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Treppauf und treppab

Treppauf und treppab
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Christina Schmid und Sabine Fessler haben ein Buch über die Stuttgarter Treppenlandschaft herausgegeben, die sie ein Jahr lang erkundeten. Dazu boten sie auch eine Lesung an: natürlich auf den Stäffele. Kontext veröffentlicht Auszüge.

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200, nach anderer Zählung 400 Stäffele verbinden die höheren und tieferen Lagen des Stuttgarter Talkessels. In zehn, höchstens fünfzehn Minuten kann man überall vom Waldrand bis auf den Boden des Talkessels gelangen. Eigentlich ideal für Fußgänger: die viel beschworene Stadt der kurzen Wege, denn schneller geht sogar mit dem Auto kaum. Wenn es nur nicht in umgekehrter Richtung, bergauf, eine gewisse sportliche Herausforderung wäre – die andererseits die beste Voraussetzung für Gesundheit und ein langes Leben sein kann.

In der Autostadt lange Zeit eher vernachlässigt, sind jüngere Bewohner der Stadt derzeit dabei, sie wiederzuentdecken. Die Stäffele sind Kult! Stäffelestouren preisen sie als "Stuttgarts heimliches Wahrzeichen". "Was wäre, wenn die Stuttgarter Stäffele nicht nur im Verborgenen existieren, sondern Orte für Sport, Bewegung, Begegnung und kulturelle Events wären?", fragt die Stäffele-Galerie des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur.

Die Kommunikationsdesignerin Christina Schmid und die Künstlerin Sabine Fessler haben die Stäffele auf ihre Weise entdeckt. Sie haben im Lauf eines Jahres an die 100 von ihnen erwandert und ihre Beobachtungen in Texten und Zeichnungen festgehalten. Dazu haben sie ein Buch veröffentlicht, aus dem Schmid auf einem Treppenspaziergang vorgelesen hat. Ungefähr 50 Interessierte sind zum Hölderlinplatz gekommen und haben die Tour, die Schmid und Fessler letzten Herbst schon einmal gewandert sind, mitgemacht: bis hinauf zum Kräherwald und wieder hinab zur Treppe am Gedok-Künstlerinnenhaus. Mit vielen Zwischenstopps – hier Leseproben aus dem Notizbüchlein.


Salzmannweg

Heute zum ersten Mal im Wintermantel. In meiner Tasche ein Eukalyptus­-Bonbon vom letzten Winter, eingewickelt in grünes Papier – in deiner Tasche zufällig auch. Am Fuß der Treppe das nächste Graffiti, unleserliche Buchstaben, doch unten steht ganz klein: ICH SING. NUR FÜR DICH.

Ein Garten drückt von innen gegen den Zaun, das Holz biegt sich und bricht demnächst. Eine Herbstaster, wie du weißt. Überdacht und von schmutzigem Plexiglas geschützt sieben Vögel aus Holz: Mönchsgrasmücke, Grünfink, Amsel, Buchfink, Haussperling und zwei unbeschriftete. Du rufst von oben: "Wow, die Treppe ist irre!" Die Stufen sind ganz flach, wie ein Teppich, der den Berg hinunterfließt. Darauf liegen Bucheckern, die man sogar essen kann – hätte ich das mal früher gewusst!

Am gegenüberliegenden Hang die Abendsonne, die Dämmerung setzt langsam ein. Ich liebe diese Tageszeit. Eine Joggerin in kurzer über langer Hose hoppelt treppab. Von unten kommen noch zwei Jogger. Treppensportler – diesen Sport gibt's nur hier.

Falkertstaffel

Die Treppe hinter dem Arbeitsamt, gesäumt von einer efeubewachsenen Steinmauer zur linken und einer Graffiti -Landschaft zur rechten Seite: Grüne und rote Fische winden sich über den Rauputz und um den Handlauf. Beim zweiten Treppenabsatz taucht einer der Fische auf und streckt seine Nase (heißt das so beim Fisch?) in die Luft. Auf der Wasseroberfläche treibt ein lila Blatt – vielleicht auch eine Feder des lila Schwans, der zwischen den Fliegenpilzen hervorschaut. Der Planet darüber schillert rötlich. Eine grüne Eidechse im Gestrüpp der Lianen, die zu Wurzeln eines echten Baums werden. Die Löcher im Beton der Stufen sehen aus wie die Luftblasen der Fische.

Lessingstraße

Hallo Herbst, verregnest mir meinen Urlaubsbeginn und den Warteplatz auf der Treppe neben der GEDOK­-Galerie. Hier saß ich schon oft – erstaunlich oft, wenn ich so zurückblicke. Wie selbstverständlich wird diese Staffel zum Treffpunkt vor dem Eingang zur Galerie. Sie kennt mich euphorisch, gelangweilt, tröstend, darauf wartend, eingelassen zu werden oder gehen zu können, satt oder hungrig, voller Pläne und Ideen oder leer, wenn alles abgebaut und vorbei war. So ein Aufwand, nächstes Mal kleiner, noch kleiner. Ausstellungen, die in Hosentaschen passen und in zehn Minuten auf­- und wieder abgebaut sind. Ausstellungen im Gehen, im Erzählen, imaginäre Ausstellungen. Von zu Hause aus, am besten im Bett.

Ich sitze unter ein paar Zweigen, unterste Stufe, zweiter Absatz. Bei jeder roten Jacke schaue ich auf und denke, du könntest es sein. Warum rot? Die Kirchturmuhr schlägt vier. Den ganzen Tag wollten wir wandern, dann kam es anders, vor allem grau und kalt. Und das nach einem Sonnensonntag im Weinberg mit geschenkten Trauben und gefundenem Goldrandgeschirr.

Es tröpfelt noch ein wenig. Du schreibst, du hast dich untergestellt. Da kommst du treppauf – mit roter Jacke!


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 10 Stunden
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