hochebene südlich von Stuttgart, die mit dem Besten aufwarten kann, was der Herrgott an deutschem Acker geschaffen hat: dem Lösslehm, dem Massivholzparkett unter den Agrarböden, fruchtbar wie die Jungfrau Maria. Auf diesem Boden also gedeiht Baden-Württembergs berühmtestes Gemüse, das Filderkraut – also known as Spitzkohl. Er ist der König des Kohls, könnte man sagen, King-Kraut of Filderebene, und ein echt schwäbisches Original: außen mit Spitze und innen ganz zart.

Denn Spitzkohlblätter hat die Natur nicht nur viel lockerer um den Strunk gewickelt als bei anderen Kohlsorten, sondern auch mit viel feineren Blattrippen gesegnet, was dem Kopf unter Kennern den Ruf als zartschmelzende, besonders milde und gut verdauliche Delikatesse eingebracht hat.

Bedroht durch Industrialisierung und Flächenfraß (Kontext berichtete), hat Slowfood das Gewächs bereits 2005 auf die Arche des Geschmacks gerettet, als regionale "Spezialität mit jahrhundertealter Tradition". Und schwindender Bedeutung, weil der Spitzkohl so ganz und gar nicht kapitalismuskompatibel ist. Der Spitz wiedersetzt sich – ganz anders als sein neoliberaler Rundkohl-Kollege – jeglicher maschineller Massenverarbeitung. Das Kraut wird von Hand zu Zehntausenden gepflanzt, von Hand geerntet und von Hand verarbeitet. Letzteres alleine schon wegen des übergroßen Strunks, der sich vom Boden bis zur Spitze durch das Gemüse zieht. Außerdem kommt beim Spitzkohl aus der Reibemaschine unten weniger Kraut raus als oben an Kohlkopf reinging, weil der so supersaftig ist. Gehuldigt wird der speziellen Kohlsorte jährlich mit "Deutschlands größter Krauthocketse", dem Filderkrautfest in Leinfelden-Echterdingen, weltbekannt dank Flughafenanbindung und in Anlehnung an Los Angeles liebevoll LE genannt.

Selbst die Mülleimer haben Spitzkohlform

Den Weg zum Fest säumen kohltragende Menschen. Ein Mann hat gleich zwei Köpfe ergattert, die ihren Spitz rechts und links seiner Schultern gen Himmel recken. Gerade regnet's noch, aber passt schon, Fest läuft trotzdem. Denn geadelt mit dem Begriff traditionell und im an Erntedank erinnernden Kürbis- und Getreideschmuck, gehört das Filderkrautfest zum sogenannten Brauchtum, mit dem aller Orten und mit tatkräftiger Unterstützung der Handels- und Gewerbevereine die ebensogenannte Heimat gefeiert wird. Im Grunde ist es, wie alle Feste dieser Art, eine Werbeveranstaltung nebst mehrtägigem Superbesäufnis (abends), in diesem speziellen Fall nach ausuferndem Kohlgenuss (mittags).

Spitzkohl gibt's am vergangenen Wochenende in den Schwestergemeinden Leinfelden und Echterdingen en masse. Menschen stemmen Kohlköpfe im Wettbewerb (der Bartclub Belle Moustache oder dirndltragende Damen mit gepushten Busen). Kinder befördern einen Kohl wie in einer Sänfte, bunte Bänder haltend, die sich in der Mitte über dem Gemüse zur Krone formen. Die Skifahrer am Ort bieten Spitzkohl als Wurfziel für bunte Ringe an, die Rockfreunde haben ihrem Kohl ein Teufelsgesicht verpasst, beim Tennisverein hängt das Gemüse im Netz und der Chinese hat seinen beiden Löwen am Eingang zwei Kohlköpfe wie spitze Hüte aufs Haupt platziert. Für Superheldenfans gibt's T-Shirts mit "Spiderkraut"-Druck oder einem maskierten "Batkraut mit Zwiebel", die Leinfeldener Fußballer haben ihren Kopf nebst Gesicht auch mit einem Fan-Schal verziert. Ja, selbst die Mülleimer haben in diesen Tagen Spitzkohlform.

Natürlich gibt es den Kohl auch in der Ausführung "leibliches Wohl", als Wickel und als Sauerkraut mit Leber- oder Griebenwurst, bei Bäcker Donner hat's der Kohl sogar in Kuchen und Striezel geschafft. Fertiges Sauerkraut für Zuhause gibt's im Kilo-Eimer für drei Euro, und wer sein Gemüse lieber persönlich kennenlernt, bevor er es verspeist, darf sich beim örtlichen Bauern aus einem Kohlkopfhaufen denjenigen aussuchen, der Sekunden später als Schnipsel aus der Reibemaschine in einen Sack plumpst, so frisch, der atmet beinahe noch.   

Das Filderkraut, es hat etwas Heiliges

Wann genau das Kraut spitz wurde, weiß keiner. Sein Ursprung liegt im Mystischen, mit großer Wahrscheinlichkeit in den düsteren Wirren des Mittelalters. Wobei nicht sicher ist, ob das Gemüse plötzlich aus einer Laune heraus spitz mutierte oder ob der Mensch züchtenderweise Hand angelegt hat. Womöglich, so die Legende, waren es die Mönche des nahegelegenen Klosters Denkendorf oder Krautliebhaber der Propstei in Nellingen. Sicher allerdings ist, dass das Kraut schon im 16. Jahrhundert auf den Fildern angebaut wurde.

Spitzkohl-Wissen

Im 19. Jahrhundert wurden die Filder zum Gemüsegarten der damaligen Residenzstadt Stuttgart. Die Kohlköpfe wurden von den Filderbauern grundsätzlich in Selbstvermarktung vertrieben, das heißt, jeder Bauer hatte sein Absatzgebiet in Württemberg, das die Kollegen respektierten. Die Eisenbahn und später der Lkw brachten größere Verbreitungsgebiete für das Kraut mit sich, teils wurde ins Ausland exportiert. Als es der Firma Hengstenberg gelang, Sauerkraut in eine Dose zu verfrachten, ohne dass selbige explodierte, feierte die Sauerkrautkonserve ihren Siegeszug auch auf den Fildern. 1970 gab es um die 15 Sauerkrautfabriken, heute sind es noch drei. Von über 3000 landwirtschaftlichen Betrieben (1950) sind noch 200 übrig. Heute macht der Anteil des Spitzkrauts an den angebauten Kohlsorten gerade noch zehn Prozent aus. (ah)

Sein vorzüglicher Geschmack fand seine erste Erwähnung im Jahr 1772, in den handschriftlichen Aufzeichnungen von Pfarrer Johannes Bischoff aus Bernhausen: "Was das Filderkraut besonders geschätzt macht, ist seine feine Zartheit in den Blättern, seine weiße Farbe und überhaupt ein besserer Wohlgeschmack, worin es sich von dem in anderen Gegenden Gepflanzten auszeichnet." So sieht's aus.

Aber das Gewächs aus der Familie der Kreuzblütler mundet nicht nur exzellent. Reich, nein, beinahe Krösus ist es in Sachen Vitamine und Nährstoffe (natürlich sehr viel C, dazu B6, K, Folsäure und Kalzium), zudem sorgt es mit einer Menge an Ballaststoffen für eine glänzende Darm-Performance (Peristaltik).

Schon Cato der Ältere hat den Kohl an sich vor 2000 Jahren als Allheilmittel beschrieben. Albertus Magnus, Kirchengelehrter und Heilkundiger, setzte Kohl gegen Geschwüre und Gicht ein, aus Weißkohlsaft soll sich prima Hustensaft machen lassen und auch ein krankes Knie soll per Krautwickel ruckizucki wieder ein gesundes werden. Und möchte man Aristoteles Glauben schenken, empfiehlt sich Kohl vor allem "am Tag danach" zur Bekämpfung eines Katers.

Auszuprobieren wäre, ob sich die zarten Spitzkohlblätter auch zum schonenden aber wirksamen Stopfen der Ohren eignen. Denn wehe dem, der am Tag nach dem Kohlgelage in LE das Zimmer neben der Schüssel hat. Peristaltik ahoi.


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